Asset-Herausgeber

Warum Deutschland die digitale Revolution nur mit Startup-Unternehmen meistern kann

Asset-Herausgeber

Der Wohlstand in Deutschland geht auch heute zu einem großen Teil auf Unternehmensgründungen des letzten und vorletzten Jahrhunderts zurück. Diese Unternehmen haben sich in ihren Industriesegmenten eine gute bis sehr gute Position erarbeitet, die sie einerseits durch eine erfolgreiche Globalisierungsstrategie und andererseits durch das stete Perfektionieren ihrer Produkte bis in die Gegenwart verteidigt haben. Das kontinuierliche Perfektionieren guter Produkte ist ein Erfolgsgeheimnis der deutschen Industrie, denn dadurch erhält sie sich kontinuierlich einen kleinen Vorsprung im globalen Wettbewerb, der für internationale Mitbewerber bis heute schwer einzuholen ist.

Doch die digitale Wirtschaft funktioniert nach anderen Spielregeln als die analoge. Sie bringt gänzlich neue Produkte auf den Markt, indem sie digitale Lösungen für Bedürfnisse entwickelt, die bis dato von überwiegend analogen und traditionellen Produkten oder Dienstleistungen bedient wurden. Diese Entwicklung geht rasant vonstatten, und florierende, traditionelle Marktführer werden schneller von diesen neuen digitalen Innovationen getroffen, als sie auf diese Herausforderung reagieren können. Denn große Organisationen sind oft zu träge und strukturell innovationsfeindlich, als dass große Sprünge möglich wären. Disruptive Innovationen können hergebrachte Marktteilnehmer sowie deren Produkte und Dienstleistungen komplett ersetzen. Denn das stete Optimieren und „Weiterwurschteln“ mit kleinen Schritten reicht in Zeiten technischer Revolutionen nicht mehr aus.

 

Unter die Räder gekommen: KODAK und Co

So sind schon einige Top-Unternehmen unter die Räder gekommen. Kodak, noch vor wenigen Jahren Weltmarktführer, hatte schon in den 1970er-Jahren in den eigenen Labors die Digitalfotografie erfunden und prototypisch realisiert – dann aber aus Sorge, die eigene Marktposition durch die Digitalfotografie zu kannibalisieren, nicht konsequent verfolgt. Kodak musste 2012 Insolvenz anmelden. Die Musikindustrie wurde durch Downloadplattformen zunächst bis an den Rand der Überlebensfähigkeit gebracht und wenige Jahre später durch Streaming-Dienste wie Spotify oder Soundcloud mit neuen Einnahmequellen beglückt. Doch kein traditionelles Label hat diese Entwicklung aktiv gesteuert oder ein konkurrenzfähiges eigenes Produkt auf den Markt gebracht. Der Kuchen wurde wesentlich zwischen etablierten IT-Firmen wie Apple auf der einen Seite und Start-ups wie Spotify oder Soundcloud auf der anderen Seite neu verteilt.

Ähnliche Geschichten lassen sich auch über den Versandhandel, die Tourismusindustrie, Verlage, die Finanzindustrie, das Taxi- und Hotelgewerbe und viele andere Bereiche erzählen. Branchen, die bisher noch nicht von dieser Entwicklung getroffen wurden, sollten sich darauf einstellen, dass sie zu den nächsten Zielscheiben der Digitalisierung werden könnten.

In den letzten Jahrzehnten hat die deutsche Industrie und Politik viel Zeit verloren, statt konsequent auf diese Herausforderung zu reagieren. Solange die Exportindustrie neue Rekorde vermelden konnte, waren die deutschen Entscheidungsträger von diesen Erfolgen geblendet. Doch langsam setzt sich auch im digitalen „Neuland“ die Erkenntnis durch, dass es so nicht weitergehen kann. Es ist heute offenkundig, dass es ohne eine umfassende Digitalisierung aller Wirtschaftszweige sowie der öffentlichen Verwaltung und des Bildungssektors in Deutschland keine Zukunft als führender Technologiestandort oder gar Exportweltmeister geben wird. Doch seit SAP hat es kein Software- oder Internetunternehmen an die Weltmarktspitze geschafft. Nach kurzfristiger Euphorie in den späten 1990er-Jahren und dem Platzen der Internetblase zur Jahrtausendwende hat es bis zu den Börsengängen von Zalando und Rocket-Internet kein deutsches Internet-Start-up an die Börse geschafft oder zu einer Spitzenposition mit globaler Bedeutung gebracht.

Die deutsche Öffentlichkeit, die deutschen Investoren und Politiker haben sich jahrelang in einer skeptischen Beobachterposition eingerichtet, während im globalen Maßstab Fakten geschaffen wurden. So ist die deutsche Start-up-Szene, verglichen mit den internationalen Wettbewerbern, gemessen an der Zahl der Gründungen und den Investitionen, die in Start-ups fließen, nicht in der Spitzengruppe zu finden. 2013 wurden in den USA vierzehn Milliarden Dollar in IT- und Internet-Start-ups investiert, derweil es in Deutschland insgesamt laut BITKOM nur 255 Millionen Dollar waren. Folglich wurden viele der besten deutschen Start-ups in der vergangenen Dekade noch während der Wachstumsphase überwiegend an amerikanische Konkurrenten verkauft – mit der Folge, dass in Deutschland Vertriebsableger für amerikanische Produkt- und Service-Innovationen die Internet-Szene bestimmen.

 

Deutsche Start-up-Schwäche

Wenn sich also die in der analogen Welt verwurzelte deutsche Industrie schon seit Jahrzehnten mit der Digitalisierung offenkundig sehr schwertut, liegt es auf der Hand, dass die digitale Revolution in Deutschland durch Start-ups angeschoben werden muss – genauso, wie es in den führenden Ländern USA, China, Indien oder Israel zu beobachten ist. Zwischenzeitlich haben sich diese Länder einen Vorsprung vor Deutschland erarbeitet und eine Reihe von internationalen Marktführern in den verschiedensten Segmenten der digitalen Hightech-Industrie hervorgebracht.

Prinzipiell sind auch in Deutschland die notwendigen Voraussetzungen dafür gegeben: sehr gut ausgebildete Studenten und Berufseinsteiger, Grundlagenforschung, Kapital in großen Mengen, ein funktionierender Staat mit einer guten industriellen Infrastruktur. Trotzdem gelingt es selten, in Deutschland Firmen zu gründen und zur Reife zu entwickeln, die eine führende Rolle in der digitalen Industrie einnehmen. Die Gründe dafür sind vielfältig; sie sind bereits in einer früheren Ausgabe dieser Zeitschrift umfassend analysiert werden (vgl. Die Politische Meinung, Mai/Juni 2014, Seite 42–46). Es lohnt sich jetzt, den Blick auf die Start-up-Gründer zu richten, da sie die Conditio sine qua non jedes Start-ups sind.

 

Zurückhaltende MINT-Absolventen

Wenn man sich die Gruppe der Gründer von Hightech-Unternehmen in Deutschland genauer ansieht, fällt auf, dass sich bestimmte universitäre Fachrichtungen offenbar mehr angesprochen fühlen als andere. Am meisten fühlen sich Absolventen der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten von der Aussicht angezogen, Gründer zu werden. Das ist zunächst einmal erfreulich, denn jedes Hightech-Start-up hat mit Themen wie Business Plan, Investorensuche und Finanzplanung zu tun – Themen, für die man betriebswirtschaftliche Grundlagen sehr gut gebrauchen kann. Demgegenüber fällt gerade in Deutschland auf, dass sich Absolventen der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) lieber auf eine vermeintlich sichere Industriekarriere festlegen, als selbst zu gründen. Aus dem aktuellen Deutschen Start-up Monitor (DSM) geht hervor, dass 35 Prozent der Gründer einen wirtschaftswissenschaftlichen Hintergrund, aber nur 17 Prozent einen Abschluss in Mathematik, Computerwissenschaften oder Informatik haben.

Das ist natürlich problematisch, denn im Kern jeder Gründung steht ein digitales Produkt oder ein digitaler Service, und der wird selten von Betriebswirten, Juristen oder Historikern entwickelt. Daimler, Porsche, Bosch, Siemens, Microsoft, Google, SAP sind Gründungen von Technikern, und das ist sicherlich kein Zufall. Den akademischen Lehrern und den Universitäten kommt eine zentrale Rolle zu, dies zu ändern. Wenn aber der beste Tipp für Absolventen seitens ihrer Hochschullehrer lautet, dass sie ein hohes Einstiegsgehalt verlangen sollen, da ihr Wissen eine Mangelressource sei, muss man sich nicht wundern, wenn sich Absolventen danach richten.

Noch auffälliger als das Missverhältnis der akademischen Fachrichtungen ist der geringe Anteil von Frauen an Start-up-Gründungen, denn 90 Prozent der Gründer sind Männer (DSM 2014). Dabei ist es nirgendwo einfacher, die viel diskutierte „gläserne Decke“ zum Topmanagement zu durchstoßen, als mit der eigenen Gründung. Jeder Gründer ist per se sein eigener Chef – ganz ohne gesellschaftliche Debatte, Selbstverpflichtung der Industrie oder Quote. Es liegt auf der Hand, dass so in einem Land, in dem aktuell mehr Frauen als Männer einen akademischen Abschluss erlangen und durchschnittlich bessere Noten haben, Potenzial für Start-up-Gründungen verschenkt wird. Hier kommt Eltern, Schule und Hochschule die Verantwortung zu, junge Frauen zu motivieren, ihre eigene Chefin zu werden. Es ergibt absolut keinen Sinn, wenn Frauen sich einerseits für mehr DAX-Vorstandsposten starkmachen und gleichzeitig die Chancen, Unternehmerin zu werden, ungenutzt lassen.

Junge Frauen befürchten oft, dass sie gerade als Unternehmerinnen in Start-ups Familie und Beruf dauerhaft nicht miteinander vereinbaren können. Doch das ist eine verengte Perspektive auf die Situation von Gründerinnen; denn natürlich stimmt es, dass gerade am Anfang sehr lang und intensiv gearbeitet werden muss, um erfolgreich zu sein – aber das gilt für viele Spitzenpositionen, insbesondere außerhalb des öffentlichen Dienstes. Auf der Haben-Seite jedoch steht ein viel höherer Grad an Flexibilität der Arbeitszeit und der Arbeitsabläufe, die ja von den Gründerinnen selbst bestimmt und organisiert werden können.

 

Eigentlich hohes Gründerpotenzial

Das Abenteuer der Start-up-Gründung unternehmen überwiegend junge Hochschulabsolventen und Berufseinsteiger mit nur wenigen Jahren Berufserfahrung. Das Durchschnittsalter der Start-up-Gründer liegt laut Start-up Monitor bei 35 Jahren. Im Zentrum der gegenwärtigen und zukünftigen Gründungen steht daher die viel diskutierte Generation Y, also die Jahrgänge, die jetzt Mitte zwanzig bis Anfang dreißig sind. Soziologen und Meinungsforscher überschlagen sich momentan mit Studien, die die unterschiedlichsten Ergebnisse zutage fördern – nicht selten völlig widersprüchliche. Die Skeptiker trauen dieser Generation wenig Durchhaltevermögen im beruflichen Kontext zu und stellen fest, dass ihr selbstbestimmte Lebensentwürfe wichtiger seien als hohe Einkommen.

Das mag für eine Konzernkarriere problematisch sein – Gründer hingegen waren immer schon mehr von der Verwirklichung einer Idee fasziniert als von der Aussicht auf ein hohes Gehalt. Wenn die Studien sich also wenigstens in diesem Punkt nicht täuschen, haben wir es mit einer sehr gut ausgebildeten und mit allen notwendigen Charaktereigenschaften ausgestatteten Generation zu tun, die besser in der Lage sein sollte, erfolgreiche Hightech-Start-ups in Deutschland auf die Beine zu stellen als die vorangegangene Generation. Es gibt gute Gründe, ihr in den kommenden Jahren viel zuzutrauen.

 

Marco Zingler, geboren 1969 in Köln, Partner und Geschäftsführer der denkwerk GmbH (einer der führenden deutschen Digitalagenturen), Sprecher des Fachkreises Full-Service-Digitalagenturen im Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW).

comment-portlet