Als „Schwarzbrot“ bezeichnen nicht nur Journalisten gerne jene Themen, die schwieriger und komplexer sind; bei denen eine oberflächliche Beschäftigung und ein paar hingeworfene Phrasen für eine ernsthafte Auseinandersetzung nicht ausreichen. In der breiten öffentlichen Debatte in Deutschland ist das Thema Gerechtigkeit das genaue Gegenteil von „Schwarzbrot“. Ob es um Bildungspolitik geht oder Entwicklungshilfe: Verkürzt auf das Schlagwort „soziale Gerechtigkeit“ dient es allzu oft dazu, inhaltliche Oberflächlichkeit zu übertünchen, Fakten beiseitezuschieben oder natürlich Applaus zu erheischen. Keine Frage: Die tatsächliche und gefühlte Gerechtigkeit – und noch mehr Ungerechtigkeit – in einer Gesellschaft entscheiden über das funktionierende Zusammenleben. Und abgesehen von Einschränkungen der persönlichen Freiheit dürfte den Menschen als soziales Wesen kaum etwas so umtreiben wie die Übervorteilung oder Benachteiligung.
Die wichtige Frage der Gerechtigkeit verkommt dabei zum thematischen und argumentativen Fastfood – schnell, billig, einfach. Jeder kann sie haben und jeder hat eine Meinung dazu. Ein Grund dafür liegt in der Begrifflichkeit selbst – und das nicht erst seit der Erfindung von Talkshows und Blogs. Der Ökonom Friedrich August von Hayek nannte den Begriff „soziale Gerechtigkeit“ ein „Wieselwort“. Das Wiesel saugt Eier aus, lässt die Hülle aber intakt. Die Sozial- und Sprachwissenschaftler bezeichnen solche „Wieselworte“ als „notwendig strittige Begriffe“ – frei übersetzt nach dem englischen „essentially contested concepts“. Dazu zählen auch Begriffe wie Freiheit, Demokratie oder Kunst. Also all jene Wörter und Ideen, über deren Definition weitgehend Einigkeit herrscht, deren Interpretation aber strittig und umkämpft ist.
Im Falle von „Gerechtigkeit“ lässt sich die Diskussion rund 2.500 Jahre bis zu Sokrates zurückverfolgen. Doch selbst wenn der Streit über die Definition inzwischen in einer sehr schmalen Bandbreite abläuft, dürfte die Debatte darum, was tatsächlich gerecht ist, wohl mindestens weitere 2.500 Jahre andauern.
Das große Verdienst der beiden vorliegenden Bücher besteht darin, dass sie diese so wichtige Diskussion nicht einfach nur bereichern, sondern dass sie vor allem der Tiefe dieses Themas gerecht werden. Denn in beiden Werken wird sehr schnell deutlich: Gerechtigkeit ist eigentlich ein Schwarzbrot-Thema!
„Kannbruchstelle“ Generationskonflikt
Das zeigt sich bereits in der theoretischen Auseinandersetzung, wie Jörg Tremmel in seiner zweiten Dissertation eindrucksvoll belegt. Tremmel, Juniorprofessor für Generationengerechte Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen, nimmt sich dabei konkret die Generationengerechtigkeit vor. Angesichts immenser Staatschulden, Klimaerwärmung oder der vermeintlich sicheren Lagerung atomarer Abfälle für Hunderttausende Jahre ist das gerechte Miteinander der Generationen eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Für einige Wissenschaftler hat ein Interessenkonflikt der Generationen sogar die Dimension einer „Kannbruchstelle“ für die Gesellschaft – ähnlich dem Konflikt zwischen Arm und Reich.
Tremmel hatte sich bereits in seiner ersten Doktorarbeit „Bevölkerungspolitik im Kontext ökologischer Generationengerechtigkeit“ mit diesem Thema aus politikwissenschaftlicher Sicht beschäftigt. Nun sucht er den Zugang über die Philosophie. Für Tremmel ist Philosophie die einzige Wissenschaft, die sich unmittelbar auf die Frage nach der Gerechtigkeit einlasse und den „Blick aufs Ganze und Umfassende“ richte. Er wagt diesen Blick aber nicht aus einem Elfenbeinturm heraus, sondern immer mit „Bezug zur wirklichen Welt“. Deshalb bedient er sich der ganzen Bandbreite der Gesellschaftswissenschaften und der empirischen Forschung. Herausgekommen ist eine ebenso faktenfundierte wie lebens- und praxisnahe, gut verständliche Abhandlung über ein hoch spannendes Thema.
Denn Tremmel belässt es nicht bei der Frage, was Generationengerechtigkeit eigentlich ist, sondern er geht drei interessanten Fragen nach: Schulden wir der kommenden Generation überhaupt etwas? Wenn ja, wovon? Und wenn ja, wie viel?
Dabei zeigt sich, dass selbst vermeintlich einfache Fragen nicht so einfach zu beantworten sind: Haben kommende Generationen überhaupt Rechte? Bestehen ihnen gegenüber Pflichten? Soll etwa die nachfolgende Generation „mindestens die gleich großen“ Chancen und Ressourcen haben wie die jetzige oder „möglichst größere“? Für Tremmel bedeutet Generationengerechtigkeit, „wenn die Chancen der Angehörigen der kommenden Generation, sich ihre Bedürfnisse erfüllen zu können, im Durchschnitt besser sind als die der Angehörigen ihrer Vorgänger-Generation.“ Eine Erörterung der Frage, was das für die politische Praxis und jeden einzelnen Politikbereich bedeutet, hätte Tremmels Dissertation gesprengt.
Gerechter Wiedervereinigungsprozess
Diese Fragen müssen von anderen beantwortet werden. Ein Sammelband hat genau das für den Prozess der Wiedervereinigung getan. Herausgeber sind Bernhard Vogel, Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, Michael Borchard, Leiter der Hauptabteilung Politik und Beratung der Stiftung sowie Thomas Schrapel, der dort Koordinator Neue Länder war. Das große Verdienst dieses Buches ist, dass es – um das Nahrungsbild noch einmal aufzugreifen – systematisch „Fleisch an die Knochen“ der Gerechtigkeitsdebatte um den Einigungsprozess bringt. Die Basis bilden ein pointierter Beitrag von Borchard und Schrapel über die philosophische Gerechtigkeitsdebatte als „Anleitung für die Politik“ sowie ein grundlegender Vortrag von Hans Maier aus dem Jahr 2001 über die historischen Voraussetzungen des Sozialstaates in Deutschland. Autoren wie Ulrich Blum oder Gert Pickel beleuchten dann Einzelaspekte genauer. Blum, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Halle-Wittenberg, geht etwa der Frage nach, ob der Aufbau Ost eine „gerechte Investition“ ist. Angesichts der Debatte um die Schlaglochtiefen in Gelsenkirchen und Görlitz eine hochaktuelle Gerechtigkeitsfrage. Pickel, Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Universität Leipzig, arbeitet heraus, dass die Mentalitäts- und Einstellungsunterschiede bei den Ostdeutschen nicht einfach auf die Sozialisierung in der DDR zurückzuführen sind – wie das in manchen Diskussionen einfach behauptet wird. Abgerundet wird der Band mit einem spannenden Gespräch zwischen Bernhard Vogel und Arnold Vaatz über Recht und Gerechtigkeit in der DDR und im Wiedervereinigungsprozess. Das Buch ist deshalb so wertvoll, weil es eben keine der zahlreichen phrasengefüllten Aufsatzsammlungen ist, sondern weil es in die Tiefe geht. Weil die Autoren genau wie Tremmel mit empirischen Methoden arbeiten. Weil es reich ist an Daten, Fakten, Zitaten und reflektierten Gedanken.
Fazit: Es gibt gute Sachbücher, in die man hin und wieder einen Blick wirft. Und es gibt Sachbücher, die sind so gut und hilfreich, dass man sie sich in Griffweite für die tägliche Arbeit stellen sollte. Beide Bücher gehören zweifellos in die zweite Kategorie.
Alexander Gruber, geboren 1978 in Bonn, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Referent in der Abteilung Strategische Planung in der CDU-Bundesgeschäftsstelle, Berlin.