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Die Wahl Trumps spaltete die US-Gesellschaft

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Wer nicht ständig auf die Geschwindigkeitsbeschränkungen achtet, der schafft die 640 Kilometer von Grundy im Buchanan County im westlichen Virginia bis nach Washington, D. C. in weniger als sechs Stunden. In den USA mit ihren imposanten Dimensionen gilt das als eher kurze Distanz. Grundy und Washington sind demnach fast benachbart. Und doch gibt es wenige Kommunen, die weiter auseinanderliegen könnten.

Washington? Diese Stadt mit den Studierten, die sich alle so wichtig nehmen, die für irgendeine Regierungsbehörde arbeiten oder als Lobbyisten für die Industrie und doch nichts wissen vom wahren Leben? Wo man stets das Hohelied auf alternative Energien singt und am Wochenende mit dem schweren SUV oder dem Flugzeug verreist und dabei ganz konventionelle Brennstoffe verbraucht? Hillary Clinton, die Demokratin, erzielte in Washington, D. C. im November knapp 91 Prozent der Stimmen, für Donald Trump fielen ganze vier Prozent ab.

Und dann Grundy, etwas über 1.000 Einwohner, ein Städtchen inmitten von Dörfern in den Kohlerevieren der Appalachen. Die Schornsteine der Förderanlagen entlang des Levisa Fork River zischen nachts mit langen gelben Feuerzungen den Himmel an. Die Menschen hier sind Bergarbeiter, oder sie haben Kumpel in der Familie. Manche leiden unter Staublunge, andere haben Angehörige viel zu früh verloren. Einige offenbaren beim Lachen Zahnstümpfe im Mund. Der Zahnarzt ist zu teuer. Aber alle in Grundy und die gut 20.000 Menschen im gesamten Buchanan County schwören auf die Kohle, die ihre Region seit der Mitte des 19. Jahrhunderts groß gemacht hat. Bis vor einigen Jahren eine geringere Nachfrage und schärfere Umweltschutzauflagen Zechen sterben ließen und viele arbeitslos machten.

Früher gewannen stets die Demokraten

Früher gewannen in den kleinen Nestern des County stets die Demokraten. Zuletzt war es John Kerry, der in den Präsidentschaftswahlen 2004 US-weit allerdings gegen George W. Bush verlor. Vier Jahre später wollten sie in Grundy von den Demokraten nichts mehr wissen, weil Barack Obama, dieser „Neue“, „dummes Zeug“ erzählte von „erneuerbaren Energien“ und dass „Kohle keine Zukunft“ habe. Heute setzt der County nahezu geschlossen auf Donald Trump. Bei den Primaries im Frühling 2016 erhielt der Milliardär über siebzig Prozent der Stimmen; in kaum einer Kommune in den gesamten USA bekam er mehr. Bei der Generalwahl im November siegte Trump gegen Hillary Clinton mit achtzig zu achtzehn Prozent.

Wer verstehen will, wie Trump die Wahlen gewinnen konnte, muss Amerikas ländliche Regionen besuchen. Hier hat das Leben wenig gemein mit dem schnellen Takt, dem multikulturellen Antlitz und der kosmopolitischen Ausrichtung in küstennahen Städten wie New York oder Los Angeles oder in Metropolen wie Houston oder Chicago. Hier zählen die sehr ursprünglichen amerikanische Werte, wie sie Trump als Wahlkämpfer ansprach: das Vertrauen in die eigene Kraft, der eigenen Hände Arbeit, der Glaube und viel Gottergebenheit. Dazu das Misstrauen gegen „big government“ und die Ablehnung einer fernen Elite vor allem in Washington, die man für die wirtschaftlichen Probleme verantwortlich macht.

Stadt und Land in den gesamten USA votierten bei den Präsidentschaftswahlen 2016 sehr unterschiedlich. Trump räumte in den ländlichen Gebieten ab. Er holte rund fünfmal so viele Countys wie Clinton, nämlich 2.584 gegenüber 472. Aber in den urbanen Wahlbezirken der Demokratin leben deutlich mehr Menschen, und sie erwirtschaften fast zwei Drittel (64 Prozent) des Bruttoinlandsproduktes. Darum hatte Clinton am Ende fast drei Millionen Direktstimmen (popular vote) Vorsprung. Präsident wurde dennoch Trump, weil er das electoral vote der Wahlleute in den einzelnen Bundesstaaten mit 304 zu 227 klar für sich entschied.

Die Republikaner schneiden auf dem Land und in Vorstädten traditionell besser ab, während die Demokraten in den großen Metropolen dominieren. Trump gelang es aber zusätzlich, jene frustrierten „Reagan-Democrats“ zurück in die Wahllokale zu holen, die nach Ronald Reagan nicht mehr gewählt hatten: Die Demokraten sind ihnen zu links, die Republikaner zu wenig den Interessen der Blue-Collar-Arbeiter verpflichtet. Und dann kam ausgerechnet der New Yorker Milliardär und sprach ihre Sprache. Für Law and Order, gegen illegale Immigration, gegen teure Auslandseinsätze, während in den USA die Infrastruktur zerfällt und Schulen mies ausgestattet sind. So führte der Milliardär aus Manhattan die Arbeiterrevolution an, in der das Land die Stadt besiegte.

Andrew Jackson und Donald Trump

Vor knapp 200 Jahren passierte das schon einmal. Da wurde Andrew Jackson, der harte Bursche aus dem Grenzgebiet der Carolinas zum noch unbesiedelten Westen von den Amerikanern auf dem Land gegen den Widerstand der Amerikaner in den Städten gewählt. Jackson, von 1829 bis 1837 der siebte US- Präsident, sei ein „jähzorniger Mann von bescheidenen Talenten“, urteilte damals Alexis de Tocqueville in seinem bis heute inspirierenden Werk Über Demokratie in Amerika, und er schrieb weiter: „Nichts in seiner gesamten bisherigen Karriere hat je gezeigt, dass er qualifiziert wäre, ein freies Volk zu regieren; und tatsächlich hat ihn die Mehrheit der gebildeten Klassen der Union stets abgelehnt.“

Kommt uns das bekannt vor? Jackson, mit dem sich Trump vergleicht, seitdem Historiker auf die Parallelen zwischen beiden Präsidenten hingewiesen haben, wollte den „einfachen Amerikanern“ die Macht zurückerringen von einer „Elite“, die sich in Washington ähnlich dem Adel in Europa gebildet habe. Zudem widersetzte er sich der Gründung einer nationalen Bank, die nur dem Ziel diene, im Interesse des Auslands den Amerikanern das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Die Verheißungen der „Jacksonian Democracy“ klangen sehr ähnlich wie Trumps Versprechen, den „Sumpf in Washington“ auszutrocknen, den Einfluss von „Wall Street“ zu stoppen, die „Stimme der vergessenen Amerikaner“ zu werden und die Macht „dem Volk“ zurückzugeben. Damals war Amerika ausgesprochen ländlich. Obwohl Städte wie Boston und vor allem New York rasant wuchsen, lebten 1830 nur 7,2 Prozent der Menschen in Ortschaften mit mehr als 2.500 Einwohnern.

Hingegen gilt das heutige Amerika als urbanisiert. Fast vier von fünf Amerikanern leben in Städten oder städtischen Gebieten, sagt die Statistik. Doch bei genauerem Hinschauen ergibt sich ein anderes Bild. Von diesen 79 Prozent vermeintlicher Städter leben wiederum rund achtzig Prozent in kleinen Ortschaften mit weniger als 20.000 Einwohnern. Sie haben in ihrer Lebensweise wenig gemein mit den Landsleuten in New York City, Los Angeles oder Chicago und den übrigen Metropolen der USA. Amerika ist bis heute recht rustikal geblieben, und auch das erklärt, warum – ebenso wie zu Jacksons Zeiten – bei der Wahl von Trump das ländliche Amerika das städtische herausfordern und besiegen konnte.

"Hillbilly-Elegie"

Als „Hillbillies“ oder „Hinterwäldler“ werden die Menschen auf dem Land oft abgewertet. Das hat mit der Lebenssituation der meisten von ihnen wenig zu tun. Aber es gibt noch jene archaischen Strukturen, die J. D. Vance in seinem faszinierenden und auch auf Deutsch erschienenen Buch Hillbilly-Elegie (2016) über seine Familie und eine „Gesellschaft in der Krise“ beschreibt. Vance wuchs auf in Ohio im industriellen Rust Belt, wo die Strukturveränderungen und der Niedergang der Produktion für besondere Verwerfungen unter Menschen mit zumeist geringer Schulbildung gesorgt haben.

Da ist beispielsweise Onkel Pet, Besitzer eines kleinen Bauunternehmens. Einmal fuhr bei ihm ein Truck vor mit einer Lieferung, und der Fahrer, wegen seiner Größe und Haarfarbe Big Red genannt, bellte Pet an: „Lad’ das ab, du Hurensohn!“ Der Angesprochene monierte, das sei eine Beleidigung seiner Mutter, und als der Fahrer anstelle einer Entschuldigung das Wort wiederholte, zerrte Pet ihn aus der Fahrerkabine, „schlug ihn bewusstlos und schlitzte ihn mit einer elektrischen Säge auf“. Der Fahrer wäre beinahe verblutet, „er überlebte nur, weil er sehr schnell ins Krankenhaus gebracht wurde“, schreibt Vance, der in diesem Milieu aufwuchs, dann als einer der wenigen den Absprung schaffte und die Eliteuniversität Yale besuchte.

Die Ehre von Frauen wird verteidigt, ob es sich um die Mutter, die Schwester oder die Gattin handelt. Die zu verteidigende Ehre der Frauen geht jedoch nicht so weit, schreibt Vance, dass man das Mädchen, das man geschwängert hat, heiraten muss oder dass der Vater bei der Familie bleibt, wenn die Zahl der Kinder zu groß geworden ist und die Probleme damit wachsen. Bei Tocquevilles Beobachtungen aus der Jacksonian Democracy klingt dies ähnlich: „In einem solchen Land haben Männer eine Ahnung von den Regeln der Ehre, aber selten Zeit, ihnen ihre Aufmerksamkeit zu widmen.“

Der Niedergang der Industrie in den USA hat in den Stahl- und Kohlerevieren des ländlichen Amerika zu einer Arbeitslosigkeit geführt, die ungefähr doppelt so hoch ist wie im US-Durchschnitt (4,4 Prozent im April 2017). Im Buchanan County in Virginia etwa gab es einst 300 Kohleminen. Übrig geblieben sind 22.

Aber nicht nur Arbeitsplätze wurden vernichtet. Den schwindenden Strukturen und Perspektiven folgten Alkoholismus, Medikamentenmissbrauch und harte Drogen. Im südwestlichen Pennsylvania kostet ein Päckchen Heroin acht Dollar, kaum mehr als eine Schachtel Zigaretten (6,85 Dollar). Die Polizei veröffentlichte mehrfach Fotos von jungen weißen Eltern, die wegen einer Überdosis vorn auf den Sitzen ihres geparkten Autos das Bewusst- sein verloren haben, während auf der Rückbank Kleinkinder heulen.

Die Menschen sind antriebslos geworden, beschreibt Vance die Situation. Agonie ist zum herrschenden Wesenszug geworden. Man hat sich an staatliche Wohlfahrtsprogramme gewöhnt. Selbst junge Leute, die einen Job finden, verlieren ihn oft wieder, weil sie das regelmäßige frühe Aufstehen nicht mehr gewöhnt sind.

Zurück im demokratischen Abstimmungsprozess

Und dann kam Trump. Er versprach im Wahlkampf, die Fabriken aus China und Mexiko zurückzuholen und die Kohle wieder fördern zu lassen wie früher. Doch der Großteil der Arbeitsplätze ist gar nicht in billigere Länder abgewandert, sondern der Automatisierung zum Opfer gefallen. Diese Jobs werden nicht zurückkommen. Auch die Renaissance der Kohle bleibt für die überschaubare Zukunft eine Illusion, weil die Förderung von Erdgas wesentlich preiswerter ist. Nur der höherwertige Koks, der zur Eisenverhüttung genutzt wird, verspricht weiterhin gute Gewinne; er ist im Buchanan County, aber längst nicht in allen amerikanischen Kohlerevieren zu finden.

Und dennoch: Trump hat es geschafft, das ländliche Amerika nach Dekaden eines frustrierten Rückzugs zurückzuholen in den demokratischen Abstimmungsprozess. Das ist ein bleibendes Verdienst; die Kandidaten und Präsidenten nach ihm werden dieser Zäsur Rechnung tragen und Ideen entwickeln müssen, wie man das rustikale und das urbane Amerika wieder näher zusammenführt.

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Ansgar Graw, geboren 1961 in Essen, seit 2009 Auslandskorrespondent in Washington, D. C. (USA), „Die Welt“ / „Welt am Sonntag“.

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