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(Sich selbst) Vorbild sein?

Über Autoritäten in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft

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Die etymologische Bedeutung von Autorität (lateinisch: auctoritas) schließt das Vorbild mit ein, sprich: Personen mit Ansehen, Geltung und sozialem Einfluss, Träger von Werten. Zwar stellt nicht jede Autorität auch ein Vorbild dar, doch jedes Vorbild hat Autorität und ist, zumindest im moralischen Sinne, ein Muster für Nachahmung.

In gesellschaftlichen Umbruchphasen und Krisensituationen, die die vergangenen Jahre durch Pandemien, Inflation und Krieg geprägt haben, dienen Vorbilder vor allen Dingen als Projektionsflächen für konfliktbehaftete Themen, die oft als moralische Debatten geführt werden. In ihnen manifestiert sich eine durch Diskurse kaum aufzulösende Opposition.

In einer integrativen Gesellschaft können Konflikte und Kontroversen, so der Soziologe Aladin El-Mafaalani, als stabilisierende Elemente betrachtet werden, weil sie zeigen, dass mehr Interessen und Sichtweisen in der Öffentlichkeit präsent sind. Doch resultieren aus den teils stark verhärteten Debatten immer wieder Konflikte, die die soziale Ordnung zunächst fragil erscheinen lassen. Die mit harten Bandagen geführten Dispute verwandeln das Antlitz der Öffentlichkeit, trüben mitunter die persönliche Urteilskraft und stellen bewährte Wahrnehmungsmuster auf die Probe.

Zu beobachten ist dann nicht nur eine Veränderung, sondern teilweise die Auflösung institutionalisierter Vorbilder in einer sich permanent ausdifferenzierenden Gesellschaft. Dies betrifft nicht nur Familienstrukturen, Klassenverhältnisse und alte Loyalitäten, sondern auch öffentliche Institutionen mit Disziplinierungscharakter – von der Schule bis zum Militär. Mit dem Verlust traditioneller Sicherheiten korrespondieren neue Formen sozialer Kontrolle, neue Freiheiten und ein neuer, sozialer Anpassungsdruck.

 

Das souveräne Selbst

 

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben dargelegt, wie in Zeiten zunehmenden gesellschaftlichen Drucks auf das Individuum sich dieses selbst gegen Zustände auflehnt, die vermeintlich seine eigene Autonomie gefährden. Daraus resultieren eine starke Identifikation mit dem eigenen, als souverän reklamierten Selbst sowie die Rückbesinnung auf die persönliche Autonomie: Man wird sich selbst zum Vorbild. Es ist das vorläufige, rebellische Ende einer Suche nach sozialen Sinnquellen in einer leistungsorientierten und überwiegend nach strikten Marktgesetzen funktionierenden Welt, in der man längst den Überblick verloren hat. Der Wunsch, ein erfülltes, individuelles Leben zu führen, scheint ebenso erschwert wie das Streben nach Differenz und Selbstverwirklichung, die sich in Massengesellschaften in unzähligen Nachahmungsprozessen auflösen. In dieser für das Individuum dilemmatischen Situation werden demokratische Institutionen mitsamt ihren Normen und Gesetzen als Beschneidung individueller Autonomie verstanden oder als Kränkung des Selbst wahrgenommen, das insofern, so die Überzeugung, aktiv gegen eine feindselige Außenwelt verteidigt werden muss.

Das Gefühl der Kränkung geht hierbei oft auf Kränkungen des Selbst in der eigenen Biografie zurück, die auf regressive Weise wieder und wieder reproduziert werden, weil frühe Kränkungen nicht aufgearbeitet wurden und so unbewusst weiterwirken. Psychologen sprechen vom „inneren Kind“, das sich immer dann meldet, wenn unbewältigte Konflikte der Kindheit das Handeln des Erwachsenen bestimmen und als bedrohlich empfundene Situationen jenen Situationen gleichen, die zu einem früheren Zeitpunkt die Autonomie des Selbst angetastet haben.

In Gekränkte Freiheit zeigen Amlinger und Nachtwey, zu welchen Problemen das Spannungsverhältnis zwischen einer als bedrohlich und chaotisch wahrgenommenen Außenwelt einerseits und dem andererseits zusehends verunsicherten, doch weiterhin nach persönlicher Freiheit strebenden Selbst führt. Sie diagnostizieren einen wachsenden Zorn auf die staatliche Macht, die Wissenschaft und die Medien, als deren Opfer sich der Einzelne nun darstellt. Was meist unbemerkt bleibt: Es handelt sich um das Opfer, das man zu einem früheren Zeitpunkt gewesen ist. Das Selbst hält sich zwar für souverän, realisiert allerdings nicht, dass die Gekränktheit es im Grunde daran hindert, wirklich frei zu sein.

 

Elterliche Vorbilder und neue Autoritäten

 

Die Schlussfolgerung des vermeintlich souveränen Selbst erinnert im Kern an Friedrich Nietzsches Diktum aus dem 19. Jahrhundert, das verlangt, sich aller Vorbilder zu entledigen und selbst zu denken, um nach eigenem Gutdünken endlich selbstständig und mündig zu werden. Faulheit und Trägheit seien es, die das Individuum in der eigenen Unmündigkeit, mitunter in blindem Gehorsam verharren ließen.

Allerdings ist der Mensch von Geburt an auf Vorbilder angewiesen. Die ersten sind in der Regel die eigenen Eltern, ohne deren Anleitung und Fürsorge er in der Welt verloren wäre. Eltern tradieren Kultur in all ihren Facetten, damit wir lernen, eines Tages auf eigenen Füßen zu stehen. Diese Form von Autorität sei keine Eigenschaft einer Person, so der Schweizer Erziehungswissenschaftler Roland Reichenbach, sondern muss als Eigenschaft einer Beziehung verstanden werden. Kinder vergewissern sich in dieser Beziehung ihrer Freiheit weniger durch Nachdenken als vielmehr durch Handeln und Ausprobieren. Dieses kommunikative Unterfangen namens Erziehung kann unter Umständen missglücken: Die Fallbeispiele Schwarzer Pädagogik sind Legion. Sie zeigen, wie tabuisierte und unterdrückte Aggressionen später an anderen Menschen ausgelebt werden und neue Autoritäten und (gegebenenfalls schlechte) Vorbilder die Allmacht des elterlichen Vorbildes ersetzen. Dies zeigt: Die Macht von Vorbildern ist immer prekär. Ihre Wirkungen sind weder vorhersehbar noch kontrollierbar. Das Andere einer akzeptierten Ordnung verführt nicht minder: Was bewundert werden soll, stößt manchmal ab, und was erschrecken soll, zieht nicht selten in seinen Bann.

Keine Gesellschaft funktioniert ohne Vorbilder, die Werte verkörpern, deren Autorität – und damit der jeweils personifizierte Wert – jedoch stets umstritten respektive ambivalent ist. Bereits die Art und Weise, wie Werte über Vorbilder ausgehandelt werden und wie in dieser Auseinandersetzung kommuniziert und argumentiert wird, sagt viel über diejenigen aus, die sich dieser Auseinandersetzung stellen. Die zentralen Fragen lauten insofern: Wie wollen wir über Konflikte debattieren? Welche Streitkultur möchten wir innerhalb unserer Gesellschaft etablieren? Denn auch die Art und Weise, wie Meinungsverschiedenheiten gelebt werden, richtet sich an Vorbildern aus. Unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt und die Formen der Kommunikation werden frühzeitig in der Kindheit über Erziehungsstile und Bildungsangebote erlernt. Eltern sind Vorbilder für ein Kind und begleiten es bei allen wichtigen Entwicklungsschritten. Sprechweisen, Habitus und Verhalten eines Menschen gehen nicht nur, aber doch zu einem großen Teil auf das Konto der Erziehung.

Die Familientherapeutin Sandra Konrad hat aufgezeigt, wie wichtig es ist, sich von diesen Bindungen wieder zu lösen, um ein wirklich autonomes Leben führen zu können. Psychologen sprechen von Selbst-Differenzierung, das heißt der gesunden Ablösung von den Eltern, die über so lange Zeit Autoritäten und Vorbilder waren. Eine gesunde Ablösung bedeute, so Konrad, „weder in Hass noch in […] selbstverleugnender Loyalität mit den Eltern verbunden zu sein, sondern sich so weit befreit zu haben, dass wir wählen können, was wir verzeihen, was wir ablehnen und was wir loslassen möchten“. Dies geschieht nicht von heute auf morgen; es kann ein langer und steiniger Weg sein, an dessen Ende man jedoch wissen sollte, wer man selbst ist, um Halt und Orientierung zu finden. Machen wir uns zeitlebens abhängig von unseren Vorbildern, hemmt uns diese Abhängigkeit meist, als Erwachsene zu uns selbst zu finden und endlich „frei“ und nicht bloß „gekränkt“ wie ein Kind und voller Zorn auf staatliche Macht, Wissenschaft und Medien zu sein. Andererseits, weiß Sandra Konrad, können Eltern im Prozess der Ablösung ebenfalls ein Vorbild sein: „Sie können vorleben, wie es gelingt, mit Veränderungen positiv umzugehen und existenzielle Sinn- und Lebensfragen nicht aufzuschieben, sondern bewusst zu beantworten und sich dadurch weiterzuentwickeln.“

Einmal mehr wird der Stellenwert von Erziehung und Bildung deutlich, wenn es darum geht, an einer Gesellschaft autonomer Individuen zu arbeiten. Denn Kränkungen des Selbst schlagen am Ende auf die Autorität demokratischer Institutionen, Normen und Gesetze zurück. Zu einer vorbildlichen Erziehung gehören daher nicht nur Gelassenheit und Vertrauen, sondern auch das Loslassen, damit heranwachsende Menschen eines Tages in der Lage sind, offene Diskurse zu führen, die Oppositionen und Antagonismen nicht nur immer wieder zementieren. Die Frage, die sich insofern alle Individuen einer Gesellschaft permanent neu stellen müssen, lautet: Welches Vorbild will ich (mir) selbst sein?

 

Jürgen Nielsen-Sikora, geboren 1973 in Köln, seit 2018 außerplanmäßiger Professor für Bildungsphilosophie am Hans Jonas-Institut, Universität Siegen.

 

Literatur

Amlinger, Carolin / Nachtwey, Oliver: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Suhrkamp, Berlin 2022.

El-Mafaalani, Aladin: Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.

Konrad, Sandra: Nicht ohne meine Eltern. Wie gesunde Ablösung all unsere Beziehungen verbessert, Piper, München 2023.

Nielsen-Sikora, Jürgen / Schütte, André: Wem folgen? Über Sinn, Wandel und Aktualität von Vorbildern, Metzler, Stuttgart 2023.

Reichenbach, Roland: Pädagogische Autorität. Macht und Vertrauen in der Erziehung, Kohlhammer, Stuttgart 2011.

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