Dass der rote Stern über Ostberlin, Warschau, Prag, Sofia, Bukarest, Budapest, Belgrad oder Tirana, später sogar über dem großen Kreml erlosch – noch dazu durch das Votum des Volkes, meist ohne dass ein Schuss fiel –, hat die Welt als Wunder erfahren. Der hermetische Ostblock war gefallen, der Startschuss für ein wiedervereinigtes Europa, für eine Freiheit ohne Feindbild, die alle Phrasen „für abgestanden erklärt“.
Längst ist allerdings der Eindruck entstanden, diese Freiheit welke wieder dahin. Ihre erste Einengung geschah mit den von höhnischem Geschrei begleiteten Angriffen auf ein Ausländerwohnheim in Rostock-Lichtenhagen zwischen dem
22. und 26. August 1992. Die Wiederaufnahme nationalsozialistischen Gedankenmülls traf die Öffentlichkeit wie ein Schock. Die Ceska-Mordserie (oder NSU-Mordserie) der Jahre 2000 bis 2006 steigerte ihn noch.
Dabei hat nicht die sanfte Revolution diese bedrohlichen Kräfte ausgelöst. Schon in der DDR hatten sie ein Klima, in dem sie gedeihen konnten. Nur wurde alles getan, um diese Tendenzen totzuschweigen. Als Neonazis am 17. Oktober 1987 die Besucher eines Punk-Konzerts in der Ost-Berliner Zionskirche überfielen, ließ sich das Geschehen allerdings nur noch notdürftig bemänteln. So stellte das FDJ-Zentralorgan Junge Welt in seinem Kommentar vom 12./13. Dezember 1987 die Schläger mit der politischen Opposition auf eine Stufe.
Unverhandelbare Schuldfrage
Die DDR sah sich „als Nachfolgerin des antifaschistischen Widerstandes der KPD“. Uns, die wir in den 1970er-Jahren als Jugendliche aufwuchsen, hatte man zu verstehen gegeben, dass es demzufolge überhaupt keine „Schuldfrage“ geben könne. Diese eindimensionale Antwort stillte unseren Wissensdurst zwar nicht, aber wir hatten Angst, zu weit zu gehen. Der verborgene Staat, die Stasi, schlug wie ein Blitz in alle möglichen Oppositionsnester ein. Bevor wir hätten anfangen können, die „Schuldfrage“ auseinanderzunehmen, hätten wir uns mit dem Strafgesetzbuch auseinandersetzen müssen, was ich getan habe, als es notwendig wurde, die DDR zu verlassen.
Das von Grund auf mulmige Gefühl, in das man als DDR-Bürger hineingeboren wurde, entstand dadurch, dass es kein Selbstwertgefühl außerhalb der Selbstlegitimation des Staates geben sollte. Jedes Jahr hieß es an Silvester: Es muss besser werden, das kann nicht so bleiben. Bei zu viel Bowle auch gern gesungen zu Akkordeon und Gitarre.
Die Schuldfrage war unverhandelbar, die braune Zeit wurde am laufenden Band wortreich totgeschwiegen. In der Erinnerung des Zeitzeugen „Jan“ aus der rechten Szene in Berlin-Bohnsdorf (O-Ton aus dem Radiofeature „Hass auf Heimat“) gab es nur „Russen, Russen, Russen“. Jans Vater war ein hoher Stasioffizier, arbeitete als politischer Berater im Politbüro und sah tatenlos zu, wie Jan sich Zugang zur nationalsozialistischen Literatur verschaffte und beispielsweise die Tagebücher von Joseph Goebbels „verschlang“. Wie Jan gab es Tausende; über seine Schule sagte er: „… natürlich waren wir rechts, wir waren alle rechts.“
„Die Neonazis“, erklärte Bernd Wagner, Leiter des Rechtsextremen-Aussteigerprogramms „EXIT-Deutschland“, „sahen in der DDR … ’ne passable Konstruktion, die eher verwandt war mit dem Nazi-Reich, dem alten, so von der gesellschaftlichen Aufbaustruktur her. Und auch bestimmte Mentalitätsbestände fanden die also gar nicht so schlecht, aber das hätte durchgesiebt werden müssen, durchgewaschen … Dann wäre das also ’ne gute Sache gewesen. Also ’ne Art dritter Weg. Also jenseits vom westdeutschen Kapitalismus.“ (Bernd Wagner, in: Axel Reitel, Hass auf Heimat – die rechte Opposition der DDR, Radiofeature, MDR 2011. Nachzuhören: https://www.youtube.com/watch?v=0ByUAwf55nI. Dazu bitte auch das Radiointerview des Autors über das Feature „Hass auf Heimat“ DDR-Rechtsextremismus: https://www.youtube.com/watch?v=CmPqGQMLbrk)
Die Rechten waren „sauber“ gekleidet
Anders als die bärtigen Oppositionellen und später die Punks waren die Rechten „sauber“ gekleidet. In der Situation eines extremen Umbruchs boten sie bekannte Konstrukte der klaren Kante. So fanden sie auf dem Weg von 1987 bis 1992 rechts der Elbe ein Ostdeutschland, in dem sie Gesinnungsgewinne zu verzeichnen hatten. Diese Entwicklung hatte einen faden Beigeschmack. Das Drama der scheinbar „Abgehängten“ begann mit einem Getöse, das nicht variabler, sondern immer nur lauter wurde. Es steht in einem krassen Gegensatz zu den Einstellungen: Beim Durchrechnen der Gruppengröße der Rechtsextremisten zur Bevölkerung kam eine Summe von 0,3 Prozent heraus.
Das war verschwindend gering, aber die Rechten waren laut und zogen mit ihren Parolen vor laufenden Kameras über unsere Bildschirme, gestützt durch die Rechtsprechung, wie etwa durch das unteilbare Demonstrationsrecht. Die heutigen Debatten um Pegida und den „unverstandenen Osten“ sind von einer wesentlich variableren politischen Auseinandersetzung geprägt.
Spaltung und Dialog
Dabei schafft einerseits der unter dem Begriff „Osten“ firmierende untergegangene Staat fast automatisch den Eindruck eines Spuks. Dass dies nicht nur überzogen ist, sondern schlichtweg nicht der Wahrheit entspricht, erfährt jeder, der dorthin reist und Land und Leute genießt. Andererseits zeigten geschmacklose Galgen und Stricke auf zurückliegenden Pegida-Demonstrationen – gemünzt auf führende Politiker – die Wiederauferstehung des verronnen geglaubten Zeitgeistes vom „verhinderten Dialog“ (Siegfried Reiprich), der über vierzig Jahre lang diese Gebiete beherrschte.
Böse Zungen behaupten, die ostdeutsche Gesellschaft kranke noch immer daran und sei seither traumatisch gespalten. Befragte Therapeuten sprechen von einem
„Gefühl, dass sehr viele Emotionen im Raum sind“. Das Thema „Ausländer“ hatte längst verstrittene Lager produziert. Wie dem demokratiefördernd entgegengetreten werden kann, wurde bei einem strukturierten Dialog-Treffen zwischen Pegida-Anhängern und ihren Kritikern gezeigt.
Als sich diese im Januar 2014 in der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung trafen, riet der Politikwissenschaftler Werner Patzelt „von pauschalen Verurteilungen ab“. Mithilfe der „Fishbowl“-Methode, einer Technik aus der Sozialpädagogik, kamen die Gäste tatsächlich miteinander ins Gespräch. Ein Artikel aus den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 9. September 2015 gibt einen Eindruck von der Stimmung dieses Abends: „‚Sind wir denn Feinde? Ich fühle mich von der Politik verlassen‘, sagte ein älterer Herr aus der 170-Seelen-Gemeinde Perba bei Meißen. 50 alleinstehende Nordafrikaner würden dem Dorf durch das Landratsamt aufgedrückt. Alle sollen in einen Plattenbau. ‚Die Anwohner haben sich bereit erklärt, drei Flüchtlingsfamilien mit jeweils fünf Personen aufzunehmen. Trotzdem werden wir als Nazis diffamiert‘, erregte sich der Mann im breiten sächsischen Dialekt.“
Die Szene unterstützt die gängige These der „fehlenden Anerkennung der Lebensleistungen der Menschen im Osten“ nicht. Einer, der Rede und Antwort steht, ist nicht von sich aus „abgehängt“. Jedenfalls ist vor schnellen Verurteilungen zu warnen. Wie leicht geschieht es im sich selbst aufhebenden Dialog, dass man Fehler beim anderen (er)findet, die man sich hinterher gegenseitig nicht mehr verzeihen kann. Abgründe der Freiheit lauern, wenn das Ziel der Debatte darin besteht, am Ende allein recht zu behalten. Dies gilt umso mehr, als sich Fragen herauskristallisiert haben, die schwer zu beantworten sind und allen Anlass bieten, sich näher und genauer umzuschauen.
Erinnerung als Ermunterung
Tatsächlich haben die in der heutigen Debatte geisternden Erinnerungen an die DDR verstrittene Lager geschaffen – nicht zuletzt zwischen den einschlägigen Institutionen. Allein die Frage nach den Bedingungen der DDR- und Osteuropa-Revolution brachte unmittelbar nach den unwiderruflichen Ereignissen mehr glühende Köpfe, mehr Lagermeinungen als nüchterne Feststellungen hervor. Und oftmals ging es um Fördertöpfe, die nicht mehr für die eigene Sache ausgeschöpft werden konnten. Dabei ist die Geschichte dieser oppositionellen Frauen- und Männerbewegungen so farbenprächtig wie das pralle Leben, ein gutes Beispiel für genutzten Spaß und selbstbestimmte Identität.
Nicht zuletzt lehrte uns die Alltagsgeschichte die Gewitztheit eines Volkes unter der Käseglocke der zweiten deutschen Diktatur. Den Aufruf zur Demo am 7. Oktober 1989 im vogtländischen Plauen, der heimlichen Hauptstadt der nicht nur Friedlichen Revolution – ein beschriftetes Wäschelaken mit Datum, Uhrzeit, Treffpunkt – befestigte ein junger Arbeiter an der Schillerbrücke (wie passend!), während die Intellektuellen in der DDR noch ohne Unterlass die Köpfe zusammensteckten. Dem Aufruf folgten Tausende, einige gehen von 20.000 Demonstranten mit freiheitlichen Forderungen aus – obwohl das Laken kaum eine halbe Stunde hängen blieb.
Die Reaktion der Rates der Stadt waren massenweise Verhaftungen und die Anwendung von „Disziplinarmaßnahmen“ – eigentlich Folter, nachzulesen in den veröffentlichten Protokollen oder durch Forschungsanträge bei den zuständigen Archiven (unter anderem beim Bundesarchiv und bei der Behörde der Stasiunterlagen). Umso mehr exemplifiziert der Mut des jungen Plauener Arbeiters die Hinwendung zur und die Lust auf Demokratie als bessere und nolens volens als beste Alternative. Die Erinnerung an diese Aspekte der Friedlichen Revolution setzt meines Erachtens in Zeiten wachsender Demokratie- und Europaskepsis substanzielle Zeichen und kann gerade junge Menschen – das Gros der Beteiligten war im Durchschnitt jünger als dreißig Jahre – erreichen.
Wegweiser zum lebendigen Widerspruch
Am Ende des erwähnten Dialogtreffens in Dresden wurde Oliver Reinhard von der Sächsischen Zeitung als Vertreter der „Lügenpresse“ in die Mitte gebeten. Die Dresdner Neuesten Nachrichten führten dazu aus: „‚Es gibt unterschiedliche Journalisten mit unterschiedlichen Ansichten‘, stellte er Oliver Reinhard klar und fügte hinzu: ‚Wir sitzen sicher nicht am Montag zusammen und überlegen uns, wie wir gegen Pegida hetzen.‘“ Lakonisches Fazit der Landeszentrale: Es seien noch viele Fragen offen, praktisch lädt sie jeden ersten Dienstag im Monat erneut zum Dialog. Sich nicht nur symbolisch die Hände zu reichen, setzt ein gutes Zeichen, was in besonderer Weise die Demokratieförderung veranschaulicht; es ist das Lösen von allen künstlichen wie von allen tradierten Ressentiments gegen Ausländer.
Die offiziellen DDR-Feiern waren für uns junge Leute langweilig. Die Partys der Tramperszene, die in den 1970er-Jahren so phantasievolle Ausmaße wie die der Swinging Sixties annahmen, zogen uns in den Bann. Diese Szene umfasste viele Nationalitäten, Arbeiter und Studenten der (leider sehr unparitätisch bezeichneten) befreundeten Bruderstaaten der damaligen „sozialistischen“ Wertegemeinschaft.
Und die besten Demokratieförderprogramme, die Witz hatten, ungeheuer produktiv waren und zum Ende der europäischen Diktaturen führten, hießen kurz gefasst „Prager Frühling“, Alexander Solschenizyn, Wolf Biermann, Bettina Wegner, „Solidarność“ und natürlich andere. Das sind in meinen Augen Wegweiser, weil sie die Räume öffnen in einen lebendigen Widerspruch, prallvoll mit inspirierenden Menschen.
Erinnerungen setzen die tollste, schönste Neugierde eines unverratenen Menschen voraus – und was gibt es Schöneres, als den Blick in einen Thriller geschehener Geschichte, auch „lebendig erzählter Unrechtsgeschichte“ (Udo Scheer), zu werfen?
Die Welt von Jan, die Jan-Welt, denkt dagegen verkürzt und lebt verkürzend und abkürzend und will alle Wahrheit sofort portionsgerecht auf der Hand haben. Zumindest das teilt die Jan-Welt mit der Welt der DDR-Funktionäre.
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Axel Reitel, geboren 1961 in Plauen (Vogtland), Journalist und Schriftsteller, DDR-Oppositioneller, wurde 1982 von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft.