Wenn heutzutage das Stichwort „Religion“ fällt, dann oft zusammen mit den Begleitern „Fundamentalismus“, „Radikalisierung“ oder „Extremismus“. Das hört sich alles nicht nach Mitte, sondern gleich nach einer Positionierung an den Rändern an, den extremen Außenseiten einer Religion. Gibt es niemand „Normales“ mehr unter den Religiösen?
Natürlich, das hat etwas mit den Mechanismen unserer Aufmerksamkeit zu tun: Den Vertreter einer fundamentalistischen Islamauslegung in weißem Kaftan, mit Häkelhut und langem Bart in der Fußgängerzone kann ich sofort identifizieren und einordnen. Die vielen anderen gläubigen Muslime, die mir ansonsten an einem Morgen in der Stadt begegnet sind, bemerke ich nicht. Die Gruppe radikaler christlicher Lebensschützer, die ihr Anliegen mit (fast) allen Mitteln politisch durchzusetzen versuchen, machen mir als Abgeordnete oftmals das Leben schwer. Die Beiträge, mit denen andere Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen ihre Position verdeutlichen und Einfluss auf Gesetzgebungsprozesse nehmen wollen, sind womöglich von vornherein darauf aus, Mehrheiten für einen Kompromiss zu gewinnen und in die politische Meinungsbildung einzuwirken.
Ist Religion der Mitte möglich?
Doch was ist, wenn ich nicht nach der Mitte einer bestimmten Religion frage, sondern nach der unserer Gesellschaft insgesamt? Geht Religion vielleicht gar nicht in der Mitte? Wer wirklich von einer Sache überzeugt ist, wer sich für einen Glauben oder eine bestimmte Konfession entschieden hat, ist der nicht automatisch am Rand, jedenfalls schon lange nicht mehr in der Mitte unserer Gesellschaft? Nein, jetzt kommt nicht: Früher war alles besser, als die Katholiken noch richtig katholisch waren und das „christliche Abendland“ noch nicht gerettet werden musste. Nein, jetzt kommt eher die Beobachtung, ob nicht Überzeugungen, die sich – und das tun Religionen qua definitione – am Transzendenten, am Allerhöchsten festmachen, jemanden nicht automatisch aus der Mitte gesellschaftlicher Toleranz – oder Gleichgültigkeit – wegdefinieren. Wenn ich von etwas so überzeugt bin, dass „ich mein ganzes Herz dran hänge“ und für mich keine Alternative sehe, kann ich dann akzeptieren, dass andere dies mit gleicher Vehemenz ablehnen und für sich eine andere (religiöse) Lebenshaltung zur seligmachenden Wahrheit erklären?
Damit sind wir bei den Themen von Religionsfreiheit als Freiheit für und von jeder Religionsausübung, Toleranz gegen Andersgläubige und Interreligiösem Dialog. Eine solche Haltung gesellschaftlich in den Menschenrechten und bei uns im Grundgesetz festzuschreiben, hat lange genug gedauert. Es aus binnenreligiöser Sicht aber auch als ein theologisches Axiom der eigenen Glaubensüberzeugung zu erkennen, war und ist noch viel schwieriger. Als Katholikin darf ich mir nichts vormachen: Wir gehörten in dieser Hinsicht mit zu den schwierigen Fällen und haben erst im Zweiten Vatikanum und hier besonders mit dem Text „Dignitatis Humanae“ zu einer theologisch begründeten Akzeptanz allgemeiner Religionsfreiheit gefunden.
Aber nicht erst seit den aktuellen schrecklichen Erfahrungen mit religiösen Extremisten bin ich überzeugt: Es ist eine unserer wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben, diese Grundhaltung einzuüben und von allen Religionen einzufordern. Wir müssen die Mitte unserer Gesellschaft frei machen: nicht frei von Religion, sondern frei für verschiedene religiöse Überzeugungen ebenso wie frei für diejenigen, die ihr Recht einfordern, auf keinen Fall religiös zu leben. Frei machen für diejenigen, die in aller Toleranz für andere Glaubensformen und natürlich immer unter Beachtung des Grundgesetzes ihre Religion auch öffentlich leben wollen, und frei für diejenigen, die genau dies mit demokratischen Mitteln hinterfragen.
Religionsfreiheit weltweit
Ich bin Mitglied einer internationalen Parlamentarier-Gruppe, die sich für Religionsfreiheit weltweit einsetzt. Eine gemeinsame Erklärung in New York im letzten Jahr wäre fast gescheitert, als jordanische Abgeordnete im letzten Augenblick erklärten, sie seien zwar für Religionsfreiheit, aber das könne natürlich nicht bedeuten, dass Muslime ihren Glauben aufgeben oder gar zu einer anderen Religion wechseln dürfen. Doch, liebe Kollegen aus dem Parlament in Amman und überall woanders auf der Welt: Auch das gehört zur Religionsfreiheit!
Nach meiner Lebenserfahrung fällt es umso leichter, diese gesellschaftliche Mitte gemeinsam mit anderen zu gestalten oder zumindest „auszuhalten“, wenn ich selbst nicht nur fest in meiner eigenen Überzeugung verankert bin, sondern diese auch informiert und reflektiert im Diskurs vertreten kann. Das schützt vor jedwedem Fundamentalismus und führt bestenfalls zu „radikalem“ Redebedarf.
Claudia Lücking-Michel, geboren 1962 in Dortmund, Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.