Evaluieren geht immer. Die Bundeswehr erstickt gerade an der Herausforderung, sich neu für die Verteidigung der NATO-Ostflanke aufzustellen – aber möglichst ohne wesentliche strukturelle Änderungen. In einem Sachstandsbericht zur Bestandsaufnahme des Bundesverteidigungsministeriums aus dem Juli 2022 kündigen die ministeriellen Bestandsaufnehmer an, „die Fähigkeiten und Strukturen sowie die Organisation der Bundeswehr kritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln, um ihre Einsatzbereitschaft zu stärken“.
Ende Januar 2022, vor dem Beginn des zweiten Ukraine-Krieges, hatte die Parole im Verteidigungsministerium sogar noch gelautet, strukturelle Veränderungen „nur dort“ vorzunehmen, wo „zwingende Nachbesserungen geboten“ seien. Mit der Zeitenwende scheint es nun allerdings doch weitere „dringliche Handlungsbedarfe“ zu geben. Frühere Pläne, etwa aus dem „Eckpunkte“-Papier des amtierenden Generalinspekteurs Eberhard Zorn, sollen dabei „einfließen“.
Bestandsaufnahme, kritische Bewertung – das kostet wertvolle Zeit und klingt so, als stünde man im Jahr acht nach dem ersten Ukraine-Krieg 2014 und den verteidigungspolitischen NATO-Beschlüssen von Wales erst am Anfang eines möglicherweise (aber nicht sicher) notwendigen Veränderungsprozesses der Bundeswehr.
Dabei wurden wichtige Richtungsentscheidungen längst getroffen: Das Weißbuch zur Sicherheitspolitik der Bundesregierung von 2016, die Konzeption und das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr von 2018, der Koalitionsvertrag 2021, die Zeitenwende-Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz vom 27. Februar 2022, das neue Strategische Konzept der NATO („Im euro-atlantischen Raum herrscht kein Frieden.“) – all dies erfordert tatsächlich „zwingend“ eine wieder zur Verteidigungsarmee umgegliederte Bundeswehr: weg vom „Afghanistan“-Szenario der letzten Bundeswehr-Sparreform von 2011, hin zur Hauptaufgabe der Collective Defense, zur Kollektiven Verteidigung! Weg vom Einsatz überschaubar großer Kontingente in multinationalen Krisenmissionen weltweit, hin zum Einsatz der gesamten Bundeswehr zur Verteidigung des Bündnisgebiets!
„Viele Mängelanalysen und Reformvorschläge liegen auf dem Tisch“, schrieben Generalleutnant a. D. Rainer L. Glatz und ich 2020 in einem Policy Paper der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP-Aktuell Nr. 84, Oktober 2020). Wir fordern darin keine neuen Untersuchungen oder Reformkommissionen (wie es in der Friedensdividende-Zeit im Jahr 2000 die Weizsäcker- beziehungsweise 2010 die Weise-Kommission waren), sondern Entscheidungen, die auf der Hand liegen.
In unserem Denkanstoß „Welche Reform die Bundeswehr heute braucht“ stellen wir fest: In den Jahren der Umfangsreduzierungen hat sich die Zahl der Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche weiter vergrößert. Zu Heer, Luftwaffe und Marine sind eigenständig Streitkräftebasis, Sanitätsdienst und der Bereich Cyber- und Informationsraum hinzugetreten, alimentiert aus den jeweils zuvor bereits bestehenden Strukturen. Dies erleichtert die Zusammenarbeit der Truppe zwischen den unterschiedlichen Teilstreitkräften und Organisationsbereichen nicht. Erhöht hat sich mit der Zergliederung jedoch die Zahl der Kommandostäbe.
Gewährleistung hoher Einsatzbereitschaft
Deshalb sollte geprüft werden, ob die Zahl der Organisationsbereiche verringert werden kann und verbleibende Strukturen sich flacher und schmaler gestalten lassen. Die Teilstreitkräfte und gegebenenfalls verbleibende Organisationsbereiche sollten jeweils über eine Kommandobehörde für ihren gesamten Verantwortungsbereich und falls notwendig über ein Amt für unterstützende Aufgaben wie Ausbildung, Planung, Materialerhaltung und Weiterentwicklung verfügen.
Die künftige Bundeswehrstruktur sollte die Personalstärke der Truppe (zulasten redundanter Stabsstrukturen) wieder erhöhen und durchhaltefähige organische Großverbände schaffen. Die für den anspruchsvollsten Hauptauftrag – Bündnis- und Landesverteidigung – ausgebildeten Kräfte müssen zusätzlich in der Lage sein, weltweite Einsätze zur Krisenintervention wahrzunehmen. Dieser Doppelauftrag verlangt die Vollausstattung mit Material, um eine jederzeit hohe Einsatzbereitschaft zu gewährleisten. Im Falle der Kollektiven Verteidigung unterstehen alle einzusetzenden deutschen Verbände von Heer, Luftwaffe und Marine den dafür eingerichteten NATO-Hauptquartieren.
Der Grundsatz, Verantwortung, Kräfte und Mittel in eine Hand zu geben, ist oberstes Gebot, das auch angesichts der heutigen Komplexität von Streitkräften nicht durchbrochen werden darf. Um das zu vermeiden, müssen die entsprechenden Fachleute, auch vonseiten der zivilen Wehrverwaltung, zur Beratung der Befehlshaber und Kommandeure organisch Teil der Truppenstrukturen sein. Divisionen, Brigaden und Kampfverbände müssen über Nachschub-, Transport- und Instandsetzungseinheiten beziehungsweise Teileinheiten verfügen, die ihnen strukturell eine gewisse Unabhängigkeit sichern.
Wenn aber die Einsatzbereitschaft von Waffensystemen und Großgerät in der Verantwortung der jeweiligen Kommandeure liegt, dann kann die gesamte Materialverantwortung während der Nutzungsphase nicht einem völlig anderen Organisationsbereich übertragen sein. Durch das Nadelöhr des Koblenzer Bundesamts für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr sind Instandsetzung und Ersatzteilversorgung auf dem Gefechtsfeld nicht zu gewährleisten. Die Gesamtverantwortung für das Material gehört in die Hand derjenigen, die für die Einsatzbereitschaft ihrer Teilstreitkraft insgesamt die Verantwortung tragen: in die Hand der Inspekteure.
Heute gibt es keine aus dem Stand verlege- und operationsfähigen Großverbände des deutschen Heeres mehr. Fest zugesagt sind der NATO inzwischen drei kampfstarke Divisionen (je etwa 20.000 Soldatinnen und Soldaten) mit acht bis zehn voll einsatzfähigen Brigaden; die erste Division 2025. Zurzeit ist jedoch keine einzige Brigade strukturell voll ausgestattet und autark.
Konzeptionelle Wahrheiten
Pläne zur Umgliederung existieren längst. Das Motto, das General Zorn im Interview mit der Zeitschrift des Deutschen Bundeswehrverbandes Die Bundeswehr im April 2022 ausgegeben hat, ist zweifellos richtig: Heute gilt mehr denn je „Train as you fight!“. Die ganze konzeptionelle Wahrheit muss dann allerdings auch heißen „Organize as you fight!“. Ein möglicher Bündnisfall oder eine schnelle abschreckende Krisenreaktion an der NATO-Ostflanke darf nicht mit zähen Bundeswehr-internen „Truppenstellerkonferenzen“ beginnen. Deutschland ist nach den USA, China und Japan die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, die zweitgrößte NATO-Nation, zweitwichtigster Beitragszahler der Vereinten Nationen und das bevölkerungsstärkste und reichste Land Europas. Jährlich zwei Prozent des deutschen Sozialprodukts für die Verteidigung auszugeben, würde unser Land in keinster Weise überfordern; auch drei oder vier Prozent nicht (wie in den USA), wenn es denn unbedingt sein müsste.
Schon der Koalitionsvertrag der Ampelparteien vom November 2021 gab, etwas verklausuliert, der neuen Regierung grünes Licht für das Erreichen der im atlantischen Bündnis vereinbarten Zwei-Prozent-Quote. Das Koalitionsziel lautet, drei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für „internationales Handeln“ auszugeben. Damit ließen sich Entwicklungshilfe (erforderlich: 0,7 Prozent) und Diplomatie auskömmlich finanzieren und gleichzeitig die NATO-Verpflichtung (bis 2024: zwei Prozent) erfüllen.
Mit den geplanten Zuflüssen aus dem nun errichteten 100-Milliarden-Euro-„Sondervermögen“ sollten die zwei Prozent schnell zu realisieren sein: eine solide Basis für die längst durchgeplante Vollausstattung und Modernisierung der Bundeswehr.
Gleichzeitig muss im Bundeshaushalt der reguläre Einzelplan 14 (Verteidigung) kontinuierlich aufwachsen, um auch nach Ausschöpfung des „Sondervermögens“ in einigen Jahren die Zwei-Prozent-Linie zu halten. Denn es werden ja weiterhin Kostensteigerungen bei Personal und Betrieb (unter den Bedingungen erheblicher Inflation) und natürlich die Materialerhaltung der dann neu zugelaufenen Waffen und Geräte zu finanzieren sein. Ein Einfrieren des Verteidigungsetats auf fünfzig Milliarden Euro, wie es der Haushaltsentwurf 2023 und die Mittelfristige Finanzplanung der Bundesregierung jetzt vorsehen, um die Schuldenbremse einzuhalten, ist keine gute Idee.
Grundlage für das zusätzliche Sondervermögen von 100 Milliarden ist und bleibt das fortgeschriebene, 2018 erlassene „Fähigkeitsprofil der Bundeswehr“, das damals Rüstungsinvestitionen in Höhe von insgesamt 200 Milliarden Euro bis 2031 vorsah, militärisch sauber abgeleitet aus den deutschen Kräftezusagen an die NATO nach dem ersten Ukraine-Krieg. Nur finanzierbar schien dieser Plan damals nicht.
Was den politischen Überbau angeht, liefert bemerkenswerterweise der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio in einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (21. März 2022) die perfekte Verbindung zwischen dem rotgrün-liberalen Streben nach einer regelbasierten Weltordnung auf der einen Seite und der Wiederherstellung militärischer Stärke auf der anderen. Ein wertebasierter Außenpolitik-Ansatz allein reiche nicht. Di Fabio schreibt von der „Notwendigkeit der machtpolitischen Deckung diplomatischer Verhandlungsmacht“. Es gehe um die „geopolitische Selbstbehauptung der Demokratien“: „Wenn die westlichen Demokratien sich angesichts offener militärischer Aggressionen behaupten wollen, müssen sie das Konzept der Nachhaltigkeit von der ökologischen Thematik, in der es eminent wichtig bleibt, auf machtpolitische Zusammenhänge ausdehnen.“
Deutschland tut dies nun. Hard Power zählt. Dreimal benutzte Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung den Begriff „Zeitenwende“. Nicht alles, was bisher außen- und sicherheitspolitisch gedacht wurde, ist falsch. Etwa weiter an den politischen Grundlagen europäischer Souveränität zu arbeiten, bleibt richtig. Aber vieles muss sich ändern, unsere Demokratie muss wehrhafter werden, wenn wir unsere Freiheit auf Dauer erhalten wollen. Dazu gehört auch, keine Angst vor einer neuen Bundeswehrreform zu haben.
Hans-Peter Bartels, geboren 1961 in Düsseldorf, promovierter Politologe, 2015 bis 2020 Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages, seit Mai 2022 Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, Berlin.