Was für eine Transformation! Rund 120 Jahre lang war der ehemalige deutsche Gouverneurspalast in der togoischen Hauptstadt ein für die breite Öffentlichkeit verbotener Ort. Ende November 2019 wurde das Prunkgebäude nach gut zwanzig Jahren des Leerstands und Verfalls als „Palais de Lomé“ wieder eröffnet. Was einst in Togo als Symbol der Unterdrückung galt, ist jetzt mit Kunst und Kultur aufgeladen. Ein zweifelsohne wegweisendes Projekt, weit über die Landesgrenzen hinaus. Rund ein Jahr zuvor eröffnete in Dakar das Musée des civilisations noires, ein beeindruckender, in seiner Form traditionellen Rundhütten nachempfundener Bau. In Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, entsteht derzeit ein neues historisches Museum, und in Benin City (Nigeria) soll ein zentrales Museum künftig Teile der weltberühmten Benin-Bronzen zeigen, die derzeit noch in diversen europäischen Museen liegen. Die afrikanische Museumswelt ist in Aufbruchstimmung.
Im Gegensatz dazu beschränkt sich die öffentlich geführte Debatte hierzulande leider fast ausschließlich auf das Thema Restitutionen. Eine Einengung des breiten Themenfeldes, die im Vergleich mit den der Zukunft zugewandten Kulturprojekten in vielen Teilen Afrikas irgendwie auch wieder sehr eurozentrisch wirkt. Um eines klarzustellen: Die Debatte über den richtigen Umgang mit Kulturgütern aus kolonialem Kontext ist richtig und überfällig, und gegenüber Restitutionen dürfen wir uns keinesfalls verschließen, und zwar dort, wo sie geboten sind. Bedauerlich ist die derzeit fast ausschließliche Fokussierung auf Rückgaben und das weitgehende Aussparen der vielen anderen Facetten, die eine partnerschaftliche und nachhaltige Zusammenarbeit von Museen in Afrika und Europa ermöglichen könnte. Das Humboldt Forum in Berlin wirkt dabei gleichermaßen als Projektionsfläche wie als Katalysator. Doch es geht nicht allein um das neue Schloss und die vergleichsweise kurze, aber nicht minder gewalttätige und mit Schuld beladene koloniale Vergangenheit Deutschlands, sondern längst um eine Diskussion von gesamteuropäischer Dimension.
Primat der Provenienzforschung
Ein kurzer Rückblick: Die Rede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron in Ouagadougou (Burkina Faso) im November 2017, in der er erstmals die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter versprach, war ein Paukenschlag und stieß auf überwältigende Resonanz auch in den Medien. Doch wie würde es dort weitergehen? Schon im Titel des Berichtes, den Bénédicte Savoy und Felwine Sarr im Auftrag Macrons ausgearbeitet haben, wird eine Maximalforderung an die französische Regierung ablesbar: „Die Restitution des afrikanischen Kulturerbes“. In mehreren Etappen sollten grundsätzlich alle Kulturgüter aus Afrika zurückgegeben werden. Dabei sei es völlig gleichgültig, ob die Stücke aus militärischen Strafexpeditionen stammten, geraubt, von Sammlern erworben oder bei Expeditionen von Forschern zusammen getragen wurden. Provenienzforschung und wissenschaftliche Aufarbeitung von Objektbiographien seien nicht wirklich zentral und würden von den Museen doch nur vorgeschoben, um auf Zeit zu spielen und einen bereits erwiesenen Unrechtszustand beliebig zu perpetuieren. Schließlich sei es nicht wichtig, zu wissen, in welchem Koffer die Objekte nach Europa gelangt waren; welch fundamentales Unverständnis dessen, worauf Provenienzforschung und Objektbiographien wirklich abzielen!
Die ersten Reaktionen auf das französische Papier in Deutschland waren geteilt. Anhänger postkolonialer Paradigmata nannten die Initiative eine Zeitenwende, eine Entscheidung von globaler Bedeutung, von der es jetzt kein Zurück mehr gäbe. Andere kritisieren dagegen den postkolonialen Jargon des Papiers, der von einer Ideologie des Sühnens und Büßens beherrscht war, ohne der Komplexität des Themas wirklich gerecht zu werden.
In den vergangenen Monaten machte sich nach der ersten Euphorie Ernüchterung breit. Fast nichts sei geschehen, sagte Felwine Sarr Ende Juli in einem ZEIT-Interview und attestierte der in Deutschland geführten Debatte, dass sie gar eine der fortschrittlichsten in Europa sei. Dies bestärkt uns in unserer Strategie des Primats einer gründlichen Provenienzforschung, aller dings immer gemeinsam mit Partnern und Akteuren aus den Herkunftsländern und Ursprungsgesellschaften, ohne die die Erforschung der Sammlungen nicht gelingen kann. Für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und ihre Staatlichen Museen zu Berlin gehört die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern aus zahlreichen Herkunftsländern seit geraumer Zeit zum Tagesgeschäft. Derzeit laufen verschiedene kooperative Forschungsprojekte und Vorhaben, nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der Gestaltung der Ausstellungsflächen im Humboldt Forum.
Es sind Schritte, die zusammen mit den Herkunftsländern geplant und ins Werk gesetzt werden, deren Bedürfnisse wir dabei aber auch bewusst in den Mittelpunkt stellen. Wir haben uns an unseren Partnern in Afrika, Asien, Amerika oder Ozeanien zu orientieren – nicht umgekehrt. Die wahre Komplexität des Themas ist ihnen sehr wohl bewusst. Auch sie wollen wissen, welche Geschichten hinter den Objekten stehen, das hören wir in unseren Gesprächen immer wieder. Und diese Geschichten lassen sich nur gemeinsam entschlüsseln. Auch sie wissen, dass ethnologische Sammlungen nicht nur Kunstwerke oder Objekte religiös-spiritueller Bedeutung umfassen, sondern zu großen Teilen auch Alltagsgegenstände oder gezielte Produktionen für den europäischen Sammlermarkt.
Gemeinsame Forschungsarbeit
Blicken wir nach Afrika. Die Forderung des wilhelminischen Deutschland nach einem „Platz an der Sonne“ hatte nicht nur im heutigen Namibia, sondern auch im Osten Afrikas gravierende Folgen für die dort lebenden Gemeinschaften. Die Kolonialisierung Tansanias stieß auf breitere Gegenwehr und war blutiger, als allgemein bekannt ist. Dem MajiMajiKrieg, den die Deutschen – unterstützt von Askaris und weiteren Hilfstruppen – mit äußerster Brutalität und nach dem Prinzip der verbrannten Erde führten, fielen Hunderttausende zum Opfer, die zum großen Teil infolge der Zerstörung von Dörfern, Feldern und damit des Entzugs jeglicher Lebensgrundlage ihr Leben verloren.
Rund 10.000 Objekte umfasst die Tansania-Sammlung des Ethnologischen Museums heute; eine Anzahl hiervon ist leider untrennbar mit der damaligen Gewaltherrschaft verbunden. Dieser Tatsache sind wir uns als Stiftung Preußischer Kulturbesitz sehr bewusst und stellen uns daher unserer Verantwortung. Bereits seit Juni 2016 läuft am Ethnologischen Museum das Pilotprojekt „Tansania–Deutschland: Geteilte Objektgeschichten?“, das ein Rahmenkonzept für die Erforschung der Provenienz problembeladener, insbesondere in der Kolonialzeit gesammelter Bestände entwickelt. Im Zuge der gemeinsamen Provenienzforschung wurden so 32 Objekte, unter anderem Gewehr kugeln, ein Pulverhorn, ein Beutel mit medizinischen und anderen rituellen Utensilien sowie eine Herrschertrommel, als eindeutig im Zusammenhang mit dem Maji-Maji-Krieg stehend identifiziert. Zusammen mit Wissenschaft lern aus Tansania wird diese Geschichte erforscht und im Humboldt Forum erzählt, und zwar in der Verantwortung von Kuratorinnen und Kuratoren aus Tansania. Es ist an der Zeit, diesen vergessenen Krieg in das Bewusstsein auch der Menschen in Deutschland zurückzuholen. Museen sind geradezu ideale Orte dafür, weil sie Millionen von Besucherinnen und Besuchern erreichen und sie mit schwierigen Kapiteln unserer Geschichte konfrontieren, die im Schulunterricht weitgehend unbeachtet bleiben.
Ergebnisoffener Prozess
Einen ähnlichen Grundansatz verfolgt unsere Zusammenarbeit mit Namibia; sie geht aber auch neue Wege. Im Rahmen einer Partnerschaft zwischen der Museums Association of Namibia (MAN) und der Stiftung Preußischer Kultur besitz waren seit Frühjahr 2019 mehrere Forscherinnen und Forscher aus Namibia zu Gast im Ethnologischen Museum. In enger Absprache mit Community-Vertretern wurden 23 Objekte aus dem Gesamtbestand der 1.400 Nummern umfassenden Sammlung ausgewählt, die bald nach Namibia reisen. Erstmals in Deutschland findet ein solch ergebnisoffener Prozess der Zusammenarbeit statt, der maßgeblich von den namibischen Partnern bestimmt wird. Vor Ort sollen die Objekte in den kommenden drei Jahren weiter erforscht werden und in Namibia zeitgenössischen Künstlern für eine krea tive Auseinandersetzung zur Verfügung stehen. Im Laufe dieses Projektes werden wir gemeinsam entscheiden, welche Objekte nach Namibia zurück kehren und welche in Berlin verbleiben sollen. Zurück in die koloniale Vergangenheit ebenso wie nach vorn in eine kreative Zukunft blicken wir im Humboldt Forum außerdem mit einer von der namibischen Modedesignerin Cynthia Schimming geschaffenen Kunstinstallation. Auch mit dem Nachbarland Angola haben wir 2018 eine Kooperation abgeschlossen; ein Restaurierungsworkshop hat bereits im Mai 2019 in Luanda stattgefunden, und zahl reiche weitere Vorhaben sind angelaufen.
Weithin bekannt sind die berühmten Benin-Bronzen. Als britische Truppen als Vergeltung für die Ermordung britischer Gesandter 1897 den Palast des Königs von Benin im heutigen Zentralnigeria plünderten, gelangte mit das Beste und Teuerste nach Europa, was die Kunst Afrikas zu bieten hatte: Gedenkköpfe aus Bronze, Reliefplatten und Figurengruppen aus Messing und prunkvoll geschnitzte Elfenbeinzähne rissen bei ihrer Ankunft in Europa Kunsthistoriker zu begeisterten Vergleichen mit Werken der europäischen Renaissance hin. Die Benin-Dialoggruppe, der Vertreter aus Nigeria sowie aller zumeist europäischen Museen mit Werken aus Benin angehören, widmet sich seit einigen Jahren diesen Sammlungen und soll Wege eines künftigen gemeinsamen Umgangs erarbeiten. Erklärtes Ziel ist die Errichtung eines großen Museums in Benin-City, das wechselnd mit Benin-Bronzen aus verschiedenen europäischen Museen bespielt werden soll. Eingedenk der Erwerbungsumstände dieser Kunstwerke kann und wird es dabei gewiss nicht bei Leihgaben bleiben können; Rückgaben sind in Betracht zu ziehen.
„Teilhabe“ als supranationale Idee
Wenn auch das Konzept von Shared Heritage – „Geteiltes Erbe“ – wie so vieles im Umgang mit nicht europäischen Kulturgütern nicht unumstritten ist, halte ich den grundlegenden Gedanken, dass das kulturelle Erbe von Museen lediglich verwahrt wird, aber als Besitz der ganzen Menschheit gilt, was viele verschiedene Möglichkeiten des Umgangs damit eröffnet, für einen vielversprechenden und zukunftsfähigen Weg. Anwendbar ist dieses Konzept je doch nur unter der Voraussetzung legalen Erwerbs. Shared Heritage bedeutet für mich nicht „teilen“, sondern „Teilhabe“ und ist damit in gewisser Weise eine supranationale Idee. Das bedeutet, dass das in Deutschland und anders wo in Europa verwahrte kulturelle Erbe von anderen Kontinenten auch den Herkunftsländern und Ursprungsgesellschaften zur Verfügung stehen muss. Ein solches Konzept ist ohne wirkliche Dekolonisierung und Demokratisierung von Museen nicht denkbar.
Wichtig sind dabei erstens der Einbezug von Kuratoren aus den Herkunftsländern und Ursprungsgesellschaften sowie das Aufbrechen alter Deutungshierarchien. Das wird vor allem dort wichtig, wo es darum geht, die vielfältigen Perspektiven und Bedeutungsebenen der Objekte zu erschließen und den Besucherinnen und Besuchern im Museum zu vermitteln, den Ursprungsgesellschaften damit eine Stimme zu geben.
Zweitens ist entscheidend, dass das hier versammelte materielle Wissen über die Kulturen der Welt jedermann allumfänglich zugänglich ist, weshalb die digitale Bereitstellung mit Angabe sämtlicher zur Verfügung stehenden Informationen und deren kontinuierliche Ergänzung im Zuge der fortschreitenden Erforschung eine zentrale Verpflichtung ist. Derzeit werden – finanziert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft – sämtliche Erwerbungsakten des Ethnologischen Museums in Berlin von Anbeginn bis 1947 digitalisiert. Zukünftig wären die Transkription der in Sütterlin oder in Kurzschriften der vorletzten Jahrhundertwende verfassten Unterlagen sowie eine Übersetzung ins Englische wünschenswert. Hier ist noch viel Arbeit zu leisten, und schnelle Erfolge sind in der Forschung nur selten zu erzielen. Wer dies als Verzögerungstaktik abtut und die Ernsthaftigkeit dieser Anstrengungen bezweifelt, versteht nur wenig von der Komplexität von Sammlungs- und Provenienzforschung.
Drittens sollte man Teile der Sammlungen häufiger reisen lassen und sie dadurch mehr Menschen zugänglich machen, mit den Museen der Herkunftsländer in eine viel engere Kooperation eintreten und Bestände zeitweise für Wechselausstellungen austauschen, und zwar ebenso in die eine wie in die andere Richtung. Das Humboldt Forum könnte ein Epizentrum einer solch neuartigen Beziehung mit der Welt sein. Wir haben den Eindruck, dass dies gerade für unsere Kolleginnen und Kollegen in Afrika ein ganz wichtiges Anliegen darstellt.
Und viertens muss zu einer gleichberechtigten Partnerschaft auch die Rückgabe von Objekten gehören, die nachweislich aus Unrechtskontexten stammen oder wenn sie für die Ursprungsgesellschaft von besonderer Bedeutung sind. Shared Heritage kann immer nur so gut sein wie die Erforschung der Erwerbungsumstände und die Rekonstruktion der Objektbiographien.
Rückgabe menschlicher Gebeine unerlässlich
Ganz anders verhält es sich bei den großen anthropologischen Sammlungen mit Tausenden menschlicher Gebeine und Schädel. Hier ist ganz klar: Provenienzforschung darf bei Human Remains aus kolonialen Kontexten nicht klären helfen, ob wir diese zurückgeben oder nicht, sondern sie dient ausschließlich der Klärung der Frage, an wen sie zu repatriieren sind. Und es ist unsere Pflicht, menschliche Gebeine mit allen bei uns und anderswo noch verfügbaren Informationen zurückzugeben.
Ob Kulturgüter oder anthropologische Sammlungen: Es geht um Langfristigkeit und Nachhaltigkeit, gerade in der Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern und den betroffenen indigenen Gemeinschaften. Entscheidend muss sein, dass diese Forschungen nicht wieder allein von Europäern, sondern gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Afrika, Asien, Ozeanien oder Amerika initiiert, geplant und realisiert werden. Auf dieser Grundlage kann ein neues Miteinander entstehen, bei dem Augen höhe eine Selbstverständlichkeit ist. Ohne ein stärkeres Engagement der öffentlichen Hand ist das jedoch nicht zu leisten.
Es ist richtig, dass Kolonialgeschichte immer eine Geschichte von ungleicher Macht, Repression und Rassismus ist. So wie jede Geschichte ihre zwei Seiten hat, wird der Besucher bei der Präsentation der bronzenen Reliefplatten aus Benin künftig auf der Vorderseite die kunstvollen Darstellungen dieser Stücke bewundern können, während ihn die Rückseiten mit der Erwerbungsgeschichte konfrontieren: Interviews, Filme und Fotos thematisieren dort Ursache und Folgen der Kolonialisierung mit den Stimmen der Opfer; auch das ist Shared Heritage. Deshalb ist die Befürchtung abwegig, eine Ausstellung mit in dieser Zeit entstandenen Sammlungen im Humboldt Forum würde unweigerlich noch im 21. Jahrhundert koloniale Präsentationsmuster im Sinne einer Zurschaustellung exotischer Kuriositäten auf Kosten der Ursprungskulturen reproduzieren und perpetuieren.
Kunstwerke gemeinsam entschlüsseln
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ohne das Humboldt Forum im wieder aufgebauten Berliner Schloss die Debatte über den deutschen Kolonialismus und seine Folgen heute anders führen würden. Deutschland hat viele völkerkundliche Sammlungen und wunderbare Museen, aber kein Haus, das Europa und Globalisierung, Menschheitsgeschichte in ihrer ganzen historischen Tiefe und aktuelle Debatten der Gegenwart zugleich zum Thema haben wird.
Im Sinne von Shared Heritage müssen wir die Objekte und Kunstwerke gemeinsam entschlüsseln und ihnen ihre Geschichten entlocken. Nur dann können sie neues Wissen über die Welt vermitteln und alte und falsche Denkmuster aufbrechen. Nur so lassen sich den Menschen Toleranz und Respekt gegenüber anderen Kulturen vermitteln. Und das ist die heute vielleicht wichtigste Mission des Humboldt Forums im neuen Berliner Schloss.
Hermann Parzinger, geboren 1959 in München, Prähistoriker, seit 2008 Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin.