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Die Lebenserinnerungen von Hans-Peter Schwarz

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Hans-Peter Schwarz: Von Adenauer zu Merkel. Lebenserinnerungen eines kritischen Zeitzeugen, hrsg. von Hanns Jürgen Küsters, Deutsche Verlagsanstalt, München 2018, 736 Seiten, 50,00 Euro.

Das Bild auf dem Cover könnte treffender nicht sein: Der Professor schaut einem Argument hinterher, er scheint die Reaktion auf eine spitzbübische oder spitzfindige Analyse zu erwarten. Ins Auge sticht – der Verlust dieses Großen seiner Zunft ist betrüblich. Umso erfreulicher, dass Hans-Peter Schwarz zum Ende seines Lebens ausführliche Erinnerungen zu Papier gebracht hat. Daraus ist ein letztes „Dickschiff“ geworden, wie er selbst die voluminösen Bände aus eigener Feder nannte. Nun legt es an – neben seinen hochseetauglichen Biographien über Adenauer, Kohl, Springer. Hans-Peter Schwarz historisiert sich selbst.

Wenn ein bedeutender, zumal sprachbegabter Politikwissenschaftler über seine eigene Zeitzeugenschaft mehr als eintausend Seiten verfasst und diese Memoiren auf fast 700 Textseiten posthum veröffentlicht werden, ist dies ein Ereignis für sich. Und Ereignisse bergen Überraschungen – da bildet dieser Band keine Ausnahme. Für Leser von heute sind Passagen beachtenswert, die Schwarz selbst angesichts seines beachtlichen akademischen Werdegangs und seines politischen Wirkens als Ratgeber vermutlich selbst gar nicht unbedingt zu den erhellendsten zählen würde. Es sind jene Kapitel, in denen er spezielle Biotope schildert: seine Herkunft, die Hochschulreformen, das alte Bad Godesberg – Schwarz ist eng verwoben mit der Bonner Republik.

Das einerseits ob seiner historischen Schuld geschmähte, andererseits wirtschaftlich rasch prosperierende Teildeutschland lag in den frühen Jahren nicht nur unter Mehltau, wie die 68er in munterer Selbstlegitimierung später diagnostizierten. Die Bundesrepublik war in jungen Jahren zwar bevölkert von alten Nazis, verstockten Vertriebenen und Wehrmachtsoldaten, die ihre Ritterkreuze versteckten. Sie lebte mit Familien wie den Schwarzens, bei denen laut Schwarz „Gottesglaube, Nationalismus, Militarismus und gut lutherischer Obrigkeitsgehorsam eine aus heutiger Sicht seltsame, aber im damaligen Deutschland nicht ganz seltene Verbindung eingegangen waren“. Aber es gab auch Optimismus, Zukunftsfreude und den Ehrgeiz von jungen Menschen vom Schlage eines Hans-Peter Schwarz.

Innerfamiliäre Prozesse des Beschweigens

Vermutlich hat sie niemand gefragt, ob sie sich vom Nationalsozialismus befreit fühlten. Als junge Erwachsene aber lebten sie befreit. „Ich selbst fand den politischen Irrtum der geliebten Eltern vermutlich genauso genierlich wie sie selbst.“ So beschreibt Schwarz den innerfamiliären Prozess des Beschweigens. Es hätte ihn gereizt, die Eltern zu befragen, aber es erschien ihm ungehörig.

Schwarz ist 1934 in Lörrach geboren – sein Jahrgang hat sich vor NS-Verseuchung noch retten können. In der Diktatur verlebt er eine idyllische Kindheit im Markgräflerland. Als Sohn des Dorfschullehrers ist ihm ein hohes Bildungsethos geschenkt worden, dem er zeitlebens treu bleibt: Auch in Kapiteln, in denen er längst als renommierter Professor auftritt, taucht immer wieder arglos das Wort „studieren“ auf. Schwarz begriff sich zeitlebens als

„Studierender“– und in seinem Sprachgebrauch ist das keine gendergerechte Variante des Wortes Student, sondern meint wortwörtlich den Gelehrten im andauernden Prozess des Lernens, des Sich-Bildens – so stolz er im Verlauf des Lebens auf das Erreichte auch sein wird.

Unbedingt beachtenswert, weil selten fundiert aus der Innensicht eines Beteiligten geschildert, sind die Kapitel, die sich um die Reformen an den bundesdeutschen Hochschulen in den 1970er-Jahren drehen. Schwarz ist junger Professor, der jüngste deutsche Professor und ambitioniert mit Forschung und Lehre befasst, während die hierarchische Ordinarienuniversität mutiert und sich zur Massenuniversität mit drittelparitätischen Leitungsstrukturen auswächst.

Als junger Politikwissenschaftler an der Universität Hamburg erlebt er Studentenproteste, die nun moderne Theoriebefrachtung der Politik- und Geschichtswissenschaft und die politischen Rankünen hautnah mit. Im Rückblick zeichnet er ein aufschlussreiches Sittengemälde einer Welt im Umbruch. Dass ihm anderes vorschwebte, wird deutlich. Authentisch sind seine damals angestellten hochschulpolitischen Überlegungen – in voller Länge abgedruckt. Verkämpft hat sich Schwarz damals nicht. Doch seine Haltung mit einem von Georg Simmel entlehnten Begriff der „engagierten Objektivität“ drehte nach rechts.

Wie entwickelt sich das Konservative? Diese Frage ist heute von großer Aktualität. Schwarz thematisiert sie nicht ausdrücklich. Implizit aber wird in seinen Schilderungen der Jahrzehnte nachvollziehbar, wie der Wissenschaftler vom Bürgerlich-Liberalen mit profunder christlicher Färbung und persönlichem Entfaltungswillen zum CDU-Mitglied und schließlich zum nationalkonservativen Einwanderungskritiker wird. Für den Parteieintritt in den 1980er-Jahren mögen Karrieregründe mitentscheidend gewesen sein, ein Hauch Opportunismus. Vor allem aber ist die Mitgliedschaft einem Reflex gegen die uniform linke und nicht immer tolerante Umgebung zuzuschreiben. Der schrille Grundton in der universitären Welt verletzt ihn in seiner Bürgerlichkeit und weckt seinen intellektuellen Widerspruchsgeist. Schon Willy Brandts Regierungserklärung mit dem Postulat „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen gerade erst richtig an“ hat Schwarz als Frechheit empfunden.

„Mehr Demokratie wagen“ ist eine Provokation für jene, die das demokratische Wagnis längst eingegangen sind.

Der „Hauptstadtprofessor“

Schwarz begreift sich in seiner Rolle als Wissenschaftler alter Schule auch als politischer Akteur, er genießt als arrivierter Ratgeber in außenpolitischen Fragen die Nähe zu Diplomaten, Ministerialen, Politikern und zu namhaften Geistesgrößen. Doch erliegt der „Hauptstadtprofessor“, der von Hamburg über Köln schließlich einem Ruf nach Bonn folgt, nicht der Versuchung, Mächtigen nach dem Munde zu reden. Auch ruht er sich nicht auf seinen Lorbeeren aus. Er ist ehrlich dankbar für alles Erreichte – insbesondere übrigens für die verschiedentlich liebevoll erwähnte treusorgende Ehefrau und die wohlgeratenen Kinder. Der überzeugte Transatlantiker ist fortwährend unterwegs, auf Konferenzen und in Gremien engagiert und fungiert als Herausgeber maßgeblicher Handbücher und gewichtiger Quelleneditionen. Schwarz prägt die Politikwissenschaft und Zeitgeschichtsforschung der Bundesrepublik so wie diese ihn – mit seiner sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung erwirbt er auf verschiedenen Feldern seiner Disziplin Meriten. Die Freude daran teilt er mit dem Leser.

Der Band lebt von kleinen Aperçus wie über den seinerzeit hoffnungsvoll eingeführten Gemeinschaftskundeunterricht in Schulen – von Altmeister Theodor Eschenburg liebevoll „Fahrschule für Politik“ genannt. Und natürlich über Helmut Kohl und dessen Rittertafel. Kohl habe gespürt, „dass seine Bonner Trutzburg auf Sand gebaut war, ohne genau zu wissen, wie dem zu begegnen sei“. Typisch für beide, Bundeskanzler und Biograph, ist eine Beschreibung der Kohl’schen Monologe im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung. Allerlei Nichtigkeiten werden aufgespießt, Schludrigkeit beklagt und „gegen die ‚Verbonzung‘ der eigenen Partei gewettert, als sei er nicht längst zum Oberbonzen geworden“. Hemdsärmeligkeit liebt Schwarz gar nicht. Dass der Kanzler gern den Historiker hervorkehrt, muss auf den Wissenschaftler schamlos und peinlich gewirkt haben; so bleibt zwischen dem Pfälzer und ihm eine Distanz.

Ausdrücklich begrüßt er natürlich die Wiedervereinigung. Am 3. Oktober 1990 jubelt Schwarz, vehementer Befürworter des Beitritts, dass „die deutsche Geschichte als Geschichte der Bundesrepublik“ weitergehe und das „Ende der Identitätsneurose“ erreicht sei. Skeptisch betrachten die Bonner Kreise die Bürgerrechtler der DDR, deren selbstgestrickte, zumeist im Pfarrhaus kultivierte Kulturträgerschaft und deren politischer Idealismus am Rhein nichts gelten – Schwarz ist da keine Ausnahme.

Apologet der alten Bundesrepublik

Das Jahrhundert neigt sich seinem Ende zu und es kommt damit auch zu einem Bruch. Fad und nervös erscheint ihm die Diskussion über gesamtdeutsche Identität, falsch das engere europäische Zusammenwirken. Der Zeithistoriker und die Zeitläufe entfremden sich. Ins 21. Jahrhundert tritt Schwarz nicht mehr mit der Offenheit, die ihm zuvor eigen war. Er bleibt ein Apologet der alten Bundesrepublik. Den Euro und die Europäische Union verfechten jene, die zuvor die Zweistaatlichkeit befürwortet hätten – das disqualifiziere das Einigungsprojekt insgesamt. Die Tagespolitik wird ihm suspekt. Demokratie brauche den Nationalstaat. Die globale Entwicklung, die er in seinem vorletzten Buch „Völkerwanderung“ nennt, lehnt er vehement ab.

Dennoch ist sein Rückblick frei von Bitterkeit – und lebt von seiner Detailgenauigkeit, Ironie und Formulierungskraft. Kurios ist, dass Hans-Peter Schwarz ungeniert die beachtliche Höhe ihm gebotener Honorare verrät. Misslich indes, dass dem Band ein Namensverzeichnis fehlt, dass er keine Zeittafel enthält und dass auf so einfache redaktionelle Eingriffe wie das Eliminieren von Wortwiederholungen oder altväterlicher Wendungen verzichtet wird. Dass auch mal von „deutsch“ die Rede ist, wenn es nur um die Bundesrepublik geht, ist kein leicht verzeihlicher Fehler. Einige allzu eitle Schnörkel hätten mühelos geradegezupft werden können. Und manche politische Entwicklung käme besser heraus, wenn der Text gestrafft worden wäre. „Lex Schwarz“ nennt der vielbeschäftigte Lehrstuhlinhaber das Limit von 450 Seiten für eine Habilitationsschrift. Dieses Gesetz hätte auch hier ohne inhaltliche Verluste Anwendung finden können.

Insgesamt bilden diese außergewöhnlichen Lebenserinnerungen – wie von Schwarz nicht anders zu erwarten – das Entstehen der alten Bundesrepublik vorzüglich ab. Seine Zeitzeugenschaft geht über Erleben hinaus: Bewusst hat er sie mitgestaltet und von ihrem Erfolg profitiert.

Implizit macht der Band deutlich, warum so vielen bewundernswürdigen Herren dieser Generation das Verständnis für Entwicklungen und Entscheidungen heute abgeht, warum sie ihrer Störgefühle oder gar ihrer Zukunftsangst im 21. Jahrhundert nicht Herr werden. Den Rückweg in eine imaginierte Welt vermeintlich übersichtlicher Verhältnisse zu wünschen, erscheint nach der Lektüre des Bandes indes noch abwegiger, als es ohnehin ist. Die Generation Merkel sollte dies – ebenso wie alle Nachkommenden – ermutigen, ihrerseits unbeirrt einen eigenen Weg zu gehen – die politischen Väter haben das auch getan und uns Europa vererbt. Die Generation Schwarz hatte ein schlimmeres Vermächtnis zu schultern.

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Jacqueline Boysen, geboren 1965 in Hamburg, freie Journalistin, Moderatorin und Publizistin, Berlin.

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