Aktuell werden immer wieder Vergleiche mit der Zuwanderungsentwicklung Anfang der 1990er-Jahre gezogen. Damals hat Deutschland Zuwanderung in erheblicher Größenordnung – vor allem aus den Balkanstaaten – gemeistert. Mit dem sogenannten Asylkompromiss wurde die politische Steuerungsfähigkeit zurückgewonnen. In der Folgeendeten auch die punktuellen Wahlerfolge rechtsextremer Parteien.
Der plötzliche Zustrom von so vielen Flüchtlingen ist gewiss eine neue Qualität der Herausforderung. Doch sind die Voraussetzungen, damit fertigzuwerden, heute andere als damals: Im Gegensatz zu heute hatte Deutschland die unmittelbaren Teilungslasten zu schultern, der Arbeitsmarkt war angespannt. Die Parteien stritten erbittert um das Asylrecht, heute dagegen gibt es einen Vorrang der gemeinsamen Problemlösung in weiten Teilen des politischen Spektrums bis hin zu den Grünen – jedenfalls, soweit sie politische Verantwortung tragen. Damals erschraken die Deutschen vor der kulturellen Herausforderung der Integration. Heute attestieren Sozialforscher dem Land, eine „gelassene Nation“ (Renate Köcher) geworden zu sein, deren Fähigkeit zum Umgang mit kultureller Differenz deutlich gewachsen sei. Ausschreitungen gegen Flüchtlinge, Hass und Gewalt gibt es heute leider auch, allerdings mit dem Unterschied, dass aktuell „das freundliche Gesicht“ das Bild unseres Landes dominiert.
Der Umgang mit dem Flüchtlingszuzug bezeugt, dass der „normative Kern“ unserer Gesellschaft – die Verpflichtung auf die Würde des Menschen – intakt und vital ist. Ehrenamtliche Helfer haben, wie die Polizei oder die Verwaltung, den „Normalmodus“ weit hinter sich gelassen und alle Kräfte mobilisiert, um der Situation Herr zu werden. Dieser „Krisenmodus“ kann aber kein Dauerzustand sein. Mehr noch als die Größenordnung der Flüchtlingszuwanderung stellt der Eindruck eines Kontrollverlustes eine Gefährdung dar. Was nottut, ist deshalb – vor allem auch dort, wo zur Abwendung einer humanitären Katastrophe notgedrungen Unordnung in Kauf genommen wurde – die Ordnung wiederherzustellen.
Es geht um die Ordnung in der Debatte: Selbstverständlich ist es wichtig, Flüchtlinge, die bei uns bleiben, so schnell wie möglich in Ausbildung und Arbeit zu integrieren. Aber der Flüchtlingszuzug ist nicht die Antwort auf das Thema Fachkräftemigration. Zuwanderung nach dem Bedarf des Aufnahmestaates einerseits und Hilfe für Flüchtlinge andererseits zu vermischen, hieße, die Tatsache zu verdecken, dass wir es bei den Flüchtlingen zu einem beträchtlichen Teil mit Menschen zu tun haben, um deren Qualifikation wir uns intensiv werden kümmern müssen. Auch der Hinweis darauf, dass die Flüchtlinge im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung überdurchschnittlich jung seien und eine Lösung unserer demografischen Herausforderungen darstellten, geht in der Debatte fehl. Denn eine Gesellschaft, die für ihre Zukunftszugewandtheit und Dynamik nur auf Zuzug setzt, wird nicht erfolgreich sein.
Der Ordnung der Begriffe muss die Ordnung im Rechtsvollzug ent sprechen. Es gibt einen Konsens darüber, das Grundrecht auf Asyl zu sichern und geordnete und rasche Verfahren zu garantieren. Auch besteht Einigkeit darin, dass die Verfahren im Falle der politischen Verfolgung mit einem Bleiberecht und im anderen Falle mit einer Ablehnung enden sollen. Ausreisen finden gleichwohl oft nicht oder mit großer Verzögerung statt – meist ohne nachvollziehbare Gründe. Eine so deutliche Differenz zwischen Recht und Realität tut nicht gut – vor allem dann nicht, wenn Moral gegen den Rechtsstaat instrumentalisiert wird. Hier liegt eine praktische Aufgabe, die zunächst die Bundesländer in die Pflicht nimmt. Und es gibt eine geistig-politische Führungsaufgabe, zu der beispielsweise die Kirchen beitragen sollten.
Das Recht wird der Flüchtlingsrealität nur standhalten, wenn in das Grenzregime wieder dauerhafte Ordnung kommt. Der Bundestagspräsident hat am 8. September darauf hingewiesen, viele Bürger sorgten sich, der Staat könne die Kontrolle über das eigene Land, seine Grenzen oder seine Rechtsordnung verlieren. Die Rückgewinnung dieser Hoheit setzt gesicherte Außen grenzen der Europäischen Union und eine faire Lastenteilung voraus. Stärkere Außengrenzen bedeuten nicht Abschottung, sondern geregelte Aufnahme. Dabei wird ethnische und kulturelle Homogenität nicht die Basis des europäischen Umgangs mit dem Flüchtlingszuzug sein können. Humanitäre Gründe sprechen ebenso dagegen wie praktische Gesichtspunkte. Weltoffen heit ist zu einer wichtigen Voraussetzung von internationaler Attraktivität für Talente geworden. Sie entscheidet mit über Innovationskraft und Wohlstand. Vielfalt wird gegenüber Homogenität kulturell, ökonomisch und sozial das erfolgreichere Modell sein – allerdings nur dann, wenn Vielfalt nicht mit Multikulturalismus, also dem Nebeneinander sich widersprechender Werteordnungen, verwechselt wird.
Integration – dazu gehören etwa Sprachförderung, Ausbildung, Arbeitsplätze. Dazu gehört aber ebenso sehr, diese Menschen mit den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln dieser Gesellschaft vertraut zu machen und ihnen die Geschichte und die politischen Institutionen des Landes zu vermitteln. Dabei ist unsere Verfassung und Rechtsordnung essenziell, aber das reicht nicht: Die Beherrschung der Sprache, die Achtung der Gesetze, vielleicht sogar ein Stück „Verfassungspatriotismus“ – all das anzustreben, ist elementar. Die Ordnung der Werte, die unser Zusammenleben prägen, findet sich jedoch nicht allein in rechtlichen Kodizes. Die Gleichberechtigung von Frau und Mann zum Beispiel ist in den vergangenen Jahrzehnten eine über Rechtsgleichheit hinausreichende Ligatur dieser Gesellschaft geworden. Der Respekt vor den christlich-jüdischen Fundamenten unserer Kultur geht über die Achtung der Verfassungsartikel und Staatsverträge hinaus. Die fortwährende Verantwortung für das historische Erbe der Deutschen – zum Beispiel die besondere Verantwortung für das Existenzrecht Israels, die Verankerung Deutschlands in der westlichen Gemeinschaft – kommt hinzu. Eine große Anstrengung zur kulturellen und politischen Integration ist geboten – und zwar von Beginn an. Sie ist nicht nur das Tüpfelchen auf dem „i“, das folgt, wenn alles andere erledigt ist. Sie muss bei denen, die längerfristig bleiben, von Beginn an einsetzen, und die Politischen Stiftungen müssen ihren Beitrag dazu leisten.
Selbstverständlich bleibt der entscheidende Punkt, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu bekämpfen. Darauf können sich alle rasch einigen, allein die Umsetzung fällt schwer. Das liegt nicht am fehlenden Elan, sondern an komplizierten Gemengelagen. Der bescheidene Beitrag der Arbeit der Politischen Stiftungen im Ausland besteht nicht zuletzt in der Unterstützung friedlichen Zusammenlebens und vernünftiger Regierungsarbeit und in der Expertise, die wir in Deutschland anbieten können. Es ist eminent wichtig, sich darauf zu besinnen, was Deutschland und Europa tun können, um das Los der Flüchtlinge zu bessern. Aber wir müssen auch ein stärkeres Engagement der politischen und gesellschaftlichen Eliten in den Entwicklungs- und Schwellenländern einfordern, Rupert Neudeck hat jüngst ein dringlich darauf hingewiesen.
In vielen Bereichen werden wir um eine gelingende Integration kämpfen müssen – sei es bei der Sprachvermittlung, bei der Ausbildung und Arbeit, in der Vermittlung der Werteordnung oder bei der Gewährleistung von Sicherheit. Und wir müssen die Werteordnung, die Kultur, die uns prägt, aktiv vertreten. Das Gesicht unseres Landes wird sich zweifellos an manchen Stellen verändern. Doch seinen Charakter soll es bewahren können. Das Zu trauen der Menschen darin zu stärken, ist bedeutsam für das Gelingen von Integration und für die Bindungskraft der christlich-demokratischen Idee.
Michael Thielen, geboren 1959 in Prüm (Eifel), Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung.