Als 1990/91 Berlin Bundeshauptstadt wurde, hatte auch Mecklenburg-Vorpommern Grund zum Jubel. Zwar gibt es keine direkte Nachbarschaft, und gut genährte „Speckgürtel“ können sich hierzulande nicht bilden, gleichwohl war die „Ostverlagerung“ aufgrund ihrer Strahlkraft bis in weit entfernte Regionen auch für Mecklenburg-Vorpommern mit Vorteilen verbunden. Dabei ist Berlin als Hauptstadt zumindest für Vorpommern kein Novum. Während die Mecklenburger ihre Eigenständigkeit bis 1952 (als in der DDR die Länder zugunsten von Bezirken aufgelöst wurden) bewahrten, verlor Pommern seine Unabhängigkeit schon im Dreißigjährigen Krieg. Zunächst schwedisch, wurde Vorpommern 1720 in Teilen und 1815 vollständig preußisch. Berlin als Hauptstadt bedeutet insofern für den östlichen Teil des Landes Mecklenburg-Vorpommern den Rückgriff auf eine Jahrhunderte währende Kontinuität.
Dass sich die beiden Landesteile Mecklenburg und Vorpommern in ihrer Verbundenheit mit Berlin erheblich voneinander unterscheiden, ist indes auch an weiteren Themen erkennbar. Geradezu idealtypisch zeigt sich dies am Zuschnitt der Erzbistümer der katholischen Kirche. Unterstehen die Katholiken in Vorpommern dem Erzbischof in Berlin, sind die Katholiken in Mecklenburg dem Erzbistum Hamburg zugeordnet. Auch die evangelische Kirche Pommerns verspürt eine starke Verbundenheit mit Berlin. Als vor einigen Jahren die Nordkirche gebildet werden sollte und die mecklenburgischen und pommerschen Landeskirchen sich schließlich der evangelischen Nordkirche anschlossen, favorisierten zuvor viele in Vorpommern eine Fusion mit der Landeskirche BerlinBrandenburg.
Badewanne der Berliner
Allerdings sind sich auch die Mecklenburger in ihrer Orientierung hin zur Elbe und nach Hamburg keineswegs einig. Selbst innerhalb Mecklenburgs bestehen Unterschiede, die nicht allein räumlicher Logik entspringen (das östliche Mecklenburg liegt schlicht näher an Berlin als an Hamburg), sondern auch historische Ursachen haben. So gibt es bis heute eine spürbare Teilung zwischen den Territorien der ehemaligen Herzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz: Während im westlichen Teil, Schwerin, eine unbestreitbare Orientierung in Richtung Elbe besteht, ist der östliche Teil naturgemäß stärker nach Brandenburg und somit in Richtung Berlin orientiert. Die historischen Wurzeln dafür reichen weit zurück – man denke etwa an die aus Mecklenburg-Strelitz’schem Hause stammende Königin Luise von Preußen, die wohl bekannteste Frau des preußischen Herrscherhauses, die in den turbulenten Wendejahren vom 18. zum 19. Jahrhundert auch für eine Intensivierung der Beziehungen zwischen Mecklenburg-Strelitz und Preußen sorgte.
Wiederum andere Nuancen sind zu beobachten, betrachtet man die Beziehungsgeschichte von Berlin und Mecklenburg-Vorpommern durch eine touristische Brille. Zweifelsohne sind die für den Fremdenverkehr gut erschlossenen Gebiete – allem voran die Küstenregionen – deutlich „Berlin-affiner“ als etwa dünn besiedelte, touristisch wenig entwickelte Landstriche im Hinterland. Entstanden sind die guten Verbindungen zu Kaisers Zeiten, als vor allem der Berliner Adel die Ostsee als seine „Badewanne“ entdeckte und die Kaiserbäder Usedoms zu seinen bevorzugten Urlaubszielen machte. Das in der Folge entstandene Selbstverständnis vieler Berliner, über das Wochenende an die Küste zu fahren und auch längere Urlaubszeiten an der Ostsee zu verbringen, hat die Jahrzehnte unbeschadet überstanden. Auch nach der Wiedervereinigung blieb diese Verbundenheit bestehen – nicht zuletzt dank einer guten Tourismusförderung im Land. Als Ganzes konnte Mecklenburg-Vorpommern seine Stellung als beliebtestes Inlandsreiseziel der Berliner festigen.
In bundespolitischer Hinsicht besteht eine besondere Verbindung. Gleich zwei der vier ranghöchsten Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland kommen aus Mecklenburg-Vorpommern und sind bis zum heutigen Tage eng mit dem Land verbunden. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist politisch in Vorpommern-Rügen-Greifswald beheimatet, ihr Wahlkreisbüro befindet sich in der Hansestadt Stralsund. Die Bundeskanzlerin steht zu „ihrem“ Land, auch „kleinere“ Termine finden ihre Aufmerksamkeit. Und auch der ranghöchste Repräsentant Deutschlands, Bundespräsident Joachim Gauck, hat seine Wurzeln in Mecklenburg-Vorpommern. Der in der Hansestadt Rostock geborene Gauck war viele Jahre in seiner Heimatstadt Rostock als Pastor der mecklenburgischen Landeskirche tätig.
Laut und cool, weit und still
Die vielfältigen Verbindungen zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Berlin vermögen indes nicht den großen Unterschied zu verbergen, der dem Betrachter sofort ins Auge springt. Berlin ist dynamisch, bunt, cool, international und gerade für junge Menschen sehr attraktiv. Mecklenburg-Vorpommern hingegen übt eine Anziehungskraft mit fast entgegengesetzten Vorzügen aus. Es hat Natur, ist mit seiner geografischen Randlage „weit weg von allem“, landwirtschaftlich geprägt, hat eine einzigartige Landschaft, unberührte Natur und Weiten, in bestimmten Regionen scheint das Land menschenleer zu sein. Die Metropole Berlin beherbergt mit ihren 3,5 Millionen Einwohnern mehr als doppelt so viele Menschen wie das Land Mecklenburg-Vorpommern mit 1,6 Millionen Menschen und der geringsten Bevölkerungsdichte Deutschlands. Berlin ist laut, in Mecklenburg-Vorpommern findet man Ruhe. Diese auf den ersten Blick einleuchtende Formel vermag die Verhältnisse aber nicht wirklich zu beschreiben. Der genauere Blick zeigt: Beide Länder beherbergen unendlich viele Schätze, die es zu entdecken gilt. Berlin lockt mit den vielfältigsten Angeboten einer großen, internationalen Stadt, Mecklenburg-Vorpommern punktet mit Landschaften und Angeboten etwa aus dem Festspielbereich, den Sails und anderem mehr.
Last, but not least: In landespolitischer Hinsicht sind sich Berlin und Mecklenburg-Vorpommern aktuell erstaunlich ähnlich. Beide Länder werden von einer Großen Koalition regiert. In beiden Ländern endet die laufende Legislaturperiode im September 2016, das heißt, hier wie da stehen die Zeichen in den nächsten Monaten auf Wahlkampf. Berlin und Mecklenburg-Vorpommern – so nah und doch so fern. Die Nähe überwiegt.
Silke Bremer, geboren 1965 in Stadthagen, Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern und Leiterin des Politischen Bildungsforums Mecklenburg-Vorpommern, Konrad-Adenauer-Stiftung.