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Warum das Konzept des Vaterlands allein nicht funktioniert

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Es sei eine Flut, heißt es bisweilen warnend in Kommentaren, die sich unablässig über die Balkanroute auf Deutschland zubewege. Manche fürchten eine Bedrohung für unsere Identität. Denn Syrer, Afghanen und alle jene Mühseligen und Beladenen, die sich zu uns auf den Weg machen, seien der hierzulande gewachsenen Kultur fremd und sprächen nicht die deutsche Sprache. Ob sie sie irgendwann genug beherrschen könnten, sei dahingestellt. Sie wüssten auch nichts von Hermann, dem Cherusker, oder von Martin Luther, nichts von Goethes „Faust“ und Schuberts „Unvollendeter“, schreiben andere, und womöglich würden sie das besondere Verhältnis der Deutschen zu Juden und dem Staat Israel nicht teilen. Keine Erfahrung hätten sie, schreiben wieder andere, was der Rechtsstaat sei, keine Ahnung, wie eine komplexe Industriegesellschaft funktioniere. Gänzlich krude wird es, wenn angeführt wird, die Neuankömmlinge seien viel zeugungs- und vermehrungsfreudiger als die autochthonen Deutschen! In Bälde komme es daher zu einem Bevölkerungsaustausch. Sogar von einer groß angelegten „Umvolkung“ war die Rede, gegen die man einschreiten müsse. Von da ist es nicht weit bis zum eigentlich längst vergessenen Ruf: Das Vaterland ist in Gefahr!

Aber gibt es das noch, das Vaterland, das Flüchtlinge gefährden könnten? Vielen erscheint der Begriff wie ein Relikt einer längst vergangenen Epoche: Erste „Vaterlandsvereine“ gründeten sich im 18. Jahrhundert, um zu „Patriotismus“, zu „Vaterlandsliebe“ zu erziehen; im Sinne von Aufklärung und Liberalismus förderten sie Kunst und Gewerbe oder Presse- und Meinungsfreiheit – die „Patriotische Gesellschaft von 1765“ in Hamburg etwa nahm sich des ersten Anliegens an; der deutsche „Press- und Vaterlandsverein“ entstand 1832 wegen des zweiten. Letzterer machte sich darüber hinaus für die deutsche Einheit stark, für die „Wiedergeburt Deutschlands in einem freiheitlichen Europa“, wie es in seiner Satzung hieß. Meinungs- und Gewerbefreiheit haben seit dem 19. Jahrhundert in allen westlichen Gesellschaften immer mehr Wohlstand geschaffen; sie sind heute in Deutschland im Grundgesetz garantiert, Gleiches gilt im Übrigen für die Verankerung Deutschlands in Europa. Warum also, so ließe sich naiv fragen, sollten Migranten aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea das „Vaterland“ bedrohen? Denn das Deutsche ließe sich lernen, könnte man meinen, genauso, was Goethe schrieb, Schubert komponierte und Hitler verbrach, und auch, was eine moderne Industriegesellschaft fordert. Selbst diejenigen, die meinen, die zahllosen Migranten seien allenfalls Wirtschaftsflüchtlinge, werden nicht umhinkommen, einzugestehen, dass sie wegen der Gründe nach Deutschland kommen, aus denen sich die ersten deutschen Vaterlandsvereine gründeten: nämlich die Schaffung von Wohlstand, für den die Meinungs- und Gewerbefreiheit Voraussetzung war.

 

„Süß ist’s, für’s Vaterland zu sterben“

Aber die Idee des Vaterlandes ist älter als die, die sich die Anhänger des Liberalismus davon machten. Bei den alten Griechen bedeutete die πατρίδα, das Vaterland, keinen bestimmten Boden, sondern die Toten und Lebenden sowie die Götter der Polis, denen man sich verbunden fühlte. Das Vaterland war vor allem in den Einwohnern der Polis präsent, es tauchte in Dienst- und Abhängigkeitsverhältnissen auf, es ließ sich aus Grußformeln entnehmen. So begrüßt Ödipus König Kreon, den Bruder seiner Frau nicht namentlich, sondern mit: „Herr, mein Schwager, des Menoikeus Sohn!“ Die Ich Identität, für die der Name steht, rangierte in der antiken Welt erst weit dahinter. Das Vaterland appellierte daher an seine Söhne, nicht zuletzt in den Tempeln der Götter und den Gräbern der Toten: Ihnen hatte man Reverenz zu erweisen, nach ihren Gesetzen zu leben – es war unvorstellbar, sich ein Leben außerhalb dieser Gemeinschaft zu denken.

Ähnlich war dies im alten Rom, wo Cicero, der römische Schriftsteller und Politiker, im ersten Jahrhundert vor Christus schrieb: „Wir haben eine zärtliche Liebe für unsere Väter und Mütter, für unsere Kinder, unsere Verwandten, für unsere Freunde, aber – die Liebe zum Vaterland schließt als einzige alle anderen ein.“ Arbeit und Dienst waren denn auch vorrangig Arbeit und Dienst an einer Gemeinschaft aus Familien, Clans und Sippen: „Das Leben des Weisen“, heißt es bei Ciceros Zeitgenossen Horaz, gehöre „zuerst seinem Vaterland, dann seinen Freunden.“ Ganz zu schweigen davon, dass Arbeit und Dienst für das Vaterland auch größere Opfer fordern konnte: „Süß ist’s, für’s Vaterland zu sterben“, schreibt Horaz. Das Vaterland, die patria, als Gemeinschaft von Toten und Lebenden, und Patriotismus als Tugend, als moralische Verpflichtung zum Dienst an ihr – dies entsprach dem Weltbild der Antike, in der sich der Mensch über Gruppen definierte und das Selbst, die Identität des Ichs, noch im Dämmerschlaf war. Noch im christlichen Mittelalter war das der Fall, als Könige die Namen der Vaterländer trugen, so wie der König von Frankreich oder der König von Jerusalem, und als Thomas von Aquin den Kult des Vaterlands gleich hinter der Religion ansetzte und – es als christliche Tugend erachtete, dass ein jeder Sohn des Vaterlands, ob Priester, Aristokrat oder Bauer, es mit der Waffe verteidigte.

Doch das Selbst war spätestens erwacht, da Jesus durch die neue Religion, das Christentum, nicht mehr nur das Volk Israel befreien wollte, sondern jede einzelne Seele. Das könne gelingen, versprach er, da ein jeder Mensch vernünftig, Gottes Ebenbild sei. Seit der späten Antike hielt daher das „Ich“ Zwiesprache mit sich selbst. Kirchenvater Augustinus wollte im fünften Jahrhundert wissen, dass der Weg zur Moral, zu Gott, zu einem guten Leben durch das Gewissen führe: „Geh nicht nach draußen“, war seine Maxime, „in dich selbst kehre zurück.“ Martin Luther und Johannes Calvin sahen das ähnlich; sie brauchten nicht zwingend einen Klerus, um mit sich und Gott ins Reine zu kommen. So war die Grundlage dafür gelegt, dass das Selbst vernünftig individueller Moral folgte und die Tugend verschwand, der patria zu huldigen und ihr notfalls sein Leben zu opfern; so war der Weg geebnet, dass sich die Identität verlor, die aus Gemeinschaft resultierte und die auch die Gesetze und Gräber der Vorfahren vermittelten.

„Indem man den Tod ins Angesicht schaut“, schreibt Thomas Basin, Bischof von Lisieux, noch 1471, „beweist man überhaupt Liebe zu seinem Vaterland und seinen Nächsten“. Nicht einmal 200 Jahre später jauchzten in Frankreich aristokratische Libertins schon in fröhlichem Kosmopolitismus: „Das Vaterland ist dort, wo es Güter gibt!“ Die christliche „Sorge um das Selbst“ hatte sich bisweilen zu utilitaristischer Moral säkularisiert, ermuntert durch die gewiss auch missverstandenen Philosophen der Aufklärung wie Thomas Hobbes und John Locke, die das vernünftige, freie und gleiche Individuum feierten, und man daher zu der Meinung kam, es diene dem Vaterland, zuerst sein eigenes Interesse zu verfolgen; inspiriert zuvor durch Kaufleute in Oberitalien und England, die freie und gleiche Bürger sein wollten– nicht zuletzt, um auf Märkten neue Gewinne zu erschließen; gemäß aber auch dem universalen Christentum, in dem jeder vernünftig, frei und gleich vor Gott ist.

Die liberalen Ideen, mit ihrer Feier des Ichs, waren Einladung, all das hinter sich zu lassen, was einst die patria, das Vaterland, an Tradition und Bindung bereithielt – also all das, was vorher das Selbst bestimmte. Diese Einladung wurde angenommen in der Englischen und Französischen Revolution. Doch was war nun der Mensch der Moderne, der in der bürgerlichen Gesellschaft als homo oeconomicus seinen Vorteil suchen sollte, herausgelöst aus der ständischen Gemeinschaft, die ihm lange die patria, das Vaterland, war? Die Moderne fand ihre Antwort darauf: Sie lag in der Nation, jener Herkunftsgemeinschaft, die sich vom lateinischen nasci, was heißt: „geboren werden“, ableitet, und sie lag in der Klasse, die Bürger und Arbeiter nach „oben“ und „unten“ in der Gesellschaft verwies.

 

Vollbusige Germania, hungerhakige Marianne

Die modernen Menschen schufen die Nation durch Verfassungen, unter die sich die vernunftbegabten Freien und Gleichen stellen sollten, wie es Amerikaner und Franzosen taten; oder durch gemeinsame Sprachen, Bräuche und Abstammungen. Sie konstruierten und entwickelten nationale Identität: appellierten an mythische Helden, wie die Franzosen an Vercingetorix, den gallischen Feldherrn, der den Römern unterlag, was „very French“ sei, wie Engländer später frotzelten, weil seit Napoleon französische Armeen nicht aufgehört hätten, zu unterliegen; daher symbolisierten sie die Nation in Allegorien, so wie die Deutschen sie in der „Germania“ symbolisierten, die auf mancher Karikatur im 19. Jahrhundert als vollbusiges Monstrum der Fruchtbarkeit über Marianne, dem kinderlosen Hungerhaken aus Frankreich, lächelte; und daher erzogen die Nationen zu nationalem, sogar nationalistischem Bewusstsein: in Schulen, wo müde Kinder die Daten glorreicher Schlachten fürs Vaterland nachbeten mussten, oder in Armeen, in denen die erwachsen gewordenen Kinder in neuen Schlachten zu sterben hatten. Erst nach dem zweiten großen Krieg hatte das ein Ende. Der alte Vaterlandsbegriff verschwand nicht, aber er wurde weitgehend europäisch geläutert und verlor seine aggressive Aufladung, aus Gegnerschaft sollte Zusammenarbeit werden. Charles de Gaulle sprach vom „l’Europe des patries“.

Die modernen Identitäten waren gebaut, geschaffen, konstruiert. Und die erwiesen sich in vieler Hinsicht als fließend. Denn in der Moderne des Freien und Gleichen ist fast alles fließend und flüchtig, da der technische Fortschritt Industrie, Produktion und Gesellschaft ständig komplexer und effizienter macht, da ständig mehr Wohlstand entsteht, da ständig alle „neugebildeten Anschauungen veralten, ehe sie verknöchern können“, wie Karl Marx im Kommunistischen Manifest schrieb. So verlor sich beispielsweise die Identität des Proletariers, als sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der Sozialstaat entfaltete und sich – überspitzt formuliert – aus dem zornigen, ungelernten Entrechteten in den Fabriken der qualifizierte Webdesigner der „neuen Mitte“ formte, der wenig Kinder hat, weil ihn im Alter Erlöse aus seinen Aktienpaketen versorgen. Und so verlor sich viel von der nationalen Identität, weil Märkte und Produkte nationale Grenzen überschritten, sodass heute Schweden Croissants frühstücken, Deutsche italienische Schuhe tragen und Franzosen einen Mercedes chauffieren. All das beschreibt einen internationalen, ja globalen Lebensstil, der nationale Sitten, Sprachen und Mentalitäten ebenso bereichert wie verwässert.

Darin besteht bei Weitem kein neues Phänomen. Schon im 19. Jahrhundert bestiegen gut betuchte Briten die Gipfel der Berner Alpen und arbeiteten dort am schweizerischen Nationalmythos; sprach Kaiser Wilhelm II. besser Englisch als mancher Londoner; kritisierten im Deutschen Reich die „Deutschrechtler“ unser heute identitätsbildendes „Bürgerliches Gesetzbuch“, weil es nicht mehr nur vom germanischen Volksgeist, sondern auch von der Idee der Menschenrechte geprägt war. Berge zu erklettern, Englisch als Lingua franca zu sprechen sowie Gesetze zu haben, die konform mit den universalen Menschenrechten sind, bedeuten Errungenschaften der modernen Industriegesellschaft, und die sind international. Was Wunder, dass sich all das bald auch für Portugiesen, Italiener oder Japaner als Vorbild empfahl.

„Ich bin hartnäckiger Universalist“, schreibt der jetzige Chefredakteur des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo Gérard Biard, „ich betrachte die Idee des Vaterlands als überwunden und deplatziert.“ Der Glaube an den Vorrang universeller Ideen ehrt diesen Journalisten, doch muss man, was das Vaterland betrifft, so weit nicht gehen. Die „postnationale Gesellschaft“ ist jedenfalls heute noch keine Realität. Vielmehr könnte man den Eindruck gewinnen, dass Europa aktuell eine Rückkehr zum Nationalen erlebt. Polen und Ungarn scheinen Beispiele dafür zu sein. Das aber ändert nichts daran, dass die Begriff „Vaterland“ und sein geistesgeschichtlicher Nachfolger „Nation“ als Konzepte der Abgrenzung in einer globalisierten, sich immer weiter vernetzenden Welt anachronistisch wirken. Im negativen Fall dienen sie sogar dazu, sich den Effizienz- und Modernisierungserfordernissen der europäischen und globalen Entwicklung zeitweilig zu entziehen. Man mag zwar heute umso mehr die Frage nach der nationalen Identität stellen, doch wahrscheinlich gibt es kaum mehr jemanden, der sie klar zu beantworten versteht. Das eigentliche Problem ist, dass die europäische Idee bisher weder als Ersatz noch als Ergänzung zur nationalen Identität ausreichend Überzeugungskraft gewinnt, sie eher sogar in der Krise ist.

Die vielen Flüchtlinge an den deutschen Grenzen dürften denn die Identität der deutschen Nation kaum mehr bedrohen. Vielmehr stehen sie für die Schattenseite von globalen Entwicklungen und sind damit eher Ausdruck unserer identitären Schwäche, denn keine Nation hält dafür ausreichende Antworten bereit. Was zunächst bleibt, ist die Lösung politischer Probleme. Sie ist Aufgabe einer Gesellschaft, die schon deshalb „postnational“ und europäisch sein muss, weil die Dimension der Risiken und Chancen der Globalisierung die nationalen Kräfte bei Weitem übersteigt.

 

Michael Böhm, geboren 1969 in Dresden, freier Publizist in Berlin. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften und den Rundfunk im deutschsprachigen Raum, unter anderem „GDI-Impuls“, die Sender des „Deutschlandradio“ und „RBB-Kulturradio“.

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