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von Norbert Lammert

Autorität und Mandat

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Wer sie hat, muss nicht darauf verweisen; wer sie für sich ausdrücklich reklamiert, hat meist keine: Autorität. Hannah Arendt hat diese Funktionsweise folgendermaßen beschrieben: „Da Autorität immer mit dem Anspruch des Gehorsams auftritt, wird sie gemeinhin für eine Form der Macht, für einen Zwang besonderer Art gehalten. Autorität jedoch schließt gerade den Gebrauch jeglichen Zwanges aus, und wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität immer schon versagt.“

Dieses Verständnis von Autorität unterscheidet sich von den meist negativ konnotierten populären Vorstellungen und Wahrnehmungen des Begriffs und verweist auf den römischen Ursprung auctoritas, die der Historiker Theodor Mommsen beschrieb als „mehr als ein Ratschlag und weniger als ein Befehl, ein Ratschlag, dessen Befolgung man sich nicht füglich entziehen kann“. Das kennen wir aus dem Alltag: Wir verlassen uns oft auf den Rat von Autoritäten – sei es aus dem persönlichen Umfeld oder von Experten. In diesem Sinne gibt Autorität einerseits Orientierung, sie erleichtert die eigene Urteilsbildung, nicht selten verdrängt oder ersetzt sie diese sogar. Andererseits sind wir als aufgeklärte Bürger überzeugt, zumindest angehalten, uns unseres Verstandes zu bedienen und Autoritäten kritisch zu hinterfragen, ihnen nicht blind zu vertrauen. Insofern ist das Verhältnis moderner, demokratisch verfasster Gesellschaften zu Autorität zwiespältig.

Den Ausschlag, ob wir dem Rat einer Autorität folgen, gibt in der Regel unser Vertrauen in diese Person, in ihre Kompetenz und ihre Redlichkeit. Umgekehrt gilt allerdings auch: Schwindet das Vertrauen in eine Autorität, lässt auch deren orientierungsgebende Wirkung nach. Im Kern geht es bei einem Autoritätsverlust also um einen Vertrauensverlust.

Seit einiger Zeit lässt sich in unserer Gesellschaft ein solcher Vertrauensverlust auf breiter Front feststellen; er berührt eine große Bandbreite gesellschaftlicher Akteure – von Unternehmern und Bankern über Journalisten bis hin zu Wissenschaftlern – und stellt deren Autorität infrage. Besonders betroffen von diesem Vertrauensund damit auch Autoritätsverlust ist die Politik. Aktuelle Umfragen zum Vertrauen der Deutschen in politische Institutionen verdeutlichen das Ausmaß dieser Vertrauenskrise: Im Vergleich zum Vorjahr sind die Vertrauenswerte für zehn zentrale politische Institutionen zurückgegangen, teils um zweistellige Werte. Weniger als vierzig Prozent der Befragten vertrauen dem Bundestag; die politischen Parteien rangieren traditionell auf dem letzten Rang mit nicht einmal zwanzig Prozent.

 

Vertrauensverlust in Institutionen und Parteien

 

Das mangelnde Vertrauen in die beiden Kerninstitutionen der parlamentarischen Demokratie weist darauf hin, dass die Beziehung zwischen den Repräsentierten und ihren Repräsentanten merklich gestört ist. Bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung ist der Eindruck entstanden, dass ihre Besorgnisse von den Mandatsträgern in den Parlamenten ignoriert werden. Ein solch ausgeprägtes Misstrauen, wie es sich nicht nur in Umfragen, sondern auch in einer niedrigen Wahlbeteiligung ausdrückt, wirkt delegitimierend auf die repräsentative Demokratie. Denn Vertrauen ist die Grundlage unserer gesellschaftlichen und politischen Ordnung. So ist beispielsweise jedes politische Mandat ein Vertrauensvorschuss der Bürger auf künftiges Handeln der Repräsentanten.

Zum Teil geht der Vertrauensverlust auf das Fehlverhalten einiger Repräsentanten zurück, die Privilegien schamlos ausnutzen oder sich auf unanständige Weise bereichern (wie beispielsweise bei der Maskenaffäre in der Hochphase der Corona-Pandemie). Mit steigender Amtsdauer kann es auch bei untadeliger Amtsführung zu einem Autoritätsverschleiß kommen. Und schließlich tragen die Medien dazu bei, die Autorität von Mandatsträgern zu untergraben, wenn kritische Berichterstattung allzu gern die Aufmerksamkeit durch Dramatisierung und Skandalisierung befördert.

Verstärkt wird das Misstrauen in die politischen Repräsentanten und die damit verbundenen Institutionen – vor allem Parteien und Parlamente –, wenn es diesen nicht gelingt, widerstrebende Meinungen im politischen Willensbildungsprozess aufzunehmen, der durch die zunehmende Individualisierung von Interessen gekennzeichnet ist. Je vielfältiger und kontroverser der Prozess der politischen Willens- und Meinungsbildung ist, desto anspruchsvoller wird die Aufgabe, dieses breite Spektrum in die staatliche Entscheidungsfindung zu integrieren.

Das bekommen vor allem die politischen Parteien zu spüren, die zunehmend Mühe haben, als Transmissionsriemen zwischen Staat und Gesellschaft zu wirken. Denn in Zeiten, in denen es die Bürger gewohnt sind, sich in einer Gruppe Gleichgesinnter zu bewegen, ist es schwer zu vermitteln, warum sie ausgerechnet Repräsentanten wählen sollen, die politischen Parteien angehören, deren politisches Programm einen Kompromiss vieler, jeweils legitimer Interessen darstellt und deshalb nicht deckungsgleich mit den jeweils besonderen eigenen Erwartungen ist.

 

Repräsentativität der Repräsentanten

 

Auch die durch die digitale Kommunikation enorm ausgeweiteten Möglichkeiten zur Partizipation am gesellschaftlichen Diskurs tragen zur Erosion politischer Autoritäten bei. Das gilt übrigens nicht nur für die Politik und für Politiker, sondern auch für Unternehmer und Banker, es gilt für Funktionäre unterschiedlichster gesellschaftlicher Bereiche, es betrifft Journalisten, und es macht auch vor den Kirchen nicht halt. Mit dem breiten Zugang zu Informationen aus dem Internet, deren Wahrheitsgehalt sich nicht immer direkt und für jedermann verifizieren lässt, sind Ärzte, Versicherungsvertreter, Kundenberater, Anwälte und viele mehr mit einer Konkurrenzsituation konfrontiert, in der sie sich gegenüber dem „zusammengesuchten Wissen“ von Patienten, Kunden und Mandanten behaupten müssen. Das befördert eine Entkopplung von Profession und Autorität, die mit den gegenwärtigen Ansehensverlusten von Mandatsträgern und Parteien korrespondiert.

Ein oftmals vorgebrachter Erklärungsversuch der Autoritätskrise betrifft die Repräsentativität der Repräsentanten; populär ist hierbei der Verweis auf den Anteil der Hochschulabsolventen im Deutschen Bundestag, der höher ist als in der Gesamtbevölkerung, oder die Forderung nach Geschlechterparität, der statistisch angemessenen Berücksichtigung von Jüngeren und Älteren, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, um nur einige Beispiele zu nennen. Dabei handelt es sich allerdings um ein Missverständnis: Die repräsentative Demokratie beruht auf der politischen Gleichheit aller Bürger. Demnach muss das Parlament im Gegensatz zu einem identitätspolitischen Repräsentationsverständnis, nach dem die Interessen von Bäckern oder Rentnern am besten durch Angehörige eben dieser Gruppen vertreten werden können, kein statistisches Spiegelbild der Gesellschaft sein; das ist weder sein Anspruch noch sein Zweck. Es hat die Aufgabe, Gesetze zu verabschieden, die Regierung zu kontrollieren und den Haushalt mit seinen Einnahmen und Ausgaben zu beschließen. Dazu sind sachverständige und verantwortungsvolle Abgeordnete notwendig, die in freien Wahlen für eine befristete Zeit bestellt werden, wobei jede Wählerin und jeder Wähler selbst entscheidet, von wem sie oder er repräsentiert werden will.

 

Vermittlung von Glaubwürdigkeit

 

Wie kann dem Autoritätsverlust begegnet werden? Politiker haben die Aufgabe, Antworten auf komplexe Fragen zu erarbeiten und ihre Entscheidungen zu erklären. Es ist dabei von prinzipieller Bedeutung, ob sie in der Regel Antworten geben, von denen sie vermuten, dass sie populär sind; oder ob sie nach einem Abwägungsprozess zu Antworten gelangen, die ihnen politisch überzeugend erscheinen – mit der sich anschließenden Aufgabe, dafür Mehrheiten zu suchen, sie also populär zu machen. Bedenklich wird es, wenn der erste Mechanismus als der einzig erfolgversprechende angesehen wird. Wichtiger als die Popularität von Politik ist ihre Glaubwürdigkeit. Mandatsträger sollten nicht wankelmütig sein, wohl aber ihre eigenen Abwägungen und Zweifel öffentlich machen, denn auch das vermittelt Glaubwürdigkeit.

Ein zentraler Faktor bei alledem ist die Fähigkeit von Mandatsträgern, mit den Bürgern zu kommunizieren. Je komplizierter die Zusammenhänge werden, desto geduldiger und verständlicher müssen sie erläutert werden. Kommunikation ist jedoch keine Einbahnstraße; es geht auch darum, zuzuhören und auf die Anliegen der Bürger einzugehen. Dabei handelt es sich vielleicht um eine der wichtigsten Qualifikationen, die Repräsentanten in der Welt von heute aufbringen müssen. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund kommunikationsstarker Konkurrenzautoritäten, die es durch ihre offensive Präsenz in den Sozialen Medien und die Artikulation vermeintlich einfacher Lösungen verstehen, öffentliche Diskussionen zu beeinflussen.

Die zunehmende Distanz der Bevölkerung zu den Repräsentanten hängt auch mit einer kaum erfüllbaren Erwartungshaltung zusammen. Dazu zählt, dass einerseits Entscheidungskraft und Kompromissfähigkeit erwartet, andererseits gefundene Einigungen mit dem Vorwurf der Profilschwäche quittiert werden. In einer politischen Kultur, die statt des diskursiven Austauschs sachlicher Argumente vorzugsweise wütende Konfrontation zur Kenntnis nimmt, offenbart sich ein gravierender Mangel an Verständnis der Grundlagen unserer pluralistisch verfassten Gesellschaft und eine fatale Verweigerung, die Mindestansprüche politischer Entscheidungsfindung in der Demokratie anzuerkennen.

 

Souverän ist, wer sich vertreten lässt

 

Seit Langem wird in der öffentlichen Meinung mehr direkte Beteiligung der Bürger als probates Mittel gegen den attestierten Autoritäts- und Vertrauensverlust erachtet. Das ist nicht falsch, verdrängt jedoch, dass Volksentscheide die unzulässige Vereinfachung komplizierter Zusammenhänge tendenziell begünstigen und damit die ideale Plattform für populistische Stimmenfänger bilden. Das Brexit-Referendum ist hierfür ein folgenreiches Beispiel. Wer im Aufweichen des repräsentativen Gedankens den Königsweg aus der Vertrauenskrise sucht, sollte auch bedenken, dass die meisten Bürgerbegehren und Volksentscheide bereits an der Mindestbeteiligung der Wahlberechtigten scheitern. Dem Philosophen Volker Gerhardt verdanken wir den schlichten, aber treffenden Hinweis: „Souverän ist der Bürger, der sich aus Einsicht in die Tatsache, dass er ohnehin nicht alles selbst bestimmen oder gar selbst ausführen kann, einer Vertretung anvertraut.“ Noch pointierter formuliert: Souverän ist der Bürger, der sich vertreten lässt. Damit er das aber guten Gewissens tun kann, braucht er Vertrauen in die Autorität seiner Repräsentanten. Ein gutes Maß an Skepsis der Repräsentierten ist systemimmanent und durchaus hilfreich, allerdings geht es nicht ohne Grundvertrauen. Gleichzeitig tun die Repräsentanten gut daran, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, worauf ihre Autorität basiert.

 

Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages, seit 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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