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Verzicht auf einen Preismechanismus verstärkt Fachkräftemangel

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Der Fachkräftemangel gilt vielen Menschen in Deutschland als stärkste ökonomische Wachstumsbremse. Andere halten Zuwanderung für das wirksamste Mittel zur Überwindung von Personalengpässen.

Beide Einschätzungen treffen weder zu, noch helfen sie weiter. Im Gegenteil: Wer Fachkräftemangel durch Zuwanderung beheben will, verlangsamt den Strukturwandel und damit das Wachstumstempo. Denn der Fachkräftemangel ist ein mikroökonomisches, kein makroökonomisches Problem. Er trifft einzelne Betriebe, jedoch nicht die Wirtschaft insgesamt. Somit besteht für die Wirtschaftspolitik kein besonderer Handlungsbedarf. Ganz anders sieht es für Unternehmen aus, denen Fachkräfte fehlen. Oftmals sind Schwierigkeiten, Personal zu finden und zu halten, ein Indikator dafür, dass Firmen strukturelle Veränderungen auf den Arbeitsmärkten nicht erkannt haben. Der Fachkräftemangel offenbart dann allerdings einen Führungsmangel.

Seit der Vertreibung aus dem Paradies gehört Mangel zum menschlichen Alltag. Die Ökonomik liefert jedoch die empirisch gehaltvollsten Konzepte, wie Knappheit überwunden werden kann. Studierende der Wirtschaftswissenschaften lernen bereits im ersten Semester, was passiert, wenn die Nachfrage größer ist als das Angebot. Ebenso wird ihnen eingetrichtert, dass ein „Preismechanismus“ in einer Marktwirtschaft Mangel effizient und effektiv beseitigt. Wird etwas knapp, provozieren steigende Preise eine Doppelreaktion: Einerseits machen es höhere Verkaufspreise für Hersteller attraktiver, das Angebot auszuweiten. Andererseits überlegen es sich die Kunden, ob sie sich teurere Einkäufe noch leisten wollen oder ob sie bei steigenden Preisen nicht darauf verzichten, shoppen zu gehen, in den Urlaub zu fliegen oder auswärts zu essen – schlicht, weil das Geld fehlt, um mit der Teuerung mithalten zu können. Im Ergebnis führt der Preismechanismus dazu, dass das Angebot steigt und die Nachfrage sinkt.

Der Preismechanismus als automatische Selbstheilungskraft der Marktwirtschaft findet weitgehend Zustimmung und Anerkennung. Er wirkt allein und von selbst. Er bedarf keines großen Plans der Politik, keiner Steuerung durch Regierungen und keiner sichtbaren Hand von Behörden, die vorgeben und kontrollieren, was zu produzieren oder konsumieren sei. Niemand muss oder soll sich anmaßen, zu wissen, was Menschen gern wünschen, ob sie lieber an die Nord- oder Ostsee, in die Berge oder ins Ausland fahren oder zu Hause bleiben wollen. Der Staat hat einzig dafür zu sorgen, dass der Preismechanismus unverfälscht und ungehindert walten kann, dass es keine Marktmacht gibt und mündige Personen tatsächlich frei entscheiden können, wie sie auf Knappheit und Überfluss reagieren wollen.

 

Gültigkeit automatischer Ausgleichsmechanismen

 

Umso erstaunlicher ist es, dass man dem Preismechanismus lediglich auf Gütermärkten, nicht jedoch auf dem Arbeitsmarkt traut. Ausgerechnet dort wechseln in Deutschland viele derjenigen die Seite, die sonst „mehr Markt und weniger Staat“ fordern. Sie verlangen von der Politik, für mehr Fachkräfte zu sorgen. Aber auch in diesem Fall dokumentiert jedes wirtschaftswissenschaftliche Lehrbuch die Gültigkeit automatischer Ausgleichsmechanismen. Wie Abbildung 1 veranschaulicht, bedeutet „Fachkräftemangel“, dass Unternehmen mehr Arbeitsstunden nachfragen, als Arbeitskräfte beim aktuellen Stundenlohn anzubieten bereit sind. Entsprechend besteht eine Überschussnachfrage, die dann als „Fachkräftemangel“ empfunden wird.

Thomas Straubhaar

Ließe man den Markt und seinen Preismechanismus spielen, käme es zu steigenden Stundenlöhnen. Das wiederum hätte erstens zur Folge, dass es für Erwerbspersonen ökonomisch attraktiver würde, länger zu arbeiten (siehe Abbildung 1, blauer Pfeil).

Zweitens führten steigende Stundenlöhne dazu, dass die Unternehmen weniger Arbeitsstunden nachfragen würden (siehe Abbildung 1, roter Pfeil).

Denn für einige Unternehmen wären die Lohnkosten nun so hoch, dass es für sie günstiger würde, Personen durch Maschinen und menschliche Intelligenz durch künstliche Intelligenz zu ersetzen, um teu(r)er gewordene Arbeit einzusparen – das würde auch dem technologischen Fortschritt einen Schub geben. Für andere Unternehmen würde Arbeit so teuer werden, dass sie möglicherweise nicht mehr konkurrenzfähig wären und deshalb ihr Geschäft aufgeben müssten – das würde den strukturellen Wandel voranbringen. Wer es sich weder leisten kann, höhere Löhne für mehr Arbeit zu bezahlen, noch für höhere Kapitalkosten für mehr Automatisierung aufzukommen, wird es schwer haben, zu überleben. Ein Fachkräftemangel ist somit eher Symptom als Ursache für unternehmerische Probleme.

Im Ergebnis erzwingen Preismechanismus und steigende Stundenlöhne ein erhöhtes Arbeitsangebot und eine sinkende Arbeitsnachfrage. Beides zusammen bringt gesamtwirtschaftlich den Fachkräftemangel automatisch zum Verschwinden. Automatisierung, Roboterisierung und der Einsatz künstlicher Intelligenz würden ebenso wie der strukturelle Wandel und damit das gesamtwirtschaftliche Wachstumstempo beschleunigt. Schwächere Firmen hingegen könnten nur überleben, wenn sie genügend billige Fachkräfte fänden, die bereit wären, zum aktuellen Stundenlohn zu arbeiten. Sie würden durch den Lohnanstieg existenziell gefährdet. Für sie – aber eben nur für sie – ist der Fachkräftemangel betriebswirtschaftlich eine existenzielle Bedrohung.

Breite Zustimmung findet in Deutschland die Forderung, den Fachkräftemangel über „mehr Zuwanderung“ zu beheben.

Nur so ließe sich das Ausscheiden geburtenstarker Babyboomer-Jahrgänge der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre auffangen. Wer so argumentiert, setzt jedoch gerade nicht auf Preise (siehe Abbildung 1, grüner Pfeil), sondern auf Mengen (siehe Abbildung 2, grüner Pfeil). Er will den Preis – also im Falle des Arbeitsmarktes den Lohn – festschrauben. Wenn Arbeitskräfte fehlen, soll nicht der Lohn steigen, sondern die Zuwanderung.

Thomas Straubhaar

Wie Abbildung 2 veranschaulicht, ermöglicht Zuwanderung in der Tat, Angebot und Nachfrage zur Deckung zu verhelfen. Zuwandernde übernehmen jene Arbeitsstunden, die inländische Erwerbspersonen beim aktuellen Stundenlohn nicht leisten wollen. Insgesamt finden sich so auch ohne Lohnerhöhungen genug Arbeitswillige, um alle nachgefragten Arbeitsstunden abzudecken (siehe Abbildung 2, Zusammensetzung der „Anzahl der Arbeitsstunden“ auf der Abszisse). Wer jedoch den Preismechanismus ausschaltet und durch eine Mengensteuerung ablösen will, ersetzt die Marktwirtschaft durch eine Planwirtschaft. Denn nun muss eine staatliche Behörde die Mengen verteilen. Sie muss bestimmen, welche Branchen in welchem Ausmaß durch Zuwanderung zu begünstigen seien – ob also etwa Flugreisen durch die Einstellung billigerer türkischer Arbeitskräfte oder der Pflegebereich durch Personal aus Fernost begünstigt werden soll. Sie hat mehr oder weniger komplizierte Punktesysteme zu erfinden, die etwa IT-Spezialisten hoch und Putzhilfen gering bewerten. Wobei dann in der Praxis immer wieder vergessen wird, dass man zwar Arbeitskräfte für gewisse Tätigkeiten ruft, allerdings Menschen kommen, die sich nicht an große Pläne halten und die am Ende dann eben doch Taxi fahren, obwohl sie ursprünglich Informatik studiert haben.

Im Übrigen ist die in Abbildung 2 als „Zuwanderung“ bezeichnete Vergrößerung des Arbeitsangebotes längst Realität – ohne jeden alarmistischen Appell nach „mehr Zuwanderung“, die eine neue Politik erforderlich mache. Jederzeit und seit Langem könnten etwa 150 Millionen Personen im Erwerbsalter zwischen zwanzig und 64 Jahren, wenn sie denn wollten, ohne jegliche rechtlichen Hindernisse völlig problemlos mit der gesamten Familie nach Deutschland kommen, um hier zu leben und zu arbeiten – nämlich alle Staatsangehörigen aus allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) (vgl. https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/LFSI_EMP_A__custom_5398283/default/table).

Und was passiert tatsächlich? Wenig bis nichts. Obwohl die Personenfreizügigkeit ein Grundrecht der Europäischen Union darstellt, bleibt die Anzahl der EU-Arbeitskräfte hierzulande gering. Gerade einmal 2,5 Millionen Personen aus anderen EU-Ländern waren 2021 in Deutschland erwerbstätig (vgl. https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Arbeitsmarkt/EU-Auslaender-Arbeitsmarkt.html). Weniger als zwei von einhundert EU-Angehörigen nutzen also die Option, hierzulande eine Arbeitsstelle anzunehmen. Aus vielen Gründen ist Deutschland für Unionsbürger, also für Personen aus anderen EU-Mitgliedstaaten, nicht attraktiv. Und eine Billiglohnstrategie, die über ein Mehr an Zuwanderung ein Ansteigen der Stundenlöhne verhindert, wird die Arbeitsaufnahme von EU-Angehörigen in Deutschland noch stärker zur Ausnahme als zur Regel werden lassen.

Die Forderung, mit mehr Zuwanderung einem Fachkräftemangel abzuhelfen, schlägt eine Richtung ein, die das Problem nicht verringert, sondern verschärft. Der Verzicht auf den Preismechanismus verstärkt den Fachkräftemangel. Denn Arbeiten in Deutschland soll nicht etwa auf-, sondern abgewertet werden. Es wird nicht mit mehr Attraktivität um jene geworben, die – ohne oder mit Migrationshintergrund – lange Zeit beziehungsweise sogar immer schon in Deutschland lebten oder eben aus der Europäischen Union bereits heute ohne Probleme kommen könnten. Vielmehr sucht man stattdessen weltweit möglichst billige Arbeitskräfte, scheinbar ohne sich groß zu überlegen, ob sich damit die Lücken in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik oder in Betreuung, Pflege und Gesundheit wirklich schließen lassen.

 

Anpassung an neue Zeiten ist unverzichtbar

 

Anstatt hiesige Jobs für alle EU-Angehörigen attraktiver zu machen, etwa durch ein gutes Arbeitsklima (wozu auch die Modebegriffe „Purpose“, „Awareness“, Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit gehören), bessere Bezahlung, längerfristige Aufstiegsperspektiven, regelmäßige Fort- und Weiterbildungsangebote oder großzügige betriebliche Versicherungs- und Vorsorgeleistungen, soll außerhalb der EU-Mitgliedstaaten nach Fachkräften gesucht werden, die – aus welchen Gründen auch immer – bereit sind (oder aus puren Überlebensnotwendigkeiten bereit sein müssen), anzunehmen, was ihnen hierzulande angeboten wird.

Die Forderung nach mehr Zuwanderung von Nicht-EU-Fachkräften erreicht das Gegenteil von besserer Bezahlung für Bürger der Europäischen Union. Wer Fachkräftelücken über den Mengenmechanismus schließen will, verzögert eine unverzichtbare Anpassung alter Strukturen an neue Zeiten. Betriebe, die sich teurere EU-Fachkräfte nicht (mehr) leisten können, werden mit billigen Arbeitskräften aus dem Ausland versorgt. Dank der Einsparungen können Firmen mit ihren bisherigen Produktionsverfahren überleben. Mit billiger Arbeit und entsprechend geringer Produktivität wird dann geleistet, was andernorts und eigentlich mit mehr Technologie automatisiert hergestellt werden könnte – das erinnert eher an die Erfahrungen der gescheiterten DDR als an das Wirtschaftswunder der Bundesrepublik Deutschland. Geringe Produktivität bedeutet jedoch geringere Löhne, weniger Attraktivität und entsprechend ein vergebliches Werben um gute Arbeitskräfte. Zu viele Arbeitskräfte verharren in Sektoren, Regionen und Unternehmen, die nur überleben können, weil die Stundenlöhne auf niedrigem Niveau stagnieren. Sie fehlen dann jedoch in jenen Bereichen und Branchen, die schon jetzt und künftig vermutlich noch stärker händeringend nach Fachkräften suchen. Stattdessen werden in strukturschwachen Firmen immer noch Tätigkeiten auf Menschen übertragen, die längst durch Maschinen schneller und besser erledigt werden könnten. Man konserviert dadurch arbeitsintensive Billiglohnjobs, die langfristig nicht konkurrenzfähig sein werden.

Klüger wäre es, auf Preismechanismus und Marktwirtschaft zu setzen – auch auf dem Arbeitsmarkt. So würde erzwungen, mit weniger Arbeitsaufwand mehr nachhaltige Geschäftsmodelle rascher voranzubringen. Steigende Löhne machen den Einsatz von Maschinen, Automaten und Robotern attraktiver. Als Folge nimmt die Arbeitsproduktivität zu. Das rechtfertigt dann auch die steigenden Stundenlöhne, weil Personen dank der Maschinen, Automaten und Roboter eben auch pro Stunde mehr Werte schaffen! Wer Baugruben anstatt mit Pickel und Schaufel von Hand mit einem Bagger aushebt, kommt schneller voran. Wohlstand der Bevölkerung und Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen erfordern ein Denken in „Qualität“ und nicht in „Quantität“ – und genau das kann der Preismechanismus ermöglichen, auch auf dem Arbeitsmarkt.

 

Thomas Straubhaar, geboren 1957 in Unterseen (Schweiz), Ökonom und Migrationsforscher, Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Internationale Wirtschaftsbeziehungen der Universität Hamburg.

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