„Früher einmal glaubte man an das Verschwinden des Staats. Es war ein Märchen, das sich Marxisten vor dem Schlafengehen erzählten, und es war auch die Lebenslüge der Kommunisten, nachdem sie die Staatsmacht erobert hatten.“1 Dies schreibt Russell A. Berman, Professor für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Stanford, mit Blick auf die Lehren, die sich aus der weltweiten Reaktion der Politik auf die Coronakrise entnehmen lassen. Kaum etwas könnte der heute populärsten Nachfolgethese der Untergangsbeschwörer des Nationalstaats, dass die wesentlichen Herausforderungen unseres Lebens tendenziell globalen Ursprungs, globaler Natur und globaler Dimension sind und deshalb überstaatlicher Bewältigungsmechanismen bedürfen, gelegener kommen als eine sich weltweit ausbreitende lebensgefährliche Seuche; und kaum etwas könnte, zumindest nach derzeitigem Stand der Dinge, diese These offenkundiger in Zweifel ziehen als die tatsächliche Folgerung, die über den ganzen Erdball hinweg aus der eingetretenen Notlage gezogen worden ist. Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt: Die traditionellen Definitions- und Konstitutionsbedingungen politischer Legitimität im Selbstverständnis des modernen Rechtsund Nationalstaats bleiben der Schlüssel für das Vertrauen der Bürgerschaft in die Handlungsfähigkeit und Rationalität politischer Zwangsmechanismen im Umgang mit der unwägbaren Gefahr.
Staatsgebiet: Selbstverständlich entscheidet jedes Land souverän, wer in es einzutreten und wer draußen zu bleiben hat, und selbstverständlich kann und muss die entsprechende Entscheidung implementiert und durchgesetzt werden. „Es ist kein Zufall“, um noch einmal Berman, nun mit speziellem Blick auf die jüngere Vergangenheit, zu zitieren, „dass nationale Führungsansprüche aus dem Bestehen auf der Kontrolle nationaler Grenzen hervorgehen: Ein Staat, der seine Grenzen nicht schützen kann, ist ein gescheiterter Staat. Die Grenzschließungen von 2020 sind der Widerruf der deutschen Grenzöffnungen von 2015.“
Staatsvolk: Zweifellos gibt es eine Fürsorgepflicht des Staates für alle zur Bürgerschaft gehörigen Personen hinsichtlich der Gesundheitsversorgung und der sozialstaatlichen Grundgewährleistungen; und selbstverständlich steht keiner externen Instanz ein Rechtsanspruch zu, die Ausdehnung dieser Fürsorgepflicht über die Grenzen des eigenen Landes hinaus zu fordern.
Staatsgewalt: Selbstverständlich gilt das Prinzip des staatlichen Gewaltmonopols und der Unbedingtheit der staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht für alle zum Schutz und zur Wahrung der Interessen der Bürgerschaft ergriffenen Maßnahmen, und selbstverständlich gilt das für den modernen Rechtsstaat konstitutive Prinzip, dass mit dem Gehorsam des Bürgers keinerlei Pflicht zur oder auch nur konkludente Erklärung der Zustimmung zu diesen Maßnahmen verbunden ist.
Legitimität der nationalen Institutionen
Dies sollte nicht eine Zitation von Lehrbuchformeln sein, sondern die gewiss holzschnittartige und ergänzungsfähige Beschreibung von Prinzipien, die auf der politischen Ebene den Umgang mit der weltweit akuten Gesundheitsgefährdung in den ersten Wochen und Monaten der Coronakrise bestimmt haben. Wenn und insoweit diese Beschreibung stimmt: Was folgt aus ihr für die Besinnung auf die Bedeutung, die der Staat und seine Zwangsgewalt für den – politisch wie ethisch – legitimen Umgang mit solchen Bedrohungen unseres Lebens haben, die tendenziell globalen Ursprungs, globaler Natur und globaler Dimension sind? Muss man so etwas konstatieren wie eine Gewichtsverschiebung im Verhältnis des Bürgers zum Staat, des Individuums zur Gemeinschaft, der Freiheit zur Sicherheit oder gar des Universalismus und Multilateralismus im Verhältnis zu Nationalismus und Partikularismus?
Selbstverständlich muss man das nicht – jedenfalls dann nicht, wenn man sich den Sinn für die einfachste und eindeutigste Bedingung der Legitimität politischen Handelns und damit staatlichen Zwangs im modernen Rechtsstaat bewahrt hat. Immanuel Kant benannte diese Bedingung in seiner Schrift Zum ewigen Frieden als die des Republikanismus, das heißt des schlechthin gültigen Prinzips, dass die Regierenden den Sinn und Umfang ihrer Regierungsgewalt einzig dem Willen und Auftrag der Regierten verdanken und nichts und niemandem sonst, auch nicht etwa den moralischen oder anderweitigen Beweggründen, die sie dazu bewogen haben, sich um diesen Auftrag zu bemühen. Hier liegt der Kern der Antwort auf die Frage nach der Legitimität der nationalen Institutionen im Umgang mit globalen Herausforderungen: Wer sich in seinem politischen Handeln auf Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt beruft, bringt damit nicht das Ergebnis einer in irgendeinem politischen Sinne relevanten Abwägung zum Ausdruck, die er zwischen seinem Regierungsauftrag und anderen Gesichtspunkten vorgenommen hat, sondern er nimmt die Verantwortung wahr, die ihm einzig und allein aus diesem Regierungsauftrag zukommt.
Selbstverständlich kann und muss zwischen denen, die sich diesen Auftrag teilen, über den Inhalt dieser Verantwortung gestritten werden, aber wenn sie das Ergebnis ihres Streits in politisches Handeln umsetzen, tun sie dies aufgrund der Verantwortung vor ihren Bürgern und nur und allein daraus. Ein Politiker nimmt, wenn er dem Amtseid folgt, den er seinem Volk geleistet hat, keinen Akt der Wertung zwischen den Rechten und Interessen seiner Bürger und denen anderer Menschen vor, sondern er nimmt die einzige ihm politisch vorgegebene Verantwortung wahr. Im zwischenstaatlichen Verhältnis zwischen den politisch Handelnden ist Kooperation, gegenseitige Unterstützung und das gemeinsame Lernen aus den Geschehnissen zwar auch unabdingbarer Teil der Verantwortung, die sie gegenüber den von ihnen Regierten tragen; aber sie ist nicht Ausfluss irgendeiner überstaatlichen Legitimationsgrundlage.
„Das Unabstimmbare“ in der Demokratie
Wenn man das alles gesagt hat, kann man sich behutsam der Frage zuwenden, deren Antwort auf einem anderen Blatt steht, und zwar der Frage: Was heißt hier „der Staat“? In deren Kontext kommen deutlich andere Faktoren ins Spiel als Gebiet, Volk und Gewalt. Drei wesentliche Stichworte lauten hier: Gerechtigkeit, Subsidiarität und Solidarität.
Gerechtigkeit: Der moderne Rechtsstaat hat die Frage nach der Gerechtigkeit definitiv, sogar mit „Ewigkeitsgarantie“, beantwortet, indem er die Grundrechte seiner Bürger als unmittelbare Bindungswirkung der Menschenwürde und Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft auf der Welt institutionalisiert hat. Die Grundrechte setzen somit auch dem Regierungsauftrag Grenzen. Sie schützen das, was Ernst-Wolfgang Böckenförde „das Unabstimmbare“ in der Demokratie genannt hat.2 Dieses Unabstimmbare ist der eigentliche Prüfstein jeder demokratischen Regierungsform, denn wo sollte das Legitimationskriterium einer Ordnung, die auf dem Mehrheitsprinzip beruht, liegen, wenn nicht in dem, worüber nicht abgestimmt werden kann?
Im Umgang mit den Grundrechten ist für jeden Regierenden höchste Sorgfalt und unbedingte Achtung der Verhältnismäßigkeit gefordert. Dazu gehört elementar das Prinzip, dass in Grundrechte nur auf der Basis von Gesetzen eingegriffen werden darf. Dass freien Bürgern im Kontext der Coronakrise ohne jegliche gesetzlich abgesicherte Verhältnismäßigkeitsabwägung verboten wird, an einer Heiligen Messe teilzunehmen oder sich in ihr Landhaus, das auf ihrem eigenen Grund und Boden steht, zu begeben, sind, wenn man sich die geschichtliche Bedeutung vor Augen hält, die das Recht auf Religionsfreiheit und das Eigentumsrecht für die Entstehung des modernen Rechtsstaates gespielt haben, Ungeheuerlichkeiten. Um solche Rechte zu schützen, haben „wir“, das heißt die freien und gleichberechtigten Bürger in der Achtung vor allen und jedem von uns, den Staat gegründet, der aus diesen Rechten seine Existenzgrundlage, das heißt die uns geschuldete Pflicht, wahrzunehmen hat. Denn, wie heißt es doch so schön am Sonntag: Der Staat sind wir alle.
Rechts- und Hilfspflichten
Subsidiarität: „Der Staat“, das sind nach der Ordnung des deutschen Grundgesetzes zuerst einmal die Länder, zu denen staatsorganisationsrechtlich auch die Kommunen gehören, und schließlich der Bund. Der deutsche Föderalismus hat sich, nach derzeitigem Stand der Dinge, in der Krise bewährt. Was, wie der Grenzschutz, selbstverständlich eine nationale Aufgabe ist, wird national geregelt, was auf anderen Ebenen Flexibilität und Differenziertheit erlaubt oder erfordert, bleibt Sache föderaler Strukturen.
An dieser Stelle muss man einräumen, dass es für den Staat auch einen Aspekt von Subsidiarität „nach oben“ gibt. Der Nationalstaat muss und wird nicht das letzte Wort sein, das die Geschichte über die Frage der politischen Gemeinschaftlichkeit der Menschen zu sprechen hat. Es mag durchaus sein, dass Herausforderungen von transnationaler Dimension zu postnationalen Neubestimmungen unserer geschichtlichen Identität führen. Nur eines muss klar sein: Eine postnationale Identität gibt man sich nicht deshalb, weil man einsieht, dass es gut wäre, wenn man sie hätte. Identität ist, was da ist oder eben nicht; Identität zu erzwingen oder zu erschleichen, ist das imperiale und tendenziell totalitäre Prinzip, das Ernst Cassirer, nachdem ihm seine eigene bürgerliche Existenz zum Opfer gefallen war, den „Mythus des Staates“3 genannt hat. Wenn für uns einmal eine postnationale Identität wirklich geworden sein sollte, dann wird sich deren Beglaubigung genau darin zeigen, dass sie sich staatlich konstituiert. Davon ist gerade in diesen Tagen nichts zu spüren. Die Coronakrise wird vermutlich von Nationalstaaten bewältigt werden müssen. Zumindest auf dem europäischen Kontinent gibt es keine postnationale Perspektive, die diese Einsicht relativieren könnte. Schon eine Seuche hat alles überfordert, was an Beschwörungen einer solchen Perspektive im Umlauf war. Was soll man daraus schließen im Blick auf ungleich dramatischere Existenzgefährdungen, mit denen eine wirkliche politische Gemeinschaft fertig werden muss, etwa wenn es um Atombewaffnung, Sicherung der Energieversorgung und Grenzschutz geht?
Schließlich Solidarität: Der Nationalstaat kann sich, wenn es um die Bekämpfung einer Gefährdung geht, die alle politischen Grenzen überschreitet, natürlich zu internationaler und womöglich sogar globaler Verantwortung bekennen und diese wahrnehmen. Ob und wie er das tun soll, ist eine politische, keine ethische Frage. Was die Ethik, also die philosophische Rekonstruktion von rechtlichen und moralischen Verpflichtungen, angeht, so ist ihr allerdings eine schlechthin fundamentale Unterscheidung zu entnehmen, ohne die auf dieser Ebene Rationalität nicht möglich ist, nämlich die Unterscheidung von Rechtsund Hilfspflichten. Rechtspflichten sind Handlungspflichten: Wer eine Rechtspflicht hat, etwa die Entrichtung des Kaufpreises für eine ihm gelieferte Ware, der hat einen konkreten Anspruchsgegner. Hilfspflichten hingegen sind, kantisch gesprochen, Maximenpflichten: Man darf sie nicht ignorieren, aber niemand hat auf ihre Erfüllung einen Rechtsanspruch. Wer nie Almosen gibt, handelt verwerflich; aber wem er sie gibt, ist allein seine Sache. Jede Rede von globaler Verantwortung, die eine solch elementare Unterscheidung wie die zwischen Rechtsund Hilfspflichten ignorieren wollte, wäre angesichts der Nöte einer Erdbevölkerung von derzeit acht Milliarden Menschen im höchsten Grade irrational.
Res publica bedeutet eben für freie Bürger: Was „der Staat“ ist, ist unsere Sache.
Walter Schweidler, geboren 1957 in Wassertrüdingen, Altstipendiat und Vertrauensdozent der Konrad-Adenauer-Stiftung, Professor am Lehrstuhl für Philosophie, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt.
1 Russell A. Berman: „Der Corona-Moment. Die Welt ist voller Bedrohungen. Nur der Nationalstaat kann die Freiheit verteidigen“, in: Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, 03.04.2020, S. 16.
2 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1991, S. 343 ff.
3 Ernst Cassirer: Der Mythus des Staates (1946), 2. Aufl., Hamburg 2015.