Michel Houellebecq: Unterwerfung. Roman. Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek, DuMont Buchverlag, Köln 2015, 272 Seiten, 22,99 Euro.
Gila Lustiger: Erschütterung. Über den Terror, Berlin Verlag, Berlin 2016, 160 Seiten, 16,00 Euro.
Navid Kermani: Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa, C. H. Beck Verlag, 4. Auflage, München 2016, 96 Seiten, 10,00 Euro.
„Wenn wir es dahin bringen, daß die große Menge die Gegenwart versteht“, schreibt Heine 1832 in Paris, so komme „das große Völkerbündnis, die Heilige Allianz der Nationen“ zustande. Der Zeitkritiker als Prophet: Heines Haltung zu den französischen Zuständen, die seit jeher wohl ein Brennpunkt für den Zustand Europas sind, hat nichts an Aktualität verloren. Am Anfang des 21. Jahrhunderts gibt es eine Einheit der europäischen Nationen, doch wird diese Ordnung erschüttert. Woher kommt der fundamentalistische Terror? Warum ermorden selbst ernannte Dschihadisten wehrlose Menschen, und wie kommen diese „Schreckens-Männer“ (Hans Magnus Enzensberger) dazu, Jugendliche zu Selbstmordattentätern zu erziehen?
Politisch eindringliche Studie
Die Schriftstellerin Gila Lustiger hat sich diesen Fragen gestellt. Doch sie fragt nicht als Gewaltforscherin, sondern kombiniert ihre Rolle als Zeitgenossin mit der als Mutter zweier gerade erwachsener Kinder. Besonders geht sie Frankreich natürlich auch an, weil sie seit 1987 in Paris lebt und jüdischer Herkunft ist. So hat sie 2015 damit begonnen, aufzuschreiben, was sie beobachtet und bedenkt. Herausgekommen ist eine persönlich überzeugende und zugleich politisch eindringliche Studie. Sie gilt den französischen Zuständen und den globalen Zusammenhängen des IS-Terrors. Erschütterung beginnt mit einem Geständnis. Nach den Anschlägen des 13. Novembers 2015 in Paris wurde Gila Lustiger regelrecht informationssüchtig. Jede Zeitungsmeldung, jede Radio- und Fernsehnachricht, jede Meldung im Netz wurde im Minutentakt verfolgt. Ein Versuch, das Chaos chronologisch zu ordnen.
Lähmender Hyperrealismus
Doch die Details führen eine eigene Regie, die schwer durchschaubar ist. Denn was nutzt es, zu wissen, wie der sechste Song bei dem Heavy-Metal-Konzert hieß, während dessen sich die Attentäter entschlossen, blindlings auf die Zuhörer zu feuern? Und bringt es etwas, wenn man weiß, in welchen Minuten sich die Terroristen vor dem Stadion, in dem Deutschland gegen Frankreich spielte, in die Luft jagten?
Zu viele Informationen erzeugen einen Hyperrealismus, der lähmt. Deshalb bedarf es, so argumentiert Gila Lustiger, des Überblicks und des Blicks auf die Geschichte. Bildungspolitische und kulturgeschichtliche Erklärungen kommen zusammen.
Zu der Vorgeschichte des Novemberattentats gehören die Aufstände von 2005 in den Pariser Vororten, den Banlieues. Wie sich das Zerstörungspotenzial von Arbeitslosigkeit, Armut und Kleinkriminalität dort über Jahrzehnte anstauen konnte, hat Gila Lustiger bereits in ihrem letzten Roman Die Schuld der anderen präzise recherchiert. Sie erklärt das Scheitern der politique de la ville, gleichviel, ob mit Toleranz oder Radikalität.
Zugleich durchleuchtet sie das Verhalten der Täter. Warum hat sich die Destruktionswut der Banlieusards so sehr gegen das eigene Milieu gerichtet? Warum wurden ausgerechnet die Symbole des Wohlfahrtsstaates, Schulen und Kindergärten, angegriffen? Warum brannten siebzig Bibliotheken? Niemand sei auf die Bastille gegangen, meint Gila Lustiger, der Mob war sprachlos, verachtete Bildung und Kultur und blieb innerhalb seiner soziokulturellen Umgebung. Das habe auch daran gelegen, dass damals weder Gewerkschaften noch Aktivisten noch Globalisierungskritiker etwas vor Ort unternommen hätten.
Humor gegen Fanatismus
Diese Kritik bietet politischen Zündstoff. Lustiger fragt nach dem Anstand einer Gesellschaft, deren Institutionen dazu neigen, manche Immigrations- und Migrationsgruppen auszugrenzen. Die Folge ist eine unerträgliche Demütigung. Respekt ist ein Gegenmittel. Wo man sich gegenseitig respektiert, gerade auch in den Unterschieden, da ist der Frieden näher. Sie erinnert an die französischen Menschen- und Bürgerrechte vom August 1789, Richtinstrumente für die aktuelle Flüchtlingspolitik. Und plädiert dafür, den Humor nicht zu verlieren. Wo man lacht, da werden Unterschiede aufgehoben. Humor ist ein „gutes Rezept“ gegen den Fanatismus, der ein Angriff auf den westlichen Lebensstil ist. Die Satirezeitschrift Charlie Hebdo kommentierte die Mordanschläge: „Ihr habt die Waffen. Wir haben den Champagner.“
Gila Lustiger macht auf den Antisemitismus der Vororte aufmerksam, der in den Nachrichten und öffentlichen Diskussionen oft unterschlagen wird. So sei der Boden für einen Terror bereitet worden, der sich alter Vorurteile über Flucht und Vertreibung, Migration und Integration bedient. Auch Michael Kleeberg hat im letzten Jahr in einem Spiegel-Essay auf die „zweite Parallelgesellschaft“ in Frankreich hingewiesen: Neben den Muslimen seien das die Juden.
Und Deutschland? Gila Lustiger findet Lob für die Einwanderungspolitik der deutschen Regierung, auch im Wechsel von Euphorie zur Skepsis. Sie beschreibt ihre Erschütterung angesichts der schweren Sexual- und Diebstahlsdelikte in der Kölner Silvesternacht. Wie kommt – eine zunächst tabuisierte Frage – der Terror, der „Krieg in den Seelen“ (Kermani) mit der Migration nach Europa? Gila Lustiger richtet klare Worte gegen die Frauenverachtung des radikalen Islams – und gegen die Missachtung der elementaren Menschenrechte. Hass und Ausgrenzung sind keine Lösungen. Es geht um die Verteidigung der Grundlagen unserer Zivilgesellschaft. Und Angriffe auf Frauen sind ebenso wie Gewalt gegen Juden Angriffe auf die zivilrechtliche Moral: „Es gibt keinen Knigge für Opfer.“ Wohl aber Gesetze.
Revolution auf Taubenfüßen
Ganz andere Töne hat Michel Houellebecq angeschlagen. Sein Roman Unterwerfung ist kein Protokoll der Jetztzeit, sondern dunkle Prophetie der kommenden. Er spielt in einem fundamentalistisch islamisierten Europa des Jahres 2022. Die muslimische Kultur regiert inzwischen Frankreich und erfasst alle gesellschaftlichen Bereiche, auch formal in der Gestalt des Präsidenten Mohammed Ben Abbès.
Der Icherzähler des Romans ist ein mittelmäßiger Held mit dem Allerweltsnamen François aus dem Hochschulbereich. Ein akademischer Tag in der Woche mit Vorlesung, Masterkurs und Seminar reicht aus, hier und da eine Affäre, meist mit den Studentinnen, und nichts steht mehr auf dem Spiel, als für den Abend das passende aufwärmbare indische Gericht auszuwählen.
Houellebecqs Roman nimmt sich Zeit, um die islamische Wende vorzubereiten. Auf Taubenfüßen kommt die Revolution daher, die Akademiker stecken den Kopf in den Sand, die Studierenden sind überfordert, das Volk hält Marine Le Pen für das größere Übel. So bahnt sich ein Überlaufen der westlichen Werte in einen Kulturkreis ein, in dem die Frau unterdrückt, die Familie tribalistisch verherrlicht und jeder Gläubige zur Unterwerfung gezwungen wird. Nach der Wahl Mohammed Ben Abbès’ flieht unser Held erst einmal in die Provinz und sucht Schutz bei der Schwarzen Madonna. Aber nichts hilft: Die Verführer haben Meursault und Escortservice, François bekommt das Angebot, sein Steckenpferd, einen französischen Autor der décadence, Joris-Karl Huysmans, in der Bibliothèque de la Pléiade unterzubringen. Ein Teufelspakt: François, ein kleingeistiger Faust, knickt ein. Dreifaches Gehalt, eine Lebenszeitstelle an der von Saudis umgemodelten Sorbonne, das ist sein Lohn.
Vom Satiriker zum gekränkten Idealisten
Es ist erstaunlich, wie scharfsinnig Houellebecq von einer Zukunft erzählt, die in der Gegenwart zu schlummern scheint.
Die Lesart des „Antizipationsromans“ ist in mancher Hinsicht einleuchtend, aber sie ist nicht die einzige. Houellebecqs Roman erschien am Tag des Anschlags auf das Satiremagazin Charlie Hebdo, am 15. Januar 2015. Auf der Titelseite der Zeitschrift war eine Karikatur des Autors zu sehen, im hinteren Teil eine hymnische Besprechung von Soumission zu lesen.
„Submission“ wiederum ist der Titel des 2004 erschienenen Films des von einem islamischen Terroristen ermordeten Regisseurs Theo van Gogh, in dem Koranverse auf einen nackten Frauenkörper projiziert wurden. Aus diesem Netz politischer und kultureller Verweise entsteht der Roman, der eben mehr ist als nur die Warntafel vor einer düsteren Zukunft.
Die andere Lesart ist eine satirische. Der Autor habe seinen Roman nur „iranisch“ gemeint, so die Auffassung von Kritikern; wir würden ihm auf den Leim gehen, wenn wir diese Zukunftswelt eines fremden Europa ernst nähmen. In der Tat spielt Houellebecq souverän mit kollektiven Ängsten vor Flüchtlingswelle, Islamisierung Europas und mit den Abstiegsphantasien der vermeintlich besseren Gesellschaft. Hier wird der Satiriker zu einem gekränkten Idealisten, der die Welt schlechter macht, als sie ist, weil sie es in seinen Augen nicht besser verdient.
Unterwerfung ist ein furchtloser und radikaler Roman über die islamistische Ausweitung der Kampfzonen auf Europa. Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen, aber diese Erkenntnis ist, anders als in Goethes freundlicher Vision, nicht mehr dem vorbehalten, der sich und andere kennt, sondern dem Ideologen, der nur ein Denken kennt, das Vereinigung aufzwingt und Trennung gewaltsam beendet. Der Islam als westlicher Konsumfetisch, die Aufhebung der Meinungsfreiheit, das Richtschwert über der Republik: Das sind die Schreckgespenster des Buches, die bei seiner Theaterfassung im Februar 2016 unter der Regie von Karin Beier am Schauspielhaus Hamburg noch parodistisch gebannt wurden.
Gewaltfreier Umgang mit Differenzen
Französische Zustände und Europa: einerseits also klare Worte, andererseits Zukunftsgleichnisse in der Debatte über Gewalt und arabische Welt. Wenn wir einen gewaltfreien Umgang mit Differenzen, geschlechtlichen, religiösen, politischen, zum Erbe der europäischen Aufklärung rechnen, können wir auf den Kölner Schriftsteller und Islamforscher Navid Kermani hören. Der hat in seiner Friedenspreisrede 2015 darauf hingewiesen, dass die Moderne bei uns als Prozess der Emanzipation, im Nahen Osten jedoch als Gewalterfahrung erlebt wurde: „Das Kopftuch haben die iranischen Frauen nicht allmählich abgelegt – Soldaten schwärmten auf Anordnung des Schahs 1936 in den Straßen aus, um es ihnen mit Gewalt vom Kopf zu reißen.“
Navid Kermanis Reportage von der Balkanroute Einbruch der Wirklichkeit, Gila Lustigers Essay Erschütterung und Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung sind Bücher der kritischen Aufklärung, unaufgeregt, einsichtsvoll, Plädoyers für eine unkriegerische Integration, mit einem Wort: höchst lesenswert.
Anmerkung: Man kann den Roman „Unterwerfung“ als Schlüsselroman zur aktuellen Situation nicht nur in Frankreich lesen. Hinter der mephistophelischen Figur des Mohammed Ben Abbès, der den Erzähler am Ende auf die Seite einer islamhörigen, daher nicht mehr freien Wissenschaft zieht, verbirgt sich bei näherem Hinsehen die reale Figur Tariq Ramadan, der mit nietzscheanischem Gedankengut einen vermeintlich reformatorischen Kurs fährt, in Wirklichkeit jedoch unter dem Deckmantel des interreligiösen Liberalismus eine fundamentalistische Position vertritt. Es bleibt dem Leser überlassen, weitere Parallelen dieser schillernden Gemengelage von Bildung, Assimilation und Ideologie zu dieser realen Figur zu ziehen. (RT)
Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter des Referates Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung, außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.