Etliche Bilder zum Nahostkonflikt haben nach dem 7. Oktober 2023 für große Aufmerksamkeit in den sozialen Medien gesorgt und Wellen der Empörung ausgelöst. Kaum ein anderes dürfte jedoch so oft geteilt, so oft analysiert und diskutiert worden sein wie „All Eyes on Rafah“, das Ende Mai 2024 viral ging. Dabei hält das Bild kein reales Ereignis fest, sondern ist, unschwer erkennbar, mittels Künstlicher Intelligenz (KI) generiert worden. Im Querformat angelegt, mag man es für einen Still aus einem Film halten: aus einem großen Epos à la Hollywood. Dass man aus Gottes- oder Drohnenperspektive auf eine Landschaft blickt, suggeriert die Darstellung einer Geschichte aus der Sicht eines allwissenden Erzählers. Der gesamte Erdboden ist mit langen Reihen von Bahren oder Särgen bedeckt, die mit Tüchern verhüllt sind – alle aber so klein und unscharf, dass daraus ein Wimmelbild wird, weit davon entfernt, an tote Menschen, gar an individuelle Opfer denken zu lassen. Zwischen den Reihen sind Zelte so angeordnet, dass sich daraus der Schriftzug „All Eyes on Rafah“ ergibt. Das Bild hat also ein Flüchtlingslager im Süden des Gazastreifens zum Gegenstand, wo gerade in den Wochen zuvor vermehrte Angriffe Israels stattfanden. Diese hatten auch zahlreiche zivile Todesopfer gefordert, waren doch sehr viele Palästinenser vorher dorthin geflüchtet.
Platzhalter für eine Meinung, die man nicht hat
Warum das KI-generierte Bild „All Eyes on Rafah“ viral gegangen ist
Das Bild sollte also auf das aus der Sicht vieler alarmierende, entmenschlichende Vorgehen der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (Israel Defense Forces, IDF) anklagen und der Überzeugung Ausdruck verleihen, dass nichts im Gazastreifen vor den Augen der Weltöffentlichkeit verborgen werden könne. Nachdem es mutmaßlich zuerst von dem eher kleinen Instagram-Account @shahv4012 aus Malaysia gepostet worden war, wurde es schon bald in unzähligen Instagram-Storys, aber auch auf anderen Plattformen geteilt. Selbst und gerade Leute, die es bisher vermieden hatten, zum Nahostkonflikt öffentlich Stellung zu beziehen, verbreiteten es in großer Anzahl. Aber warum? Hat dies damit zu tun, dass das Bild eine Botschaft transportiert, die weniger radikal ist als die vieler anderer Postings? Dass ein Kriegsgebiet besonders genau beobachtet werden sollte, lässt sich, egal auf welcher Seite man steht, eigentlich ja nur gutheißen, und selbst wenn es einseitig sein mag, vor allem dorthin zu schauen, wo die IDF Kampfeinsätze unternimmt, könnte das Ergebnis eines Hinblickens mit „all eyes“ immerhin auch die Feststellung sein, es sei nicht zu Kriegsverbrechen in großem Stil gekommen.
Eine Antwort auf die Frage, warum gerade ein Bild mit einer Aussage viral ging, die nicht dazu geeignet ist, diejenigen zu profilieren, die sie posten, fällt leichter, wenn man auf den zeitlichen Kontext achtet, in dem es publik wurde. So waren die Debatten in den sozialen Medien in den Wochen davor stark geprägt von #Blockout2024, einer Kampagne, die direkt nach der Met-Gala, einem alljährlichen, weltweit stark beachteten Gesellschafts- und Modeevent, begonnen hatte. Bei der Gala, die am 6. Mai 2024 stattfand, postete Haley Baylee, Model und reichweitenstarke Influencerin, auf TikTok ein Video von sich und ihrem üppig-floralen Outfit, unterlegt vom Ton aus dem Film Marie Antoinette mit dem berühmt-folgenreichen und der französischen Königin in den Mund gelegten Satz, die Armen sollten, wenn sie Hunger und kein Brot hätten, doch Kuchen essen.
Was 1789 dazu beitrug, die Französische Revolution auszulösen, führte dieses Mal zu wütenden Protesten der aktivistischen Pro-Palästina-Szene gegen die Ignoranz abgehoben-reicher Promis, die sich, während zeitgleich der Militäreinsatz in Rafah seinen Anfang nahm, nur für ihr Luxusevent interessierten. Und auch wenn Baylee sich schnell entschuldigte und das Video löschte, führte der Zorn darüber und generell Empörung angesichts der apolitischen Haltung etlicher anderer Stars und Influencer zu dem Aufruf, deren Accounts bei Instagram, TikTok und auf anderen Plattformen fortan nicht mehr zu folgen, sie sogar zu blockieren: Wer meine, sich aus einem so brisanten Thema wie dem Nahostkonflikt heraushalten zu können, ja wer keine Solidarität mit dem Leid der Palästinenser zeige, habe seine Follower nicht mehr verdient. Indem diese sich zurückzögen, könnten sie ihre Macht ausspielen, denn je mehr Gefolgschaft und Unterstützung ein Account verliere, desto weniger Geld bekämen die Influencer fortan für ihre Postings.
#Blockout2024 ist also einer von vielen Versuchen, den Nahostkonflikt aus Sicht der Palästinenser zu skandalisieren, und tatsächlich konnte die Kampagne rasch Erfolge verbuchen. So unterschiedliche Stars wie Beyoncé, Billie Eilish oder Kim Kardashian verloren innerhalb weniger Tage angeblich jeweils rund eine halbe Million Follower; in Deutschland traf es TikToker und YouTuber wie Twenty4tim oder DagiBee. Die Block-Zahlen relativieren sich allerdings, wenn man bedenkt, dass Superstars wie Beyoncé und Kim Kardashian jeweils weit über 300 Millionen Follower haben. Höchstens jeder fünfhundertste blockierte also ihre Accounts – viel zu wenig, um den Stars Probleme oder Einkommensverluste zu bereiten.
Drohung des Blockierens
Dennoch: Nie zuvor hat es eine vergleichbar breit angelegte Kampagne wie #Blockout2024 gegeben, und vielen dürfte so deutlich wie noch nie bewusst geworden sein, dass Follower auch unangenehm werden können, ja dass sie Erwartungen haben, zu denen man sich als prominenter Account-Inhaber verhalten muss. Und wenn dieses Mal ein Statement zum Nahostkonflikt und zur Rolle der IDF verlangt würde, dann könnte beim nächsten Mal ein Bekenntnis für oder gegen eine politische Partei, eine Wahlempfehlung oder eine Aussage zu einem tagespolitischen Streitthema mit der Drohung des Blockierens erpresst werden. Es war also nicht mehr viel Phantasie nötig, um sich vorzustellen, dass vergleichbare Block-Kampagnen fortan eine selbstverständliche aktivistische Praxis werden könnten.
Was also liegt in einer solchen Situation näher, als etwas zu posten, womit man den Forderungen nachkommt, ohne sich damit aber zu weit zu exponieren? Etwas, das eindeutig, aber zugleich unverfänglich und nicht zu extrem ist? Genau zu der Zeit, zu der diese Fragen nicht nur berühmte Influencer, sondern auch viele andere User der sozialen Medien beschäftigten, die ihrerseits unter erhöhtem Bekenntnisdruck standen, tauchte das „All Eyes on Rafah“-Bild auf. Und nicht wenigen dürfte es wie ein Ausweg aus ihrem Dilemma erschienen sein. Es ist, als sei es gezielt dafür gemacht, eine Alibi- oder Entlastungsfunktion zu übernehmen. Dass es mit einem KI-Programm entwickelt worden ist und atmosphärisch die Welt des Kinos assoziieren lässt, verleiht ihm den Charakter eines Anti-Schockbildes. Hier wird nicht mit dem Finger auf etwas gezeigt, sondern nur ein wenig Pathos erzeugt, und statt eine investigative oder auch nur dokumentarische Dringlichkeit zu postulieren, beschränkt sich das Bild darauf, ein politisches Konfliktthema ästhetisch zu überhöhen – und das so stark, dass es geradezu fiktionalisiert, damit jedoch umso mehr entschärft wird.
Bekenntnisdruck und Meinungsfreiheit
Wer das Bild postete, um jenem Bekenntnisdruck nachzugeben, war dennoch nicht sicher vor Kritik. Einerseits wurde seine Alibifunktion teilweise durchschaut, und wenn eine Person, die sonst nichts Politisches, ja keinen Content zum Nahostkonflikt in den sozialen Medien verbreitet, auf einmal (nur) dieses eine Bild teilte, konnte ihr das den Vorwurf des Opportunismus eintragen und erst recht schaden. Andererseits setzte man sich dem Verdacht aus, sich damit doch sehr antiisraelisch oder gar antisemitisch positioniert zu haben. So wurden auf dem Account, von dem das Bild ursprünglich stammte, auch deutlich explizitere Postings veröffentlicht; zudem fand es sich ebenso auf den Accounts von Leuten wieder, die sonst mit Content der politischen Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions – die Israel politisch, kulturell und wirtschaftlich isolieren will – oder mit anderen radikalen Statements auffallen. Dennoch dürfte es keine bessere Lösung als das Posten dieses Bild gegeben haben, wenn man ein Signal senden wollte, nicht völlig unpolitisch und ignorant zu sein, jedoch zugleich kein Interesse daran hatte, in den Strudel aktivistischer Protestdynamiken gezogen zu werden. Und das erklärt zumindest zum Teil, warum das Bild einen so gewaltigen Boom erlebte: gerade weil es im Gegensatz zu den meisten anderen viralen Bildern keine starken Gefühle wie Empörung oder Entsetzen auslöst. Vielleicht werden derartige Alibibilder dann, wenn der Bekenntnisdruck steigt oder wenn es sogar Kampagnen gegen diejenigen gibt, die sich einer Meinungsäußerung enthalten, fortan häufiger Konjunktur haben. Sie könnten gar als eigener Typus identifizierbar werden, was zwar ihre Wirkung schwächen mag, zugleich aber besser erkennen lässt, wann und wozu jeweils eine Meinungsäußerung erwartet wird. Man wird derartige Bilder dann eventuell sogar als wichtige Selbstschutzinstrumente würdigen – und eine Diskussion führen, die im Zusammenhang mit #Blockout2024 und „All Eyes on Rafah“ noch nicht geführt wurde. So ließe sich der Bekenntnisdruck auch als Einschränkung der Meinungsfreiheit und damit als Angriff auf ein Grundrecht kritisieren. Meinungsfreiheit heißt nämlich nicht nur, dass man frei darin ist, welche Meinung man zu einem Thema hat, sondern schließt genauso die Freiheit ein, keine Meinung zu etwas zu haben oder sie für sich zu behalten.
Man könnte sogar sagen: Schlimmer als die Erfahrung, wegen einer Meinungsäußerung kritisiert oder sanktioniert zu werden, sei die Erfahrung, diskriminiert zu werden, weil man keine Meinung zu etwas äußert. Denn im einen Fall hat man sich immerhin bewusst ein Stück weit exponiert, hat mit der Meinungsäußerung auch stillschweigend akzeptiert, Widerspruch zu bekommen, ja Reaktionen bei Dritten auszulösen. Im anderen Fall hingegen hat man von der Freiheit Gebrauch gemacht, an einer Diskussion nicht teilzunehmen – betritt also gar nicht erst den Raum, innerhalb dessen man auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen könnte. Nun gerade deshalb kritisiert – oder wie im Fall von #Blockout2024 sogar boykottiert – zu werden, heißt, einem Meinungszwang ausgesetzt zu sein. Und was sollte das sein, wenn nicht Nötigung?
Tolerierte Formen der Absentierung
Natürlich geht es hier nicht um justiziable Formen von Nötigung. Es geht um das weite Feld dessen, was „sozialer Druck“ bedeutet. Dennoch werden durch Kampagnen wie #Blockout2024 Grenzen verschoben. Suggeriert wird, verantwortliche Zeitgenossenschaft bestehe grundsätzlich darin, Meinungen kundzutun, und umgekehrt soll es inakzeptabel erscheinen, sich zu bestimmten Themen der Stimme zu enthalten.
Dass überhaupt die Erwartung besteht, Stars und Influencer müssten sich zu jeweils aktuellen Themen äußern, ist allerdings auch Folge einer allgemeinen Politisierung. Kaum einer, der über große Reichweite in den sozialen Medien verfügt, hat nicht auch Content, mit dem für oder gegen etwas votiert, ja mit dem eine weltanschauliche Präferenz zum Ausdruck gebracht wird. Ist nicht schon jeder Ernährungsstil, jede Form von Freizeitverhalten, jede Art von Konsum inzwischen politisch? Daher ist es nicht verwunderlich, wenn von Stars und Influencern erwartet wird, sich auch zu anderen Lebensbereichen zu äußern, zumal wenn es um Themen geht, die die öffentliche Debatte stark prägen. Da es in den sozialen Medien üblich geworden ist, das eigene Leben, den eigenen Alltag, viele aktuelle Ereignisse zu teilen, erscheint es befremdlich, wenn jemand das, was die Nachrichten beherrscht, völlig ausklammert.
Der starke Bekenntnisdruck ist insofern die fast notwendige Folge von Praktiken der sozialen Medien. Das macht ihn jedoch für die Betroffenen nicht geringer oder harmloser. Daher sind tolerierte Formen der Absentierung notwendig: Signale, mit denen gerade diejenigen, die sonst meinungsfreudig sind und als Influencer andere Menschen mit ihren Ansichten prägen, öffentlich kundtun, sich für das ein oder andere Thema eine Auszeit nehmen zu wollen. Oder sogar Influencer insofern sein zu wollen, auch andere dazu zu ermutigen, sich mal einer Meinung zu enthalten – und zwar nicht notwendig aus Desinteresse, sondern vielleicht einfach nur, weil man sich überfordert fühlt – oder weil man aufgrund eigener Distanz zu einem Ereignis durch Zurückhaltung Respekt gegenüber denjenigen bekunden will, die unmittelbar davon betroffen sind. Vielleicht können Bilder wie das „All Eyes on Rafah“-KI-Bild als solches Signal fungieren und künftig als zivilisatorische Technik ausdrücklich geduldet sein: als Platzhalter für eine Meinung, die man eigentlich gar nicht haben oder kundtun will.
Wolfgang Ullrich, geboren 1967 in München, Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, unter anderem 2006 bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie, Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, seither freiberuflich in Leipzig als Autor, Kulturwissenschaftler und Berater tätig.