Politikverdrossenheit ist so alt wie Politik. Wo es Regierende und Regierte gibt, findet sich auch ein Ressentiment gegen „die da oben“. Daran ändern auch demokratische Verfassungen nichts, die den Regierten prinzipiell die Möglichkeit eröffnen, auf die andere Seite der Macht zu wechseln und selbst zu Gestaltern der Politik zu werden. Ungewohnt und in hohem Maße beunruhigend dagegen ist das Phänomen, dass nach jahrelangem wirtschaftlichem Aufschwung und trotz allgemeiner Prosperität nicht nur die politischen Kräfteverhältnisse erodieren, sondern den Repräsentanten des politischen „Establishments“ in bisher ungekanntem Ausmaß Verachtung und unverhohlener Hass entgegenschlagen. Galgen bei Demonstrationen, Beleidigungen in der virtuellen und analogen Welt, Gewaltattacken gegen Politiker zeugen nicht nur von einer Verrohung der Umgangsformen, sondern von einer elementar gestörten Kommunikation zwischen Entscheidungsträgern und Entscheidungserträgern.
Schnell werden dann Forderungen nach mehr Mitbestimmung laut, etwa durch Einführung plebiszitärer Partizipationsstrukturen oder durch die Absenkung des Wahlalters. Menschen sollen die Erfahrung machen, politisch etwas bewirken zu können. Macht Menschen zu Politikern, dann hört die Politikverdrossenheit auf. Stimmt das?
Wo es Elemente direkter Demokratie, etwa Volksbegehren oder Bürgerentscheide, gibt, bleiben Abstimmungszahlen in vielen Fällen hinter der gesetzlich geforderten Mindestbeteiligung zurück. Und wo das Quorum erreicht, ja manchmal eindrucksvoll übertroffen wird, geschieht das oft, weil der zur Abstimmung stehende Sachverhalt radikal vereinfacht wurde. „Rettet die Bienen!“ – wer könnte zu diesem Imperativ ernsthaft „Nein“ sagen? Doch wird die mit der Kampagne verbundene Reduktion auf Ackergiftverbote und Blühstreifen kaum dem komplexen Zusammenspiel von landwirtschaftlichen Erzeugungsbedingungen, Wettbewerbsorientierung, Existenznöten, Biodiversität, Großhandelsmargen und Lebensmittelpreisen gerecht. Ab wann kippt populäre Zuspitzung in populistische Stimmungsmache? Nicht erst das Brexit-Referendum hat vor Augen geführt, zu welch hanebüchenen Falschbehauptungen Campaigner greifen, um die Mehrheit auf ihre Seite zu ziehen.
Politik ist keine Spielwiese
Noch aus einem anderen Grund sind Elemente direkter Demokratie auf nationaler Ebene problematisch. Denn anders als an Stammtischen bisweilen vermutet gilt in einem demokratischen Rechtsstaat das Prinzip „Mehrheit entscheidet“ nicht uneingeschränkt. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung kennt Normen, die der Mehrheitsentscheidung entzogen sind. Die in Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz (GG) formulierte „Ewigkeitsgarantie“ sichert die Unantastbarkeit von Menschenwürde und Menschenrechten, das Demokratie- und Bundesstaatsprinzip sowie die Rechts- und Sozialstaatlichkeit gegen mögliche Eingriffe, selbst wenn diese auf demokratischem Wege zustande kämen. Die grausamen Lehren der Geschichte haben dazu geführt, dass um der Humanität willen bestimmte Bereiche des menschlichen Zusammenlebens absolut geschützt und der demokratischen Mehrheitsentscheidung entzogen sein müssen.
Genau vor diesen Bereichen würde aber das politische Instrument der direkten Demokratie schwerlich haltmachen. Die Schweiz, scheinbar ein Musterland basisdemokratischer Kultur, hat 2009 durch eine Volksabstimmung die Aufnahme eines Bauverbots für Minarette in die Eidgenössische Bundesverfassung erzwungen. Eine solche, in der Verfassung verankerte Diskriminierung der kulturellen Ausdrucksform einer zugelassenen Religionsgemeinschaft dürfte in westlichen Demokratien beispiellos sein und ist, wie selbst das Schweizer Bundesgericht urteilte, ein Verstoß gegen die Menschenrechte.
Würden in Deutschland nationale Volksentscheide eingeführt, die Zahl der populistisch ausschlachtbaren Themen würde erheblich zunehmen.
Dies gilt im Übrigen auch für die Absenkung des Wahlalters. Kann man jungen Menschen, denen der Abschluss eines Ratenkreditvertrags verwehrt ist, politische Gemengelagen so erklären, dass sie zu einer mündigen Wahlentscheidung in der Lage sind? Können sie, denen im privaten Bereich der vollumfängliche Überblick über die Folgen ihres Handelns abgesprochen wird, Verantwortung im öffentlichen Bereich wahrnehmen? Bei näherer Betrachtung scheint das Wahlrecht für Minderjährige die Tendenz zu haben, Demokratie eher zu infantilisieren, als sie krisenfest zu machen.
Politik ist eine ernste Sache. Sie eignet sich nicht als Spielwiese zum Ausprobieren und Spaßhaben, und sie lässt auch nur in beschränktem Umfang Komplexitätsreduktion und Vereinfachung zu. Selbst dort, wo es nicht unmittelbar um Krieg oder Frieden geht, stehen Entscheidungen an, die tief in das Leben der Menschen eingreifen. Solche Eingriffe sind durch keinen anderen Grund als den der Gerechtigkeit legitimierbar. Deshalb ist auch die gern bemühte Rede vom „Respekt“ des Staates gegenüber der Lebensleistung von Bürgerinnen und Bürgern unangebracht. Entweder die politischen Akteure emotionalisieren, damit das, was nüchtern betrachtet um der Gerechtigkeit willen gefordert ist, zu einer Gunst wird, die sie aus Wohlwollen gewähren. Oder aber der wohlklingende Ausdruck kaschiert eine Klientelpolitik, die – weil sie Partikularinteressen bevorzugt – gerade nicht gerecht ist. In beiden Fällen aber macht die scheinbar so egalitäre Formel vom „Respekt“ die einen zu Spendern und die anderen zu Empfängern von Wohltaten. Die Kluft wird also keineswegs aufgehoben, sondern vertieft.
Demütigung und Scham
Der politische Grundsatz, „Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben“ (Artikel 56 GG), stellt ein normatives Ideal dar, doch im Zwielicht des Tagesgeschäfts verschwimmen häufig die Motive des Handelns. Ob eine Entscheidung aus Taktik, Strategie, Wille zum Machterhalt, Verantwortungsbewusstsein oder um der Gerechtigkeit willen getroffen wird, ist selten eindeutig zu bestimmen. Aber den Bürgern immer wieder zu erklären, dass dieses oder jenes konkrete politische Handeln der Versuch ist, Gerechtigkeit herzustellen, ist ein wichtiger Schritt der Vertrauensbildung. Die einschneidenden Maßnahmen zur Eindämmung der Coronakrise haben die Zufriedenheit mit den Politikakteuren signifikant ansteigen lassen, weil glaubhaft vermittelt werden konnte, dass die erheblichen Beschränkungen Teil eines insgesamt gerechten Gesamtplans waren.
Neben das Ideal der Gerechtigkeit, das als solches nie vollkommen zu verwirklichen ist, hat der israelische Philosoph Avishai Margalit die Praxis der Anständigkeit gestellt, um eine „Politik der Würde“ zu realisieren. Margalit unterscheidet dabei zwischen der moralischen Haltung des Individuums und der in Institutionen inkorporierten „substanziellen Sittlichkeit“. Ein Staat, der die Extravaganzen seiner Bürger durch Manipulation, Überwachung und Unterdrückung im Zaum hält, mag effizient sein; menschenwürdig agiert er nicht. Unter solchen Umständen ist die Würde des Einzelnen auch nicht dadurch zu wahren, dass Individuen einander mit Respekt begegnen. Wo Menschen in Würde zusammenleben sollen, muss ein Übergang von der bloß „gezügelten Gesellschaft“ zur „anständigen Gesellschaft“ erfolgen. „Eine Gesellschaft ist dann anständig, wenn ihre Institutionen Menschen nicht demütigen“ (Margalit 2012, S. 13). Der Umgang mit Flüchtlingen etwa, mit sozial Schwachen, mit ethnischen oder religiösen Minderheiten und mit den Sorgen der Menschen sagt etwas darüber aus, ob eine Gesellschaft anständig ist. Demütigung greift die Selbstachtung an. „Eine Person zu demütigen heißt, ihr die Menschlichkeit abzusprechen, was wiederum bedeutet, sie so zu behandeln, als ob sie kein Mensch wäre, sondern bloß ein Ding, Werkzeug, Tier, Untermensch oder Mensch zweiter Klasse“ (ebd., S. 126).
Wie aber lassen sich institutionelle Demütigungen verhindern oder, positiv gewendet: Wie werden Einrichtungen sittlich? Es sind die Menschen, die Organisationen errichten, unterhalten und mit Leben füllen, es sind Politiker, deren Entscheidungen Ablaufroutinen ins Werk setzen, die beim Bürger als Institutionenhandeln ankommen. Allgemeine Verwaltungsstrukturen sind prinzipiell etwas anderes als individuelle Handlungen, aber in ihnen manifestiert sich etwas vom Ethos derer, die sie eingerichtet haben. Wo das Individuelle zum Allgemeinen auskristallisiert, macht es einen Unterschied, ob das Ethos der Entscheidungsträger und Gestalter Tugenden wie Wertschätzung, Demut und Großherzigkeit – nach Corine Pelluchon allesamt „Tugenden für eine ungewisse Welt“ – umfasst oder nicht. „Die Idee wäre, dass eine Gesellschaft nur anständig sein kann, wenn ihr das Schamgefühl nicht abhanden gekommen ist, mit anderen Worten, wenn sich ihre Mitglieder für demütigende Akte schämen“ (Margalit 2012, S. 140).
Joachim Söder, geboren 1967 in Premich (Bayern), Professor für Philosophie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (Abteilung Aachen).
Literatur
Margalit, Avishai: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Suhrkamp, Berlin 2012.
Pelluchon, Corine: Ethik der Wertschätzung. Tugenden für eine ungewisse Welt, wbg Academic, Darmstadt 2019.