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Über Integration als Generationenvertrag auf Gegenseitigkeit

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Die Flüchtlingskrise hat viel bewegt, im ganz wörtlichen Sinne und auch in unseren Köpfen. Am deutlichsten wird dies durch die Sprache. Recht früh wurde der Begriff „Völkerwanderung“ verwendet und umgehend kritisiert. Heute, nicht einmal ein Jahr später, begreifen wir, dass diese Bezeichnung kaum übertrieben war. Vor noch nicht allzu langer Zeit traute sich kaum jemand, von „Abschiebung“ abgelehnter Asylbewerber zu sprechen. Heute findet sich das Wort im politischen Sprachgebrauch fast aller Parteien. Schließlich ist es inzwischen Allgemeingut, von einer historischen Dimension und von einer Jahrhundertaufgabe zu sprechen, der wir uns unverhofft gegenübersehen.

Die Flüchtlingskrise stellt uns auf eine Probe, sie bedeutet einen Stresstest für unsere Institutionen und für viele handelnde Einzelpersonen. Wie gelingt es der Völkergemeinschaft, barbarischen Bürgerkriegen und fanatischem, ja faschistischem Terrorismus – den eigentlichen Fluchtursachen – wirkungsvoll zu begegnen? Wie belastbar ist die Europäische Union als Wirtschafts-, Werte- und Schicksalsgemeinschaft? Wie gut funktioniert unser föderales System in der Bundesrepublik? Und schließlich und vielleicht am wichtigsten, weil am grundsätzlichsten, die Frage: Was ist uns wichtig? Welche Grundwerte gilt es hochzuhalten und zu verteidigen, wenn Hunderttausende Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen kommen und erfolgreich integriert werden sollen? Diese Selbstvergewisserung tut uns gut. Auch wenn es unbequem und anstrengend ist, erleben wir gerade eine Repolitisierung des öffentlichen Diskurses, der Gespräche im Freundes- und Familienkreis, der Debatte in den Medien. So viel Nachdenklichkeit, Ernsthaftigkeit und Bewegung im privaten und politischen Raum war selten in den vergangenen Jahren.

Gleichzeitig scheinen die Rechtspopulisten zu profitieren, die selbst ernannten Retter des christlichen Abendlandes. Aber auch für sie und ihre hohlen Parolen ist die Flüchtlingskrise ein Realitätscheck. Kirchen werden ja schließlich nicht wegen Überfüllung geschlossen, sondern weil sie nicht mehr von so vielen Menschen besucht werden. Dort könnte man im Übrigen erfahren, dass die Bibel eine einzige Geschichte von Flucht und Vertreibung ist und uns Mitmenschlichkeit, Solidarität und Demut lehrt im Angesicht der Not und der Bedrohung durch das Böse.

 

Multikulti-Widersprüche

Auch auf der linken Seite des politischen Spektrums trifft Ideologie auf die Wirklichkeit der Flüchtlingskrise. Dort, wo Multikulti zu Hause ist, treten Widersprüche plötzlich offen zutage. Wie können mittelalterliche Frauenbilder, Homophobie und Antisemitismus gerade dort als kulturelle Vielfalt durchgehen, wo ansonsten für das Gendersternchen gekämpft wird?

Quer durch das politische Spektrum spüren wir jedenfalls, dass antrainierte Reflexe nicht mehr funktionieren, Rechts Links Schablonen nicht mehr passen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Diskussion um die Vollverschleierung von Frauen in Deutschland. Ich setze mich für ein Verbot ein und begründe dies mit meinem Einsatz für Gleichberechtigung und Frauenrechte – eigentlich also traditionell linke Themen, für die ich mich vom politischen Gegner aber wiederholt in die „rechte Ecke“ gestellt sehe. Tatsächlich betrachte ich diese Forderung aber weder als das eine noch als das andere, sondern als selbstverständliche Konsequenz unseres aufgeklärten, humanistischen Menschenbildes, das sich gar nicht in politische Lager einteilen lässt und auch nicht einteilen lassen sollte.

Wir müssen uns selbst dieses Kanons unserer Grundwerte versichern und ihn von jeglicher Ideologie frei halten. Nur so können wir darangehen, ihn den neuen Mitbürgern glaubwürdig zu vermitteln. Ihnen dürfen wir schließlich nur das glaubhaft abverlangen, was wir selbst leben. Dabei wird Entschlossenheit zählen, aber – nach dem bewährten Motto „Fordern und Fördern“ – auch Geduld und Beharrlichkeit. Wir dürfen die Integration so vieler Menschen nicht dem Zufall überlassen, sondern müssen sie begleiten und mangelnde Bereitschaft notfalls auch ahnden. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass viele Flüchtlinge aus Unrechtsstaaten und völlig anderen Kulturkreisen zu uns kommen. Daher kann bei den meisten von ihnen ein rein kognitives Verständnis unserer Werteordnung nicht funktionieren wie das Umlegen eines Schalters – auch dann nicht, wenn der grundsätzliche Wille und die Bereitschaft dazu vorhanden sind. Da hilft es nicht, Flüchtlingen bei der Einreise ein Grundgesetz in die Hand zu drücken, das in ihre Muttersprache übersetzt wurde. Es geht um einen viel breiter angelegten Orientierungs- und Lernprozess.

 

Rechte und Pflichten bei der Integration

Wo Rechte sind, da sind auch Pflichten – dieses zivilisatorische Naturgesetz bildet die Grundlage unserer Rechtsordnung. Auch hier wird es auf eine geduldige und klar verständliche Vermittlung ankommen. Dazu zählt zunächst die simple Tatsache, dass Regeln eingehalten und Verstöße bestraft werden, dass das Gewaltmonopol beim Staat liegt und unsere Gerichtsbarkeit weltlich und religiös unabhängig ist. So selbstverständlich das alles für uns scheint, so neu und erklärungsbedürftig ist es für viele Zuwanderer. Wir dürfen ihnen das nicht vorhalten, aber genauso wenig dürfen wir ihnen den Umgang mit unserer Grundordnung freistellen. Viele Flüchtlinge streben nach Deutschland, weil sie unser Land bewundern und anderen vorziehen. Unser Erfolg, der diesen Reiz und diese Anziehungskraft ausübt, kommt aber nicht von ungefähr. Er fußt auf dem Prinzip des Rechtsstaates und auf der deutschen Kulturgeschichte und muss immer wieder, von Generation zu Generation, neu erarbeitet werden. Als Ergebnis dieses Prozesses leben wir heute in einer hochmodernen, liberalen und aufgeklärten Gesellschaft. Teil dieser Erfolgsgeschichte zu werden, setzt bei jedem einzelnen Zuwanderer die Bereitschaft voraus, mit uns in genau dieser Gesellschaft zu leben und nicht daneben und schon gar nicht dagegen.

Uns allen muss an diesem Integrationserfolg genauso gelegen sein wie jedem zu Integrierenden. Deshalb kann dieser Prozess, dessen Bedeutung für die Zukunft kaum überschätzt werden kann, auch nicht nur auf Freiwilligkeit basieren. Integration ist Pflicht für alle Beteiligten, für den deutschen Staat und für unsere künftigen Mitbürger. Dabei sollten die Rollen klar verteilt sein; es muss deutlich werden, wer was leisten muss, wie das Ergebnis gemessen wird und was bei Versäumnissen geschieht.

Staatlicherseits wird es vor allem darum gehen, qualitativ und quantitativ ausreichende Sprach- und Integrationskurse sowie die notwendigen Nothilfe- und Transferleistungen bereitzustellen. Von den Flüchtlingen, die auf absehbare Zeit bei uns bleiben werden, verlangen wir im Gegenzug, diese Angebote auch anzunehmen, Schulen zu besuchen, Berufsausbildungen zu absolvieren, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. So wird die Integration genauso funktionieren wie ein Handschlag – beide Seiten müssen mitmachen.

 

Impuls zur Modernisierung

Das deutsche Staatswesen zeichnet sich durch ein föderales und subsidiäres System aus, das uns von vielen anderen Ländern unterscheidet und das durch die Flüchtlingskrise besonders herausgefordert wird. Wir erleben mit, wie gerade an bestimmten Institutionen, Verfahren und Abläufen der Rost abgeschlagen wird. Angefangen von Zuständigkeiten bis hin zur mangelnden Kompatibilität von IT Systemen unterschiedlicher Behörden zeigen sich schon lange vorhandene Mängel plötzlich sehr klar, die jetzt unter Hochdruck behoben werden müssen. Und im direkten Wettbewerb, zum Beispiel der Bundesländer oder auch einzelner Kommunen untereinander, sehen wir jetzt deutlich, wer wie gut oder schlecht mit der gemeinsamen Herausforderung umgeht. Auch wenn dieses speziell deutsche – für Ausländer manchmal absonderlich wirkende – Konstrukt meist schwerfälliger agiert als zentralistisch regierte Staaten, erweist es sich doch als robuster und letztendlich lernfähiger.

Dass sich diese Feststellung auch für die – ebenfalls sehr spezielle – Europäische Union (EU) treffen lässt, bleibt zu hoffen. Wenn Politikern oft der Mut abgesprochen wird, lässt sich nur entgegnen: Die europäische Einigung war bei jedem einzelnen Schritt mutig. Beherzt wurden politische Projekte, wie zum Beispiel die gemeinsame Währung oder auch der Schengen-Raum, umgesetzt. In Schönwetterzeiten haben wir alle von den Vorteilen profitiert. Nun geht es darum, diese Errungenschaften sturmfest zu machen. Eine Lektion der jüngsten Jahre hieß: Keine Währungsunion funktioniert ohne gemeinsame Finanzpolitik. Jetzt lernen wir analog: Die Schengenzone braucht eine gemeinsame, wirkungsvolle Grenzsicherung. Auch hier dient die Flüchtlingskrise als schwieriger, aber vielleicht auch notwendiger Stresstest. Wenn wir ihn bestehen, wird die EU gestärkt daraus hervorgehen.

Auch hier gilt allerdings, wie bei der Integration der Flüchtlinge, dass es keine Rechte ohne Pflichten gibt. Gerade die mittel- und südosteuropäischen EU-Mitglieder profitieren vom Schengensystem und von den Strukturfonds. Dem Plan der Europäischen Kommission, eine faire Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der Union zu erreichen, ist deshalb auch nichts entgegenzusetzen. Trotz irritierender Signale, vor allem aus Budapest und Warschau, ist letztendlich nur eine rationale Abwägung von Vor- und Nachteilen denkbar, die gegebenenfalls bei Vertragsverletzungen erst erstritten werden muss. Vom Ausgang dieser Auseinandersetzung – und nicht zuletzt von dem Faktor Zeit – wird es maßgeblich abhängen, ob Europa als Teil des Problems oder der Lösung der Flüchtlingskrise erscheint.

 

Die geopolitische Dimension

Am unsichersten und von deutscher Seite am schwierigsten zu beeinflussen ist schließlich die geopolitische Dimension der Flüchtlingskrise. Die Komplexität des Syrienkrieges, verbunden mit Interessen der verschiedenen Regionalmächte, erscheint militärisch und politisch fast unlösbar. Allerdings müssen wir uns dennoch selbstkritisch fragen, ob wir zum Beispiel im wesentlich weniger komplexen Fall Libyens eine Stabilisierung hätten erreichen und ein Abgleiten zum failed state verhindern können, da doch die NATO-am Regimewechsel dort aktiv beteiligt war.

Diese neue Weltordnung, die eher als eine Weltunordnung anmutet, wird die Vertretung deutscher und europäischer Interessen nicht einfacher machen. In bestimmten Situationen werden wir notgedrungen darauf angewiesen sein, selbst mit autokratischen Regimen zu kooperieren und schwierige Kompromisse zu schließen, praktische Politik mit unserer unverhandelbaren Menschenrechtsagenda in Einklang zu bringen. Das gilt zum Beispiel für Gespräche mit Saudi Arabien, Ägypten oder Algerien. Auch der aktuelle EU-Türkei-Pakt erfordert schwierige Kompromisse.

Wer darüber die Nase rümpft, der sei an die Ostpolitik der 1970er-Jahre erinnert, an die heutigen deutsch chinesischen Beziehungen und an die aktuellen Nuklearverhandlungen mit dem Iran. Beharrlicher Dialog, die Definition gemeinsamer Interessen und die klare Benennung von Konfliktlinien können Vertrauen und schließlich Fortschritt bringen. Ohne eine solche Annäherung aber ist dieser von vornherein ausgeschlossen.

Im größtmöglichen Maßstab – dem der gesamten Menschheit – hat sich dieses Prinzip jüngst auf dem Pariser Klimagipfel bewährt. Gelingt uns allerdings die Umsetzung der dort erzielten Einigung nicht, würden massiv steigende Meeresspiegel irgendwann Hunderte von Millionen Menschen vertreiben. Die aktuelle Flüchtlingskrise des Jahres 2015 wäre dann nur ein gelinder Vorgeschmack. Auch das wird uns gerade deutlich.

 

Julia Klöckner, geboren 1972 in Bad Kreuznach, Vorsitzende der CDU Rheinland-Pfalz, Vorsitzende der CDU-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz, stellvertretende Vorsitzende der CDU Deutschlands.

Redaktionsschluss für diesen Beitrag war der 20. Dezember 2015.

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