Es gibt ein Unwort in der deutschen migrationspolitischen Diskussion: das der „Gastarbeiterpolitik“. Diese gilt – je nach politischem Stand punkt – als bedauerlicher Ausgangspunkt des Wandels von Deutschland zu einem Einwanderungsland oder als Beginn eines (bis heute andauernden) staatlichen Versagens im Umgang mit Integration und Migration. Hier soll aber nicht auf die Berechtigung dieser Vorwürfe eingegangen, sondern das „politisch links wie rechts“ geächtete Konzept der „Gastarbeiterpolitik“ neu und mit Bezug auf eine der zentralen innen und europapolitischen Herausforderungen dieser Zeit diskutiert werden.
Als gesichert kann mittlerweile gelten, dass 2015 der bisherige Höchstwert der Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylbewerbern aus dem Jahr 1992 deutlich übertroffen werden wird; das Bundesministerium des Innern geht von bis zu 800.000 Asylbewerbern aus, gegenüber dem Wert von 1992 wäre dies fast eine Verdopplung. Unter den Antragstellern sind zahlreiche Menschen aus Herkunftsländern mit hohen Anerkennungsquoten (etwa Syrer und Eritreer), daneben aber auch immer mehr Personen ohne realistische Aussicht, in einem Verfahren als schutzbedürftig anerkannt zu werden. Die Herkunftsländer dieser Gruppe liegen hauptsächlich auf dem Westbalkan.
Wie soll man nun politisch mit einer Zuwanderergruppe umgehen, die offensichtlich (fast zu 100 Prozent) nicht schutzbedürftig im Sinne des Asyl rechts ist, aber angesichts der (ebenfalls offensichtlichen) Armut und der wirtschaftlich desaströsen Lage in den Herkunftsländern sich gezwungen sieht, den (scheinbar) alternativen Asylpfad als Exit-Route aus ihren Herkunftsländern zu wählen? Politisch diskutiert werden neben eher defensiv angelegten Instrumenten wie einer Ergänzung der Liste sicherer Herkunftsländer zur Verfahrensbeschleunigung auch Maßnahmen, Personen aus diesen Ländern unabhängig von ihrem Qualifikationsniveau und ihrer Branchenzugehörigkeit bei Vorliegen eines Arbeitsvertrags ohne weitere Beschränkungen nach Deutschland zuwandern zu lassen. Gerade dieser Vorschlag ist allerdings bei genauerer Betrachtung mit einige n Problemen verbunden.1 Nicht zuletzt würde damit die Systematik des in den letzten Jahren umfassend reformierten deutschen Aufenthaltsgesetzes, das im Bereich der Arbeitsmigration laut OECD mittlerweile zu den offensten der gesamten OECD-Welt gehört, infrage gestellt.
Aus den früheren Erfahrungen mit Arbeitsmigranten lernen
Vielversprechender und auch realistischer erscheint deshalb eine Rückkehr zu einer echten und auf zwei Grundsätzen basierenden „Gastarbeiterpolitik“, in deren Rahmen Menschen aus wirtschaftlich armen Ländern, die die Bedingungen des in Deutschland in den letzten fünfzehn Jahren massiv liberalisierten Arbeitsmigrationsrechts (noch) nicht erfüllen können, die Möglichkeit erhalten, über Sonderprogramme zum Zweck der Erwerbstätigkeit befristet nach Deutschland zu kommen. Auch die in Deutschland zwischen 1955 und 1973 existierenden „Gastarbeiterprogramme“ wiesen implizit – zumindest zu Beginn – durchaus eine starke entwicklungspolitische Komponente auf. Es waren zunächst die Herkunftsländer, die die Initiative ergriffen und die damalige deutsche Bundesregierung zum Abschluss solcher Programme drängten. Sie erhofften sich neben einer Entlastung der heimischen Arbeitsmärkte vor allem einen Devisenimport durch Rücküberweisungen.2
Vor allem auf Druck der deutschen Arbeitgeber wurden die zunächst als temporäre Maßnahmen angelegten Anwerbeverträge relativ bald sukzessive entfristet mit der Folge, dass sich eine hohe Zahl der als „Gastarbeiter“ angeworbenen ausländischen Arbeitskräfte in Deutschland niederließ. Der 1973 erlassene Anwerbestopp führte schließlich zu weiterer Niederlassung und zum Nachzug der Familien. Aus den Erfahrungen dieser ersten (zwar temporär angelegten, allerdings so nicht umgesetzten) Arbeitsmigrationsprogramme ließe sich nun im Rahmen der hier vorgeschlagenen „Gastarbeiterprogramme“ mit ausgewählten Ländern des Westbalkans in zweierlei Hinsicht lernen.
Erstens: Migrationsprogramme, die eine starke entwicklungspolitische Komponente aufweisen und einen Beitrag zur viel beschworenen Bekämpfung von (asylrechtlich nicht relevanten) Fluchtursachen leisten sollen, sollten zunächst als temporäre Programme angelegt werden. Zum einen lässt sich nur durch eine strikte Befristung sicherstellen, dass der erhoffte Entwicklungseffekt nicht nur über finanzielle Rücküberweisungen während des Aufenthalts der „Gastarbeiter“ in Deutschland3, sondern auch über einen „Human und Sozialkapitaltransfer“ erfolgen kann, der eine zumindest temporäre Rückkehr voraussetzt. Nach Ablauf der beispielsweise auf zwei Jahre begrenzten Maximalaufenthaltsdauer sollte also eine Rückkehr in das Herkunftsland erfolgen (müssen); damit verbindet sich die Hoffnung, dass das angesparte finanzielle Kapital sowie die in Deutschland neu erworbenen Kenntnisse und Kontakte im Herkunftsland sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene gewinnbringend eingesetzt werden können. Dies könnte sich zum Beispiel in der Gründung von Unternehmen und in der Intensivierung bereits bestehender Handelskontakte niederschlagen. Zum anderen könnte eine befristete Anlage solcher Programme zu größerer Akzeptanz einer weiteren Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Drittstaatsangehörige beitragen.
Zweitens: Lehrreich ist die Geschichte der „Gastarbeiterpolitik“ allerdings auch hinsichtlich des 1973 erlassenen Anwerbestopps, der sich entgegen seiner Intentionen zu einer Maßnahme der Förderung von dauerhafter Zuwanderung und Niederlassung entwickelt hat. Das Zuwanderern damals vermittelte Signal einer kategorischen Schließung des deutschen Arbeitsmarktes und des Auslaufens von künftigen Zuwanderungsoptionen führte dazu, dass der Rückkehrwunsch vieler nicht realisiert wurde und ein ursprünglich temporär befristet angelegter Aufenthalt in einen Daueraufenthalt samt Familiennachzug mündete. Ein neues entwicklungspolitisch angelegtes „Gastarbeiterprogramm“ sollte daher auf keinen Fall statisch als einmalige Einreise- und Aufenthaltsoption angelegt sein, sondern vielmehr die Möglichkeit bieten, nach erfolgter Rückkehr in das Herkunftsland (und einer gewissen Karenzzeit) erneut nach Deutschland einzureisen, um erneut einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.
Zirkuläre Migrationsprogramme
Auf europäischer Ebene, aber auch in Deutschland etwa werden solche Programme bereits seit einiger Zeit unter dem Stichwort der zirkulären Migration beziehungsweise der Mobilitätspartnerschaften diskutiert. In Deutschland wurde ein auf vier Jahre angelegtes Programm entwickelt, in dessen Rahmen bis zu 2.000 ausgebildete Krankenpflegekräfte aus Serbien, Bosnien Herzegowina, den Philippinen und Tunesien nach Deutschland vermittelt werden sollen. Um die Idee zirkulärer Migrationsprogramme für die derzeitigen asyl- und flüchtlingspolitischen Herausforderungen nutzen zu können, sollten künftige Programme im Sinne einer echten „Gastarbeiterpolitik“ aber nicht auf Engpassberufe (wie etwa im Bereich der medizinischen Heilberufe) beschränkt bleiben; es wäre vielmehr sinnvoll, berufs- und qualifikationsgruppenübergreifend einer signifikanten Zahl von Personen aus den Ländern des Westbalkans den Weg nach Deutschland als Arbeitnehmer zu öffnen.4 Die in den jetzigen Programmen noch stark ausgeprägte (und prinzipiell durchaus legitime) Fokussierung auf in Deutschland stark nachgefragte Fachkräfte in Mangelberufen würde dann durch eine stärker herkunftsländer-orientierte Perspektive modifiziert werden und damit für die Angehörigen der Staaten, die derzeit besonders häufig als „chancenlose Asylbewerber“ nach Deutschland kommen, interessant werden. Damit verbindet sich die Erwartung, dass durch entsprechende Optionen einer temporären Beschäftigung in Deutschland – einschließlich der Pflicht zur Rückkehr und der Möglichkeit späterer erneuter Einreise – ein Beitrag zu wirtschaftlicher Entwicklung des Westbalkans und damit zur Bekämpfung der Fluchtursachen geleistet werden kann.
Holger Kolb, geboren 1977 in Fürstenfeldbruck, Leiter des Arbeitsbereichs Jahresgutachten des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration.
[1] Ein solcher Weg würde grundsätzlich den schwedischen Weg der Arbeitsmigrationspolitik beschreiten; auf die dort auftretenden Probleme wird im Jahresgutachten 2015 des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Migration und Integration (SVR) hingewiesen. Vgl. SVR (2015), Unter Einwanderungsländern: Deutschland im internationalen Vergleich, Berlin.
[2] Vgl. dazu exemplarisch: Ulrich Herbert (2001): Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, München, S. 203.
[3] Als empirisch vielfach belegt zu berücksichtigen ist dabei auch, dass finanzielle Rücküberweisungen im Zeitverlauf tendenziell abnehmen.
[4] Ohne an dieser Stelle die Höhe entsprechender „Gastarbeiterkontingente“ benennen zu können (und zu wollen), wird allein durch die derzeitige Dimension des Asylzuzugs aus diesen Ländern deutlich, dass nur umfangreiche und großflächig angelegte Programme wirkungsvoll sein können. 2015 werden in Deutschland 200.000 bis 300.000 Asylbewerber aus den Ländern des Westbalkans erwartet.