Ohne Innovationen aus der Raumfahrt wie das globale Navigationssatellitensystem (Global Positioning System, GPS) wären viele selbstverständliche Anwendungen, unter anderem aus dem Bereich der Digitalisierung, unmöglich. Neben der alltäglichen Wegfindung lassen sich Smartphone-Kameras, kratzfeste Brillengläser, Insulinpumpen, kabellose Headsets oder den Fortschritt im Bereich der Prothesen als weitere Beispiele nennen. Selbst der Akkubohrer hat seinen Ursprung in der Raumfahrt. Für die Raumfahrt entwickelte Technologien haben seit jeher den Weg in kommerzielle Anwendungen gefunden. Auch wenn wie im Fall des GPS die ursprünglichen Anwendungen primär militärischer Natur waren, finden sich mit der Zeit unzählige Beispiele des Transfers in den zivil-kommerziellen Bereich. In jüngster Vergangenheit hat sich beispielsweise eine vitale Innovationslandschaft in der Wetter- und Erdbeobachtung sowie der Kommunikation – mit entsprechenden kommerziellen Nutzermodellen in der Landwirtschaft, der Logistik, Internetnutzung und vielem mehr – entwickelt.
Dies ist verbunden mit atemberaubenden wirtschaftlichen Aussichten – ein globaler Markt zwischen 400 und 1.000 Milliarden Dollar wird von Analysten für 2040 vorausgesagt. Aus dem einstigen bipolaren militärischen Wettstreit zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion hat sich mittlerweile ein unipolares Interessenfeld gebildet. Von der wirtschaftlich-militärischen Nutzung der verschiedenen Erdorbits über die Ressourcen des Mondes bis hin zur Besiedelung des Mars haben sich allen voran die USA und China, aber auch aufstrebende Weltraumnationen wie Indien sowie kommerzielle Akteure positioniert. So ist die Finanzierung von Raumfahrt-Start-ups in den USA zehnmal höher als in Europa. Deutschland ist noch abgeschlagen.1
Wirtschaftliche und diplomatische Facetten
Weltraumgestützte Daten, Dienste und Produkte sind eine kritische Infrastruktur (KRITIS), die unser tägliches Leben, unsere Wirtschaft, unsere Sicherheit und unsere wissenschaftliche Forschung erheblich bereichert und beeinflusst. Hierzu zählt neben den sichtbarsten Elementen – Satelliten und Raketen – insbesondere die notwendige Daten- und Kommunikationsinfrastruktur. Das reibungslose Funktionieren nahezu aller weiteren KRITIS, wie Einrichtungen der Verkehrs- und Nachrichtenübermittlung, der Energie- und Wasserversorgung, der Entsorgung und sozialer Infrastrukturen, ist heutzutage von weltraumgestützten Dienstleistungen abhängig. Ein einfaches „Zurückdrehen“ dieser Entwicklungen ist nicht mehr möglich, Beeinträchtigungen führen gleichermaßen zu signifikanten Nachteilen in der Sicherheit sowie der Wirtschaftlichkeit.2
Plausibel nachvollziehbar wird dies bei unseren logistischen Systemen. Satelliten ermöglichen präzise Navigation, Wettervorhersagen, Routenverfolgung und Kommunikation – all dies ist für ein effizientes Transportwesen und das Lieferkettenmanagement unerlässlich. Störungen in der Verfügbarkeit der Daten und Dienste führen direkt zu Verzögerungen, ineffizienten Abläufen, Ausfällen und wirtschaftlichen Verlusten. Weniger offensichtlich sind etwa notwendige Abläufe im globalen Bankensystem. Zeitsignale für sichere Datenübertragung oder zur Synchronisation von Geldtransaktionen werden durch GPS zur Verfügung gestellt.
Dabei haben sich die internationale bemannte Raumfahrt sowie die Nutzung des Weltraums bereits zu Zeiten des „Eisernen Vorhangs“ als Bindeglied der internationalen Gemeinschaft herausgestellt. So stammt der Outer Space Treaty der Vereinten Nationen, die grundsätzliche Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums, des Mondes und anderer Himmelskörper, aus einer Zeit größter Spannungen im Kalten Krieg, nämlich aus den 1960er-Jahren. Mit der bemannten Raumfahrt bestand über die russische Raumstation MIR und die International Space Station (ISS) auch zu Krisen- und Kriegszeiten eine technologische Kooperation zwischen den damals konkurrierenden Supermächten. Entgegen der russischen Aufkündigung nach dem Angriff auf die Ukraine besteht die Kooperation um die ISS zurzeit fort. Die diplomatische Facette der Raumfahrt ist somit ein bedeutendes Element im internationalen Kontext.3
Durch die visionäre Kraft, generelle Begeisterung sowie die offensichtlichen technologisch-wirtschaftlichen Vorteile bilden sich im Kontext der Raumfahrt auch künftig Allianzen, die auf die Weltpolitik ausstrahlen. Genannt sei die Nachfolge der ISS, eine voraussichtlich privatwirtschaftlich gebaute und betriebene Raumstation. Diese Liberalisierung der bemannten Raumfahrt wird, ähnlich wie das aktuelle Rennen um die Kommerzialisierung des Weltraums, einen Zugang für kleinere Nationen schaffen. Ein noch ambitionierteres Programm, die Artemis Accords, verfolgt die Exploration des Mondes und des Mars durch eine internationale Gemeinschaft von Staaten unter der Führung der USA. Unter den inzwischen dreißig Partnerländern befinden sich neben Frankreich, Großbritannien und Italien auch aufstrebende Weltraumnationen wie Indien, Brasilien, und Saudi-Arabien – Deutschland ist im September 2023 als 29. Nation beigetreten,4 im November 2023 folgten die Niederlande und Island.5
Zunehmende technologische Durchlässigkeit
Sei es das ehemalige sowjetische Raumfahrtprogramm oder die enge Kooperation der US-Luftwaffe mit der neugegründeten National Aeronautics and Space Administration (NASA): Der Beginn der Erkundung sowie die Erschließung des Weltraums in den 1950er-Jahren war ebenso zivil wie militärisch geprägt. Während die kommerzielle Nutzung des Weltraums bereits in den 1960er-Jahren mit Telekommunikationssatelliten begann, blieben Systeme zur Navigation oder zur Erdbeobachtung vorerst militärischen Nutzern vorbehalten. Aus heutiger Sicht scheint es unvorstellbar, dass das amerikanische GPS gerade einmal vor weniger als dreißig Jahren in Betrieb genommen wurde und erst seit Beginn dieses Jahrtausends ohne künstliche Signalverschlechterung zivilen Nutzern mit der nun gewohnten Genauigkeit zur Verfügung steht.6
In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich eine zunehmende technologische Durchlässigkeit bezüglich der zivil-militärischen Anwendungen entwickelt. Neben den eingangs genannten Beispielen für diese Transition in Konsumgüter haben sich für alle spürbar auch alltagsverändernde Maßnahmen vollzogen. Google Maps allein verzeichnet eine Milliarde Nutzer pro Monat, womit Smartphone-Anwendungen die Nutzung von Straßenkarten abgelöst haben. Die Verfügbarkeit von Satellitenbildern bereichert nicht nur den internationalen Tourismus. Die Landwirtschaft oder das Krisenmanagement können heutzutage gleichermaßen auf satellitengestützte Daten zugreifen, um wirtschaftliche Erträge umweltschonend zu optimieren.
Dennoch sind die „unendlichen Weiten“ begrenzt. Die drei Stichpunkte „Überfüllt“, „Umkämpft“ und „Wettbewerbsintensiv“ beschreiben die aktuellen Entwicklungen in der Raumfahrt. Mehr als 500.000 verfolgbare Schrottteile und fast 7.000 aktive Satelliten stellen eine Herausforderung für die Raumfahrt, vergleichbar mit dem internationalen Flugverkehr, dar. Mit dem 2009 aufgestellten ressortgemeinsamen Weltraumlagezentrum und dessen Integration in das Weltraumkommando der Bundeswehr (2021) hat sich Deutschland sicherheitspolitisch positioniert. Im Rahmen eines europäischen Ökosystems wird angestrebt, eine Überwachungsinfrastruktur aufzubauen und nationale Anstrengungen zu konsolidieren.7
„Wild Wild West“ – Goldrausch im Weltall
Die aktuelle Dynamik in der Raumfahrt wird allgemeinhin mit einer Person, Elon Musk, und zwei seiner Firmen – SpaceX und Starlink – in Verbindung gebracht. Als Rollenmodell der Privatisierung gelang es seit 2002, die Transportkosten in das Weltall um neunzig Prozent zu reduzieren. In den vergangenen drei Jahren hat Starlink die weltweit größte Flotte von zurzeit circa 5.000 Satelliten aufgebaut. Diese Erfolgszahlen und Meilensteine sind auch auf umfangreiche staatliche Unterstützung, unter anderem durch die NASA oder das amerikanische Verteidigungsministerium, zurückzuführen. Die wirtschaftliche Tragfähigkeit von Starlink muss sich trotz eines Jahresumsatzes von 1,4 Milliarden Dollar (Stand 2022) noch beweisen.8
Durch den derzeitigen Ausfall europäischer Transportkapazitäten ins All und die langen Vorlaufzeiten europäischer Weltraumprogramme führt dies zu Quasimonopolen amerikanischer Unternehmen in der westlichen Raumfahrt. Längst hat sich der lukrative Wettlauf um die vorderen Plätze einer künftigen Raumfahrt vom europäischen Kontinent entkoppelt. Diese Ambitionen spiegeln sich unter anderem in den geplanten kommerziellen Internetkonstellationen wider, von denen in 2021 nur eine von zehn europäischen Ursprungs war. Öffentlich wurde dies noch sichtbarer durch die erfolgreiche Mondlandung der indischen Raumsonde Chandrayaan-3 Ende August 2023 mit einem geschätzten Budget von „nur“ 75 Millionen Dollar.9
Staatliche Ankerverträge und kommerzielle Interessen bilden den Rahmen für die neue Dynamik in der Raumfahrt. Durch die Steuerung über Leistungsvorgaben und das Setzen von Standards ist ein neues Innovationsumfeld entstanden, das eine schnellere Erneuerung von Einzeltechnologien zulässt, aber auch kleinen und mittelständischen Unternehmen die Möglichkeit zur Teilhabe bietet. Beispielhaft kann man dies an der amerikanischen Space Development Agency (SDA) sehen – über aufeinander folgende Ausschreibungslose wird hier ein resilientes, nationales Weltraum-Ökosystem aufgebaut.10 Dieses umfasst das gesamte Spektrum von Aktivitäten, Einrichtungen und die Nutzung von Ressourcen zur Schaffung von Werten sowie Vorteilen.
Ein deutsches Weltraum-Ökosystem
Nationale Hochtechnologie, internationale Umsetzungsbeispiele, Start-ups und traditionelle Akteure, nationale und europäische Strategien sind vorhanden. Deutschland hat dennoch Schwierigkeiten in der Umsetzung. Vergleichbar mit dem bekannten Erfolgsmodell der Automobilindustrie könnte ein deutsches Weltraum-Ökosystem, eingebettet in die europäischen Anstrengungen, zu einer Schlüsselindustrie für die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands werden. Neue, teilweise gegeneinander konkurrierende Strukturen und Einrichtungen werden hier jedoch nur bedingt helfen.
Erstens, und das ist alternativlos, sind staatliche Anschubfinanzierungen in ausreichender Höhe notwendig, die auf einen übergeordneten strategischen Willen gründen, die Raumfahrt im gesamtstaatlichen Sinne voranzubringen. Die USA sowie zuletzt Frankreich und Großbritannien zeigen, wie mit staatlichen Programmen eine Investitionskultur geschaffen wird, die auch Risikokapital langfristig anzieht. Frankreichs militärisches Weltraumprogramm in Milliardenhöhe und das britische Programm, das sich stark auf den kommerziellen Raumtransport sowie eine Kommunikationsinfrastruktur stützt, sind Treiber im europäischen Raum. Deutsche Forschungs- und Demonstrationsmissionen nach aktuellem Beispiel des Raumfahrtforschungsprogramms können eine vergleichbare Dynamik nicht entfalten.
Zweitens muss ein starres Förder- und Beschaffungssystem mit erwartbaren Kostenüberläufen durch ein risikomanagendes Innovationssystem und regelmäßige Technologieerprobungen sowie -transfers abgelöst werden. Hier helfen die technologischen Fortschritte und Konzepte, die oft unter einem New Space-Ansatz zusammengefasst werden. Am Beispiel einzelner deutscher Technologiemissionen lässt sich zeigen, dass schrittweise, Risiko zulassende Ansätze wertvoller für einen kontinuierlichen Technologietransfer und ein wirtschaftliches Ökosystem gewesen wären als einzelne, risikoaverse Missionen.
Drittens sollten aufkommende Herausforderungen rechtzeitig erkannt und im europäischen Zusammenspiel in wirtschaftliche Opportunitäten verwandelt werden, statt mit singulären Regulierungen gegensteuern zu wollen. Ein gutes Beispiel ist die nachhaltige Nutzung des Weltraums. Nur ein Bruchteil der künftigen Weltrauminfrastruktur wird europäisch sein, die Bedrohung durch Weltraumschrott gefährdet jedoch die Nutzung des Weltraums durch künftige Generationen. Hier hat Deutschland unter anderem mit seinem Radar- und Lasertechnologieökosystem eine einzigartige Position, um kosteneffiziente Lösungen erfolgreich kommerzialisieren zu können.
Schlussendlich benötigt Deutschland für eine aktive Teilhabe an den aktuellen Entwicklungen ein modernes, bürokratiearmes Regelungswerk, das von einem pragmatischen Weltraumgesetz bis hin zu dem erwähnten Förder- und Beschaffungsmanagement reicht. Angepasst an das deutsche Recht, können bestehende Erfolgsmodelle Vorbild sein. So haben sowohl Neuseeland als auch Großbritannien die wesentlichen Standards der amerikanischen Behörden erfolgreich übernommen. Ein deutscher Sonderweg bietet sich bei diesem inhärent globalen Themenkomplex nicht an.
Christoph Müller, geboren 1984 in Görlitz, Head of Hypersonic Solutions des europäisch und global agierenden Unternehmens der Verteidigungsindustrie MBDA Deutschland GmbH, Vice-Chairman, NATO Applied Vehicle Technology Panel.
Dirk Zimper, geboren 1985 in Stendal, Director Future Systems und Mitglied der Geschäftsleitung, MBDA Deutschland GmbH.
1 Giacomo Gatto et al.: „Strengthening collaboration in the European space ecosystem“, McKinsey & Company, 22.06.2022, www.mckinsey.com/industries/aerospace-and-defense/our-insights/strengthening-collaboration-in-the-european-space-ecosystem [letzter Zugriff: 09.10.2023].
2 Stew Magnuson: „ANALYSIS: Acknowledging Space Systems as ‚Critical Infrastructure‘“, in: National Defense Magazine, 05.10.2022, www.nationaldefensemagazine.org/articles/2022/5/10/acknowledging-space-systems-as-critical-infrastructure [letzter Zugriff: 09.10.2023].
3 Deutsche Welle: „US renews space flight cooperation with Russia for ISS“, 15.07.2022, www.dw.com/en/us-renews-space-flight-cooperation-with-russia-for-iss/a-62494587 [letzter Zugriff: 09.10.2023].
4 SPIEGEL Wissenschaft: „Deutschland tritt Raumfahrtabkommen der Nasa bei“, 15.09.2023, www.spiegel.de/wissenschaft/weltall/artemis-accords-deutschland-tritt-raumfahrt-abkommender-nasa-bei-a-f4e35e62-0a94-4cf6-b945-f76761babf50 [letzter Zugriff: 09.10.2023].
5 Jeff Foust: „Netherlands and Iceland sign Artemis Accords“, in: SpaceNews, 02.11.2023, https://spacenews.com/netherlands-and-iceland-sign-artemis-accords/ [letzter Zugriff: 14.11.2023].
6 Aerospace Corporation: „A brief history of GPS“, https://aerospace.org/article/brief-history-gps [letzter Zugriff: 09.10.2023].
7 ESA Space Debris Office: ESA’s Annual Space Environment Report 2023, 12.09.2023, S. 18 ff.
8 Micah Maidenberg / Rolfe Winkler: „Starlink Surges but Is Still Far Short of SpaceX’s Goals, Documents Show“, in: The Wall Street Journal, 13.09.2023, www.wsj.com/tech/spacexs-starlink-demonstrates-its-power-but-still-needs-growth-9906c5b0 [letzter Zugriff: 09.10.2023].
9 Saheeb Ahmed Kayani: „Moon landing: India’s home-grown tech cut the costs“, in: Nature, 621. Jg., 14.09.2023, S. 258.
10 Chris Gordon: „Speed, Cost, Performance – In That Order – Key to SDA’s Successful Tranche 0 Launch, Director Says“, in: Air & Space Forces Magazine, 03.04.2023, www.airandspaceforces.com/sda-successful-tranche-0-launch/ [letzter Zugriff: 09.10.2023].