Was heißt und zu welchem Ende studiert man Parteigeschichte? In einer Parteiendemokratie fällt die Antwort darauf nicht schwer: Zum einen dient dies der Identitätsstiftung und damit der Legitimation des politischen Systems, und zum anderen, gedacht aus der Perspektive der jeweiligen politischen Gruppierung, soll natürlich, ganz im ursprünglichen Sinn griechischer Geschichtsschreibung, aus der Analyse der eigenen Geschichte gelernt werden. Die Fehler der Vergangenheit sollen sich nicht wiederholen, aber erfolgreich erprobte Handlungsmuster können auch Entscheidungshilfen für die Zukunft geben. Die CDU befindet sich nach der krachenden Niederlage bei den Bundestagswahlen 2021 sicherlich in einer Situation, in der Anregungen aus der Parteigeschichte hilfreich sein können. Da trifft es sich gut, dass zwei neue Sammelwerke zur Geschichte der Partei den Forschungsstand zusammenfassen und zur Debatte anregen.
Die Erforschung der Geschichte der CDU hat vergleichsweise spät eingesetzt; im Wesentlichen erst in den 1970er-Jahren. Solange man die „Kanzlerpartei“ war, in den Amtszeiten Konrad Adenauers und seiner beiden Nachfolger Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger, war das Interesse in der CDU an der Erforschung der eigenen Geschichte gering. Anders als die Sozialdemokraten, die 1933 ihr Parteiarchiv vor dem Zugriff der Nationalsozialisten hatten retten müssen, verfügte eine Vorläuferin der Union, die katholische Zentrumspartei, über gar kein umfangreiches Archiv. Die CDU ging 1945 aus einer dynamischen Parteineugründung hervor und konnte auf ihre Vorgeschichte nur mit Schwierigkeiten verweisen, weil man sich aus Rücksicht auf evangelische Empfindlichkeiten nicht in der Nachfolge des Weimarer Zentrums sehen durfte. Erst als die Union von der SPD von der Macht verdrängt wurde und unter Helmut Kohl der systematische Um- und Aufbau der Parteistrukturen begann, geriet die eigene Geschichte mit ihren Vorläufern in den Blick. Bezeichnenderweise war einer der Initiatoren der ehemalige Fraktionsvorsitzende der Union im Deutschen Bundestag, Heinrich Krone, der als stellvertretender Generalsekretär des Zentrums in seiner Person dessen Traditionen mit der Ära Adenauer verknüpfte. Krone, der auch Mitglied der Kommission für Zeitgeschichte war, einer Forschungsstelle der katholischen Kirche, nutzte seine darüber bestehenden Kontakte zum 2017 verstorbenen Bonner Historiker Konrad Repgen, um die Aufarbeitung der Geschichte der CDU anzustoßen. Allerdings machte sich dann der Parteivorsitzende Kohl, selbst ein promovierter Historiker mit klarem Sinn für die langfristige Bedeutung von Geschichtsbildern, energisch die Sache zu eigen.
Entscheidende Schritte
Den Auftakt bildeten die gemeinsam von der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Kommission für Zeitgeschichte 1971 bis 1974 herausgegebenen fünf Bände der Adenauer Studien, die den Startschuss für die wissenschaftliche Erforschung der Rolle des ersten Kanzlers gaben. Die Zusammenarbeit machte aber auch deutlich, dass die Konrad-Adenauer-Stiftung anfangs noch wissenschaftliche Hilfestellung nötig hatte. Ein entscheidender Schritt wurde 1976 die Gründung ihres Archivs für Christlich-Demokratische Politik, das ab diesem Zeitpunkt die Archivalien der CDU und ihrer führenden Politikerinnen und Politiker sammelte. Der erste Archivleiter, Klaus Gotto, war von Konrad Repgen promoviert worden und hatte zuvor als Geschäftsführer die Kommission für Zeitgeschichte geleitet. Anschließend erfolgte ein zügiger Ausbau; mit der Publikationsreihe Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte und den Historisch-Politischen Mitteilungen als Zeitschrift wurden Publikationsorgane geschaffen, die mit den Veröffentlichungen der Friedrich-Ebert-Stiftung mithalten konnten.
Pluralistischer Ansatz
Zum 75-jährigen Jubiläum der CDU 2020 hat die Konrad-Adenauer-Stiftung einen Sammelband zur Einordnung der Rolle der Partei in der deutschen Geschichte publiziert. Herausgegeben von ihrem Vorsitzenden Norbert Lammert, versammelt der Band gut zwei Dutzend Beiträge namhafter deutscher Historiker und Publizisten. Der Grundgedanke war dabei, dass von bewusst unterschiedlichen Standpunkten aus die einzelnen Aspekte der Geschichte der in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik wichtigsten Partei diskutiert und bewertet werden sollten. Lammerts persönliche Handschrift ist, dass dabei nicht nur unionsnahe Stimmen Berücksichtigung fanden, sondern etwa auch Forscher, die andere Parteibücher haben. Ralf Fücks, der langjährige Chef der grünen Parteistiftung, untersucht gemeinsame Potenziale von Union und Grünen, der Sozialhistoriker und ehemalige SPD-Staatssekretär Wolfgang Schroeder in einem sehr gelungenen Beitrag die Sozialpolitik der Union. Auch Klaus-Dietmar Henke, dem es kürzlich gelungen ist, die im Grundsatz lange bekannten Spitzeldienste des Bundesnachrichtendienstes für Adenauer der deutschen Öffentlichkeit als Neuentdeckung zu präsentieren, hat in einem Beitrag die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen durch die CDU thematisiert. Letzterer Beitrag wurde dann übrigens im Neuen Deutschland gelobt – so etwas passiert mit Publikationen der Konrad-Adenauer-Stiftung seltener. Insgesamt aber hat diese politische Breite dem Band gutgetan: Neben vielen neuen Einzelergebnissen in den verschiedenen Beiträgen besticht in der Gesamtschau vor allem das tiefenscharfe Bild, das sich entwickelt. Der mittlerweile fast vergriffene Band ist im Siedler-Verlag erschienen; bei der Verlagswahl war für den Herausgeber entscheidend, dass das Buch möglichst breit rezipiert werden sollte. Von der Kritik wurde es sehr freundlich aufgenommen.
Bereits in der Konzeptionsphase dieses „Debattenbandes“ wurde ein zweiter Band mitgedacht, der im Sommer 2022 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erscheinen wird. Ziel ist es dabei, in einem Handbuch eine solide Wissensbasis zur Parteigeschichte der CDU zu sammeln, die für weitere Forschungen die entsprechende Faktenbasis bereitstellt. Deshalb werden Beiträge zur Geschichte der Partei ergänzt durch Artikel über die einzelnen Landesverbände und Organisationen der CDU sowie Fachartikel zur Politik der Union in einzelnen Politikfeldern wie Programmatik oder Umweltpolitik. In ihrer Gesamtheit bieten die beiden Bände einen aktuellen Überblick über die Geschichte der CDU und erlauben eine differenzierte Einordnung aller Phasen der Parteigeschichte.
Sehr deutlich wird beim Blick in die Bände, dass es zu vielen Aspekten der gegenwärtigen Situation der Union historisch Vergleichbares gibt. Nach dem Abgang Konrad Adenauers und Helmut Kohls kam es jeweils zu Phasen letztlich erfolgloser Interimsvorsitzender. Weder Ludwig Erhard noch Kurt Georg Kiesinger und Rainer Barzel konnten dauerhafte Wahlerfolge sichern, und auch nach dem Abgang Helmut Kohls hatte Wolfgang Schäuble nicht mehr Glück als zuletzt Annegret Kramp-Karrenbauer oder Armin Laschet. In jedem einzelnen Fall handelte es sich um vorher erfolgreiche Politikerinnen und Politiker, die bewiesen hatten, dass sie Wahlen gewinnen, Bundesländer regieren oder Ministerien erfolgreich führen konnten. Dem Leser (und natürlich auch der Leserin) beider Bände stellt sich deshalb die Frage, ob es strukturell überhaupt möglich ist, als direkter Nachfolger eines jahrzehntelang agierenden Kanzlers und Parteivorsitzenden beziehungsweise einer Kanzlerin nicht zu scheitern. Zumindest ist diese direkte Nachfolge eindeutig eine immense Bürde.
Reformen und Rückkehr an die Macht
Ebenfalls wird deutlich, und insofern sollte die Partei hier vielleicht aus der Geschichte lernen, welch entscheidende Rolle eine bewusst angegangene Parteireform für die Rückeroberung der Macht spielt. Dies gilt insbesondere für die Ära Kohl. Der spätere „Kanzler der Einheit“ baute die CDU seit seinem Amtsantritt als Parteivorsitzender 1973 in einem bislang nur selten realisierten Maße um. Dies geschah sowohl organisatorisch, als er mithilfe seiner Generalsekretäre Kurt Biedenkopf und später Heiner Geißler die letzten Reste der alten Honoratiorenpartei aus der Adenauerzeit abstreifte und die CDU zur modernsten Volkspartei ihrer Zeit machte. Von den Reformen im historischen Bereich war schon die Rede. Zwar wird in den Bänden auch deutlich, dass es bereits vorher Ansätze zu organisatorischen Reformen gab, aber erst Kohls Beharrlichkeit und Durchsetzungsstärke gaben den Ausschlag. Ergänzt wurde das Ganze durch eine intensive Programmarbeit, bei der sowohl das neue Grundsatzprogramm als auch einzelne Wahl- oder Spartenprogramme intensiv in der Parteispitze vorbereitet, auf Fachkonferenzen durchaus kontrovers diskutiert und in Publikationen der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Die in der linksliberalen Presse verbreitete Geringschätzung über den angeblich leicht täppischen Pfälzer hatte nicht viel mit der Realität zu tun: Unter Kohl durchlief die CDU in der Zeit ihrer Opposition die wohl tiefgreifendste Wandlung ihrer Parteigeschichte, immer mit dem Parteichef als Motor.
Die Jahre unter Angela Merkel, auch das wird in den Bänden deutlich, waren weniger intensiv der Partei- und mehr der Regierungsarbeit gewidmet. Der Potsdamer Ordinarius Thomas Brechenmacher hat das Regierungshandeln hinterfragt; dass Angela Merkel sich im Fernsehen kritisch zu einer Passage seines Beitrags geäußert hat, unterstreicht die wissenschaftliche Unabhängigkeit von Autor und Herausgeber. Sein Mainzer Kollege Andreas Rödder setzt den Hebel anders an, kommt aber nicht zu wesentlich anderen Ergebnissen. Da Rödder auch Vorsitzender der Grundwertekommission der CDU ist, ist zu vermuten, dass die Lehren der Parteigeschichte bei der anstehenden Programmdiskussion Berücksichtigung finden.
Noch ein Letztes: Allenfalls punktuell hat es in der Geschichte der Union nach verlorenen Wahlen eine gründliche Fehleranalyse gegeben, da eine solche natürlich politisch unpopulär ist. Nach einer epochalen Wahlniederlage wie 2021 ist eine ungeschminkte Bestandsaufnahme der eigenen politischen Fehler selbstverständlich ein sehr schmerzhafter Prozess und kann nach der Logik des politischen Tagesgeschäfts wohl auch nur hinter verschlossenen Türen stattfinden, da man sonst den politischen Gegner munitioniert. Dennoch ist dies keine Disziplin, in der sich die Union bisher hervorgetan hat. Hier sollte man unbedingt etwas Neues wagen und, gestützt auf das Material aus der Parteigeschichte, eine tabulose Bestandsaufnahme der Fehler der letzten Regierungsjahre vornehmen. Je klarer der Blick in den Spiegel ausfällt, umso größer ist die Chance, mit einer engagierten organisatorischen und programmatischen Reform voranzukommen. Um Konrad Adenauer zu zitieren: „Es ist nie zu spät für einen neuen Anfang.“
Wolfgang Tischner, geboren 1967 in Berlin, Abteilungsleiter Publikationen / Bibliothek, Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.