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Einladung zu einer ressourcenorientierten Betrachtung des Berliner Schulwesens

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Berliner Schulen sind schlecht, so lautet ein deutschlandweites Credo! Es begegnet zum Beispiel bei Eltern, die nach Berlin ziehen und sich sorgen, ihre Kinder könnten hier ins Bildungsabseits geraten. Daran ändert sich nichts, wenn die „PISAner“ mal leichte Verbesserungen vermelden. Wie bei schulischen Karrieren entscheidet über die Ausbildung guter Resilienz auch in Institutionen nicht zuletzt die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den selbstgemachten Ursachen von Misserfolgen. Die Larmoyanz, mit der in Berlin gern auf externe Ursachen, wie auf die fehlende finanzielle Ausstattung, auf den hohen Anteil von Kindern mit nichtdeutscher Herkunftssprache verwiesen wird, ist weder hilfreich, noch zeugt sie von Wahrhaftigkeit. Die angeblich für den Erfolg von Schulen so entscheidende Schüler-Lehrer-Relation ist in Berlin in manchen Schularten luxuriöser ausgestattet als vielerorts. Und die Integrationsleistungen, die Schulen in anderen Bundesländern abverlangt werden, sind nicht geringer als jene in Berlin. Die nah am Komplex siedelnde Großspurigkeit mancher Hauptstädter befeuert – verstärkt durch diese selbstmitleidigen Lebenslügen – das hämische Urteil von außen: Flughafenplanung, der Baueklat um die Staatsoper Berlin, Schule … „die können das halt nicht!“ Kennt man eine ähnliche Konstellation von Vorurteilen und Resignation nicht aus der Schule? Ist das Berliner Schulwesen also sitzengeblieben und abgehängt?

Vielleicht hilft ein Perspektivwechsel, weg vom defizitorientierten Blick, der viele Lehrende demotiviert, hin zu einer neuen Blickrichtung: Wo liegen Ressourcen? Wie können die für einen Change-Prozess entscheidenden Kräfte eingebunden und motiviert werden?

 

Luxus-Enklaven für Kinder reicher Eltern?

In Berlin besuchen über 27.000 Kinder und Jugendliche eine allgemeinbildende Schule in freier Trägerschaft. Das sind mehr als zehn Prozent der Schüler/-innen an allgemeinbildenden Schulen. „Freie“ Träger leisten einen wesentlichen Beitrag, damit der Zuwachs an Schülern/Schülerinnen bewältigt wird. Nur die Gestrigen reden von „Privatschulen“ und denken an teure Luxusenklaven für die Kinder besser verdienender Eltern. Wo aufgrund von Vorurteilen freie Träger nicht einbezogen werden, bleibt sehr viel Elternengagement, bleiben pädagogische Kompetenzen mit eigenen Akzenten und viele Zugänge zu Netzwerken zivilstaatlichen Engagements brach liegen. Das muss man sich leisten können!

Die wachsende Einsicht in Bildungspolitik und Bildungsverwaltungen, dass eine Einbindung aller Kräfte im Schulsystem nötig ist, zeigt sich darin, dass das Brennpunktschulprogramm für freie Träger geöffnet wird und der Senat auf die freien Träger zukommt, um sie in die Bewältigung der Flüchtlingsbeschulung einzubeziehen. Für die meisten freien Träger entspricht es ohnehin dem Selbstverständnis, am Gemeinwohl eines leistungsfähigen Schulsystems und an der Verbesserung der Bildungschancen für alle jungen Menschen mitzuarbeiten. Die Zusammenarbeit von Verwaltung und freien Schulträgern an einem transparenteren Modell zur Refinanzierung von Schulen in freier Trägerschaft schafft Verständnis füreinander und für die vielfältige Wirklichkeit Berliner Schulen. Und doch staunt der Unternehmer, der ich als Vertreter eines Freien Trägers auch sein muss, dass der Staat weiterhin meint, Kosten ignorieren zu können, zum Beispiel für die Entwicklung und Verwaltung von Immobilien und auf dem Feld der Deckung von Pensionsansprüchen. Am Ende aller Berechnungen wird sich die Gretchenfrage stellen, was der Preis der „Freiheit“ ist, welche Kosten den „Freien“ also nicht rückerstattet werden. Daran zeigt sich auch, welche Bedeutung der Staat zivilgesellschaftlichem Engagement bei der Bewältigung der Herausforderungen einer qualitätsvollen Schulbildung in Berlin beimisst. Die freien Schulen verdienen eine „faire“ Kostenerstattung! In der Freiheit zur Gestaltung leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Bildung in Berlin und damit zugleich zur Integration.

 

Diversität als Chance für das Bildungssystem

„Ich kann ‚Integration‘ nicht mehr hören“, sagte kürzlich der im Westjordanland geborene Berliner Fraktionsvorsitzende der SPD, Raed Saleh. Das kann man ihm nicht verdenken, wenn man sich klarmacht, dass auch die Enkel dieses deutschen Politikers in Bildungsstatistiken – zumindest Stand heute – noch als Schüler „mit Migrationshintergrund“ erscheinen werden. Die Betrachtung der Absurditäten eines oberflächlichen Integrationsimages im Bildungssystem lässt sich vertiefen: Wie müsste eigentlich eine Integrationsleistung des Bildungssystems im Blick auf jene selbsternannten Patrioten aussehen, die infolge eines offensichtlichen Mangels an Beheimatung in deutscher Geschichte die von dem NS-Widerstandskämpfer Josef Wirmer entworfene Kreuzflagge schwenken, während sie ernsthaft vor der Islamisierung des christlichen Abendlands warnen?

Mir scheint, dass wir im Bildungssystem vor einem Generationenprojekt stehen wie zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg. Gerade deshalb und trotz des Problemdrucks sollten wir uns Zeit nehmen, die Vorzeichen richtig zu setzen. Geht es wirklich „nur“ um die Integration einer Gruppe junger Menschen in eine homogene Mehrheitsgesellschaft? Ergibt sich nicht gerade die Chance, das Schulsystem auf einen tief greifenden Kulturwandel vorzubereiten? Künftig müssen – und zwar nicht erst aufgrund der Ankunft von Flüchtlingen – junge Menschen auf Begegnung und Kooperation in einer von Diversität geprägten Gesellschaft besser vorbereitet werden. Berlin, das sich als internationale Drehscheibe versteht, hat das Potenzial, Zukunftslabor zu werden. Die Schulen sind längst mit den Folgen der Mobilität von Elternhäusern konfrontiert. Internationalität in der Bildung könnte substanzieller gedacht werden als die bloße Vermittlung guter Englischkenntnisse. Dazu gehören Fragen wie diese: Wie findet man vor dem Hintergrund pluraler Werteordnungen einen gemeinsamen Wertekonsens, der nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner markiert? Wie entwickelt man eine gemeinsame Identität, die nicht auf der Verdrängung von Kultur und Geschichte der Minderheiten beruht?

Wie ist das zu schaffen? Zunächst müssten Geisterdebatten enden. Bisher werden ganze Milieus als „bildungsfern“ diffamiert. Der Beitrag von Eltern zur Wertebildung ihrer Kinder wird damit komplett negiert. Menschen spüren Misstrauen. Warum wundert uns ihre Distanz zu unserem Bildungssystem? Studien belegen, dass Immigranten, denen ein lebendiger Kontakt zu ihrer Herkunftskultur ebenso gelingt wie die Teilhabe an ihrer neuen Heimat, sich stabiler mit der neuen Heimat identifizieren als Menschen oder Gruppen, die nur über eine der beiden Quellen zur Identitätsbildung verfügen. Warum binden wir in die konkrete Gestaltung des Bildungssystems nicht stärker die Erfahrungen und Kompetenzen von Menschen, gesellschaftlichen Gruppen und religiösen Gemeinschaften ein, die seit Langem in unserer Gesellschaft integriert leben? Auch die erneute Debatte von „Pro-Reli“ ergibt Sinn: Begegnung mit dem anderen ist nur für Menschen bedrohlich, die in der eigenen Kultur oder Religion nicht ausreichend beheimatet sind. Deshalb gehört in einer pluralen Gesellschaft die Auseinandersetzung mit der eigenen Weltanschauung gerade nicht in die private Nische. Begegnung, die nicht in Orientierungslosigkeit enden soll, baut auf dem kritischen Wissen um die eigene Identität auf. Das ist der Sinn des konfessionellen Unterrichts im Sinne des Grundgesetzes. Dass Berlin sich hier ausgeklinkt hat, verdankt es dem Konsens säkularer Mehrheitsmilieus, die jedoch gerade beunruhigt zu entdecken beginnen, dass die eigene Deutungshoheit wieder verstärkt angefragt wird. Das alles sollte dazu führen, dass Bildung wieder stärker dahin rückt, wo sie hingehört, nämlich in die Mitte der Zivilgesellschaft.

Und es braucht mehr als eine standardisierte Schullaufbahn. Nur ein Schulsystem, das Diversität in der sozialen Wirklichkeit beantwortet mit einer Vielfalt pädagogischer Optionen und einem hohen Maß an Durchlässigkeit, die viele Neuanfänge, Umstiege und Möglichkeiten für Schulabschlüsse bietet, schafft angemessene Möglichkeiten zur Vielfalt der Bildung. Das bedeutet aber auch, dass sich Gymnasien und leistungsstarke Oberschulen nicht vor der Aufgabe wegducken können, begabte Schüler unter den Flüchtlingen möglichst umfassend zu fördern, also gleiche Bedingungen zu gewährleisten. Alle Schulen und Schularten müssen sich bewegen.

 

Einsicht in eigene Grenzen

Inklusion, Integration, Förderung besonders begabter Kinder – die Aufgaben der Schulen sind gewachsen. Überlastung wird – wie in Baden-Württemberg – oft von ideologisch gefärbten Entscheidungen der Politik verursacht: Die Klassenfrequenzen der Gymnasien werden auf bis zu 33 Kinder erhöht, die Lehrenden gleichzeitig mit intensiver, individueller Förderung im Namen der Inklusion konfrontiert. Steht hier auf der hidden agenda nicht eher die Beseitigung einer ungeliebten Schulart? Auch Berliner Politik liest sich manchmal so, wenn es um die Einheitsschule, den Einheitslehrer und die Rahmenbedingungen für Gymnasien geht. Wo immer aber Bildungstechnokraten Schulen vorschreiben, grenzenlos für alle da sein zu müssen, da verliert die Schule die einzelnen Schüler/-innen aus dem Blick und wird sie in ihren Stärken nicht fordern und in ihren Schwächen nicht fördern können.

Wo das geschieht, werden für abstrakte Visionen die realen Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern und die Motivation von Lehrkräften geopfert. Zum Gelingen guter Schulbildung gehört, dass Schulen sich Schwerpunkte setzen (dürfen). Wissenserwerb braucht das Labor, die Selbstbegrenzung und den Schutzraum. Hier sind freie Träger oft besser aufgestellt als staatliche Träger. Sie müssen – schon aus wirtschaftlichen Gründen – stärker darauf achten, die Aufgaben ihrer Schulen nicht zu überdehnen.

Es gibt seit Jahren Anzeichen dafür, dass der Staatsdirigismus im Schulwesen an seine Grenzen gestoßen ist. Eltern wehren sich gegen die Sprengelpflicht. Ganze Lehrerkollegien gehen in die innere Emigration. Es bräuchte einen Mentalitätswechsel.

 

Gute Bildung zur Chefsache machen

Warum setzen wir nicht auf mehr Eigeninitiative und schaffen entsprechende Anreize? Das Brennpunktschulprogramm zum Beispiel ist gut, heilt aber nur offene Wunden. Warum ermutigen wir nicht Schulen in der ganzen Stadt, sich aktiv um eine buntere Schülerschaft und um geeignete Formen schulischer Förderung unabhängig von Elternhaus und sozialem Umfeld zu bemühen? Lernen in Vielfalt ist eine Grundbedingung guter Bildung.

Dies erfordert allerdings ein verändertes Selbstverständnis von Leitung auf den verschiedenen Ebenen. Schon die Unklarheit, wann die Schulverwaltung in ihrer Aufsichtsfunktion für die Qualität des gesamten Schulsystems auftritt und aus welchen Maßnahmen der staatliche Schulbetreiber spricht, ist nicht hilfreich. Eine klare Rollentrennung von Aufsicht und Schulbetreiber wäre ein wichtiger Schritt. Die Entwicklung von Potenzialen in den Schulen, aber auch Selbstbegrenzungen gelingen nur, wo Schulleitung auf der Basis klarer Kompetenzen ausgeübt und in die strategische Planung ihres Schulstandortes einbezogen wird. Derzeit sind die Anreize, beginnend beim Lohngefälle bis hin zum Mangel an Gestaltungsspielräumen, so gesetzt, dass es sich nicht lohnt, in Schulen Leitungsverantwortung zu übernehmen. Einzelne Lehrende oder ganze Kollegien sehen sich oftmals mit unmöglichen Situationen alleingelassen. Ein Change-Prozess unter diesen Vorzeichen kann nicht gelingen. Dabei hat Berlin viele sehr motivierte, sehr engagierte und kompetente Lehrende. Dieses Personal gilt es zu stärken und weiterzuentwickeln. Eltern, Lernende und Lehrende verdienen als Gegenüber ein Führungspersonal, das Verantwortung übernimmt und Gestaltungsspielräume ausmisst. Eine sinnvolle Führungsstruktur setzt jedoch voraus, dass Bildungspolitik wieder zur Chefsache wird in den Parteien. Kennen Sie einen wirklich profilierten Bildungspolitiker, seit Annette Schavan das Feld verlassen hat?

 

P. Tobias Zimmermann SJ, geboren 1967 in München, seit 2011 Rektor des Canisius-Kollegs, Berlin.

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