Im März 2022, einen Monat nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, verunsicherte ein gefaktes Video die Welt. Darin verkündete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Kapitulation der Ukraine und forderte die ukrainischen Soldaten zur sofortigen Niederlegung der Waffen auf. Das Video war von Unbekannten hochgeladen worden und verbreitete sich innerhalb weniger Stunden millionenfach. Anhand von Daten aus bereits existierenden Videos des Präsidenten hatten sie mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) die Sequenz einer Szene künstlich hergestellt, die nie stattgefunden hatte, aber das Potenzial besaß, die Geschichte zu beeinflussen.
Der technologische Fortschritt der KI-Anwendungen vereinfacht es immer mehr, solche Deep Fake-Videos zu erstellen, was ethische und sicherheitsrelevante Fragen aufwirft. Doch dieser einseitig dystopische Blick auf diese Technologie wird ihr nicht gerecht.
Künstliche Intelligenz gilt als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts mit enormen Potenzialen für Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. Sie ermöglicht die Analyse großer Datenmengen, die Gewinnung strukturierter Informationen und damit die Sicherstellung von mehr Effizienz und Qualität. Dies trägt zu Innovationen in verschiedenen Bereichen wie Gesundheit, Mobilität, Energie, Produktion oder Bildung bei. KI kann auch bei der Bewältigung von globalen Herausforderungen wie denen des Klimawandels oder der Pandemiebekämpfung unterstützen.
Maschinelles Lernen und Deep Learning
Welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich für Gesellschaft, Staat und Wirtschaft, wenn alle Lebens- und Arbeitsbereiche sukzessive von KI durchdrungen werden und ihre Auswirkungen Gegenstand einer gesamtgesellschaftlichen Debatte geworden sind? Welche Chancen und Potenziale bietet KI für Deutschland und Europa? Neben positiven Effekten sind – wie bei allen technischen Fortschritten – auch Risiken und ethische Aspekte zu bedenken. Im Mittelpunkt steht dabei die Verantwortung der Politik heute, damit KI morgen eine Bereicherung und ein fester Bestandteil einer freien, demokratischen und aufgeklärten Gesellschaft werden kann.
Der Begriff „Künstliche Intelligenz“ umfasst einerseits das Maschinelle Lernen und andererseits das Deep Learning. Beide Disziplinen konzentrieren sich auf die Entwicklung von Algorithmen (einer endlichen Folge von Anweisungen, die zu einem bestimmten Ziel führen soll), die Entscheidungsprozesse des menschlichen Gehirns nachahmen und Wahrscheinlichkeiten aufzeigen.
Maschinelles Lernen ist ein Ansatz innerhalb der KI, bei dem Algorithmen darauf trainiert werden, Muster in Daten zu erkennen und auf dieser Grundlage Entscheidungen zu treffen. Deep Learning ist eine spezielle Form des Maschinellen Lernens, die auf künstlichen neuronalen Netzwerken basiert und besonders effektiv bei der Verarbeitung großer Datenmengen und komplexer Muster ist. Der wesentliche Vorteil beider Disziplinen liegt darin, dass sie im Laufe der Zeit immer genauere Vorhersagen treffen können. Das bedeutet, dass sich die Algorithmen kontinuierlich verbessern, indem sie mehr Daten und Erfahrungen verarbeiten. Ein Beispiel dafür ist die Autovervollständigung beim Schreiben einer Nachricht auf dem Handy, die sich mit der Zeit dem eigenen Schreibstil anpasst. Eine lernende Künstliche Intelligenz macht dies möglich. KI kann jedoch nur die Informationen verarbeiten, die sie erhält, und nichts Neues erschaffen – das bleibt dem Menschen vorbehalten.
Künstliche Intelligenz im Alltag
In der breiten Öffentlichkeit hat sich KI vor allem im kreativen Bereich und in den sozialen Medien etabliert. KI-Tools finden zunehmend Anwendung bei Instagram, TikTok und Facebook. Laut dem jährlichen Global Risk Report des Weltwirtschaftsforums gehören Fehlinformation und Desinformation zu den neuen Spitzenreitern der nach Schweregrad geordneten Risiken im Jahr 2024. Beides hat durch KI in Form von ChatGPT und ähnlichen Tools enorm zugenommen. Vor allem KI-generierte Desinformation von Personen und Institutionen mit großer Reichweite stellen eine Bedrohung für das gesellschaftliche Klima dar. Das können einerseits künstlich erzeugte, etwa gefälschte pornografische Bilder sein, die jede Person betreffen können, andererseits aber auch gezielte Desinformation von staatlichen Akteuren totalitärer Regime, die KI beispielsweise zur Verbreitung von Propaganda nutzen. Interessanterweise können KI-Tools selbst Teil der Lösung sein: Social-Media-Plattformen nutzen inzwischen KI, um Fake News automatisch zu identifizieren. Auch der Einsatz sogenannter Wasserzeichen wird diskutiert, um KI-generierte Inhalte zu erkennen und herauszufiltern. Bildung und Aufklärung der Menschen über KI und deren Potenziale sind für einen verantwortungsvollen Umgang essenziell.
In Politik und Wirtschaft fehlt es oft noch am Mut, das Zukunftspotenzial von KI zu erkennen und zu nutzen. Laut einer Bitkom-Studie halten 69 Prozent der deutschen Unternehmen KI für die wichtigste Zukunftstechnologie; dennoch zögern viele (vor allem kleine und mittelständische) Unternehmen in Deutschland bei ihrem Einsatz. Gründe dafür sind etwa fehlendes Wissen, personelle und finanzielle Ressourcen oder Zeitmangel. Dabei sind die wirtschaftlichen Potenziale enorm: Der Einsatz von KI ermöglicht es Unternehmen, Probleme präzise zu analysieren, Prozesse zu beschleunigen, den Fachkräftemangel zu reduzieren, menschliche Fehler auszugleichen und zusätzliches Expertenwissen zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus können sich Beschäftigte durch KI auf kreativere Aufgaben konzentrieren, statt lästige Routineaufgaben zu erledigen.
Am Beispiel der Automobilbranche zeigt sich, wie KI-Systeme riesige Datenmengen aus verschiedenen Produktionsschritten in Echtzeit analysieren, um potenzielle Fehler bei der Produktion frühzeitig zu erkennen und zu beheben. KI-Programme unterstützen Ärzte bereits heute – etwa bei der Erkennung von Hautkrebs. Auch im Finanzsektor können Betrugsfälle frühzeitig erkannt werden, da auffällige Transaktionsdaten und ungewöhnliche Muster aufgedeckt werden. Besonders stark wird KI in der Servicebranche genutzt: Ob Reiseportale, Krankenkassen oder Telekommunikationsanbieter – im Online-Chat mit einer Künstlichen Intelligenz beantwortet sie Fragen.
Datenverfügbarkeit, Datenqualität und Datensouveränität
Für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft ist es wichtig, frühzeitig Anstrengungen zu unternehmen, um mit dem technologischen Fortschritt nicht nur mitzuhalten, sondern ihn auch gezielt zu nutzen. Länder wie Estland zeigen schon jetzt, welches Potenzial in KI für beschleunigte Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie bürgerfreundlichere Verwaltungsdienstleistungen steckt. Intelligente Verkehrsmanagementsysteme sind zudem für die Logistik ein Gewinn. Sie optimieren den Verkehrsfluss, indem sie Verkehrsdaten in Echtzeit auswerten und adaptive Signalanlagen so steuern, dass Staus minimiert und der Verkehrsfluss verbessert wird. Sensoren und Drohnen überwachen kontinuierlich Straßen, Brücken und Schienen, wodurch KI-Algorithmen Verschleiß und Schäden frühzeitig erkennen und notwendige Wartungsarbeiten vorhersagen können.
Deutschland verfügt schon heute über eine starke Forschungs- und Industriebasis im Bereich KI und hat das Potenzial, zu einem weltweit führenden Standort für KI zu werden. Einrichtungen wie das Gauss Centre for Supercomputing bieten die leistungsfähigste Supercomputing-Infrastruktur Europas, um wirtschaftlich wettbewerbsfähig zu bleiben und technologische Souveränität zu erhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, dass Deutschland gemeinsam mit Europa seine Souveränität im KI-Bereich stärkt und seine Abhängigkeit von ausländischen Anbietern und Plattformen reduziert. Datenverfügbarkeit, Datenqualität und Datensouveränität spielen hierbei eine Schlüsselrolle.
Die Beispiele verdeutlichen, wie Künstliche Intelligenz bereits heute unser alltägliches Leben erleichtert. KI ist gekommen, um zu bleiben. Ihre Potenziale sind bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Der technologische Fortschritt war und ist ein wichtiger Pfeiler unseres Wohlstands. Nun liegt es an uns, diesen Fortschritt auch in Zukunft zu erhalten und zur Bewältigung der drängenden Herausforderungen – etwa für den Abbau von Bürokratie, die Bewältigung des Fachkräftebedarfs oder die verbesserte Diagnosetechnik in der Medizin – zu nutzen. Wichtig dabei ist, dass im Zuge dieser technologischen Entwicklung alle Menschen zu einem selbstbestimmten Umgang befähigt werden.
Förderung mit Tempo und Technologieoffenheit
Diese Forderungen werden in der Politik allerdings noch nicht von allen Parteien geteilt. In weiten Teilen überwiegt die Angst vor Veränderungen. Für die Unternehmen in Deutschland ist es jedoch entscheidend, dass die politische Förderung von Künstlicher Intelligenz mit Tempo und Technologieoffenheit erfolgt. Sie benötigen im globalen Wettbewerb einerseits genügend Freiraum, um Marktchancen früh zu erkennen und zu nutzen, Planungssicherheit, um Innovationen, Forschung und Entwicklung zielführend vorzunehmen, und Kontinuität, um strategische Partnerschaften zu bilden. Andererseits brauchen sie in einem nächsten Schritt praxisnahe Spielregeln. Die Europäische Union hat mit ihrer KI-Verordnung eine Grundlage geschaffen, die nun durch die Bundesregierung umgesetzt werden muss.
Darüber hinaus sollte die Politik mit einem ganzheitlichen Ansatz, der Gesellschaft und Unternehmen einbindet und Vertrauen schafft, strukturiert KI fördern. Dies gelingt nicht durch Verbote, sondern durch Transparenz und Nachvollziehbarkeit sowie die Einführung von Standards oder Normierungen. Die Algorithmen, auf denen ein Teil des Unternehmenswerts basiert, bringen eine gesellschaftliche Verantwortung mit sich, der sich diese – teils sehr jungen – Unternehmen stellen müssen. Eine Standardisierung, zum Beispiel in den Bereichen Datenschutz, Bias-Vermeidung bis hin zur Vertrauenswürdigkeit von Nachrichtenquellen, und dies bereits in der Designphase, könnte ebenfalls Vertrauen in die Technologie schaffen. Es liegt also an uns, Künstliche Intelligenz nicht nur zielgerichtet und sinnvoll einzusetzen, sondern auch für ein breites, praktisches Anwendungsfeld zu sorgen.
Florian Müller, geboren 1987 in Attendorn, Stellv. Vorsitzender der Jungen Gruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Catarina dos Santos-Wintz, geboren 1994 in Lissabon, Mitglied des Ausschusses für Digitales sowie der Jungen Gruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.