Brasilien ist ein Land kontinentaler Ausmaße. Es umfasst rund die Hälfte Südamerikas, seine Fläche ist größer als die der gesamten Europäischen Union. Wie stellt sich in einem derart „monumentalen“ Staat das Problem der Stadt-Land-Gegensätze dar? Welche politischen Konsequenzen ergeben sich daraus, insbesondere im Hinblick auf populistische Strömungen?
In Brasilien leben laut dem Brasilianischen Institut für Geografie und Statistik 160.925.792 Einwohner in urbanen Gebieten, das entspricht 84,36 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dem stehen 29.830.007 Einwohner oder 15,63 Prozent der Gesamtbevölkerung gegenüber, die in ruralen Gebieten wohnen (Angaben nach dem letzten Zensus von 2010). Brasilien ist also ein Land mit sehr hohem Urbanisierungsgrad. Dabei konzentriert sich die urbane Bevölkerung vor allem auf die Küstengebiete, die südlichen Staaten, die Hauptstadt Brasilia und andere Hauptstädte der Bundesstaaten.
Im Allgemeinen ist die Bevölkerung ländlicher Gemeinden stark benachteiligt. Einkommen, Bildung und Lebenserwartung sind geringer, wodurch die kulturelle und politische Teilhabe der Betroffenen eingeschränkt ist. Allerdings zeigt der regionale Vergleich, dass der Norden am meisten betroffen ist. Dort liegen die ruralen Gemeinden mit den niedrigsten Human-Development-Indizes.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich der jeweiligen Agrarmodelle. Während im Süden die großindustrielle Landwirtschaft und die Produktion für den weltweiten Export dominieren, bestimmen im Norden kleine landwirtschaftliche Betriebe das Bild. Auf der einen Seite spielt die Landwirtschaft für das nationale Bruttoinlandsprodukt und auf dem Weltmarkt eine wesentliche Rolle. Auf der anderen Seite ist die Bevölkerung im strukturschwachen, ruralen Norden daran nur geringfügig beteiligt – und sogar zu einem beachtlichen Anteil von Ernährungsunsicherheit betroffen!
Die beschriebenen Stadt-Land-Gegensätze haben in Brasilien erheblichen Einfluss auf die Politik. Bei den historisch knappen Präsidentschaftswahlen 2014 – Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT; 51,64 Prozent) gewann im zweiten Wahlgang gegen Aécio Neves von der konservativen Partei der Sozialen Demokratie Brasiliens (PSDB; 48,36 Prozent) – stimmte die überwältigende Mehrheit der nördlichen Staaten für Rousseff, das heißt auch die große Mehrheit der „abgehängten“ ruralen Gemeinden. Auch wenn die Landbevölkerung Brasiliens wie beschrieben nur 15,63 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, kann sie demnach gerade bei knappen Wahlen das Zünglein an der Waage sein.
Dennoch ist nicht davon auszugehen, dass durch die Gegensätze zwischen Stadt und Land ein Nährboden für populistische Bewegungen entsteht. Dafür ist der Bevölkerungsanteil „auf dem Land“ im Vergleich zu gering. Interessanter wäre in diesem Zusammenhang einerseits ein Blick auf die Armut in den Städten und den dortigen Favelas. Andererseits kennt die brasilianische Öffentlichkeit derzeit nur ein Thema: Korruption. Sei es im Zusammenhang mit dem Korruptionsskandal Lava Jato um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras oder angesichts der neuesten Enthüllungen über Absprachen in der Fleischindustrie: Auf der gesamten politischen Klasse lastet der Ruf, korrupt zu sein. Politikverdrossenheit grassiert unter den Bürgern, ganz gleich, ob sie auf dem Land oder in der Stadt wohnen, und diese könnte viel eher Populisten auf den Plan rufen.
Jan Woischnik, Kevin Kaisig
Auslandsbüro Brasilien der Konrad-Adenauer-Stiftung
Kenia: Der im Jahre 2010 eingeleitete Dezentralisierungsprozess, Devolution genannt, soll einen Aufbruch zu neuen Ufern darstellen. Das verstaubte, postkoloniale zentralistische System von sieben Provinzen und dem Hauptstadtdistrikt Nairobi gehört seither der Geschichte an und wurde abgelöst durch ein föderales System: 47 weitgehend autonome Counties (Bezirke) entstanden neu. Die kenianische Verfassung hat hierzu eine Reihe von Politikfeldern neu benannt, in denen die Counties unabhängig von der nationalen Ebene verwaltet werden. So verfügen sie über eigene finanzielle Mittel, um dadurch mehr Entwicklung und Selbstbestimmung in die einzelnen Regionen Kenias zu bringen.
Auch wenn zweifelsohne der kenianische Dezentralisierungsprozess weltweit eines der ehrgeizigsten Reformvorhaben in diesem Bereich darstellt, so konnte er doch eines nicht aufhalten: den ständig steigenden Verstädterungsprozess, ausgelöst durch die immense Landflucht der kenianischen Bevölkerung vor allem in die Hauptstadt Nairobi, die mittlerweile etwa dreieinhalb Millionen Einwohner (ohne Außenbezirke) umfasst und nicht nur zur berüchtigten Rushhour aus allen Nähten platzt.
Neben den Auswirkungen auf die Infrastruktur und die Verkehrssysteme, die dem steigenden Bevölkerungswachstum in der Hauptstadt (circa vier Prozent jährlich) nicht mehr standhalten können, ist die Aufnahmefähigkeit erreicht, was zur Bildung von Slums führt, einhergehend mit einem nahezu Totalausfall der Strom-, Wasser- und Abwasserversorgung in diesen Elendsvierteln. Schätzungen zufolge leben in Kenias Hauptstadt mehr als eine Million Menschen in solchen Siedlungen; Kibera ist einer der größten Slums Afrikas.
Wenn der Kenianer davon spricht, über die Feiertage aufs Land – also up country – zu fahren, dann tut er dies fast ausschließlich, um seine Familie zu besuchen und die in der Stadt – zumeist durch informelle Arbeit – hart verdienten finanziellen Mittel im Kreise seiner zahlreichen Verwandten zu verteilen (etwa vierzig Prozent des gesamten landesweiten Einkommens wird in den beiden größten Städten des Landes, Nairobi und Mombasa, erzielt).
„Draußen im Lande“ ist in diesem ostafrikanischen Land noch immer ein Synonym für Armut und Rückständigkeit. Der Teufelskreis besteht gerade darin, dass die Landflucht nicht nur die großen Städte durch unkontrolliertes Bevölkerungswachstum und sozioökonomische Probleme belastet, sondern gleichzeitig die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der ländlichen Regionen erheblich schwächt, da zumeist junge (männliche) Arbeitskräfte in die Stadt abwandern. Die Tendenz ist dabei steigend: Es ist davon auszugehen, dass bereits 2033 über fünfzig Prozent der Kenianer in urbanen Gebieten leben werden. Paradoxerweise sind allerdings vierzig der insgesamt 47 Counties in Kenia überwiegend ländlich geprägt. Eine erfolgreiche Umsetzung des Dezentralisierungsprozesses führt im besten Falle langfristig zur Verbesserung der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit der Counties, einhergehend mit einer verbesserten Infrastruktur und medizinischer Versorgung der dort lebenden Bevölkerung. Es ist zu hoffen, dass damit der derzeitige Trend „weg vom Land, raus in die Stadt“ aufgehalten wird.
Gregor Jaecke
Kommissarischer Leiter des Programmbereichs Dezentralisierung und Stärkung lokaler Verwaltungskompetenzen Kenia der Konrad-Adenauer-Stiftung
Albanien, das wirtschaftlich unterentwickelte Land auf dem Westbalkan, ist eines der ärmsten Länder Europas. Nach dem Sturz des totalitären Regimes 1990 ging das Land einen mühsamen Weg von der sozialistischen Planwirtschaft hin zu einer offenen Markwirtschaft. Die Regime-änderung in Albanien hatte allerdings nicht nur ein positives Wirtschaftswachstum zur Folge, sondern auch eine hohe Arbeitslosen- und Korruptionsquote. Die politische und wirtschaftliche Lage des Landes löste Migrationsströme aus. Nach 1990 emigrierten Hunderttausende Albaner nach Griechenland, Italien oder in andere Staaten der Europäischen Union und nach Nordamerika. Das Land leidet aller-dings nicht nur unter der externen Migration, sondern auch unter der Landflucht. Berufliche Perspektivlosigkeit, soziale Unsicherheit und große Entwicklungsunterschiede zwischen den ländlichen Regionen und urbanen Zentren setzen die Landflucht in Gang. Mittlerweile leben 65,5 Prozent der Gesamtbevölkerung in Städten, wobei dieser Anteil 1990 noch bei 38 Prozent lag.
Die albanische Migrationsgeschichte (interne und externe Migration) lässt sich in drei Phasen einteilen. Als erste Phase (1990 bis 1995) betrachtet man die sogenannte Übergangsperiode Anfang der 1990er-Jahre. Nach der Einrichtung des kommunistischen Regimes war Landflucht nur beschränkt erlaubt, wobei Migration überhaupt verboten war. Nach dem Sturz des Regimes gab es eine massive Flucht aus den schwach entwickelten Randgebieten in die Wirtschaftszentren des Landes.
Die zweite Phase (1996 bis 2001) war gekennzeichnet durch die Krise nach dem Kollaps der sogenannten pyramidalen Investitionspläne in Albanien. Als Folge der Krise verlor ein großer Teil der Bevölkerung seine Ersparnisse, was erneut zur sozialen Perspektivlosigkeit auf dem Lande führte. Darüber hinaus erreichten Landflucht und Auswanderung ein neues Ausmaß.
Die letzte Periode (2002 bis 2011) zeichnete sich durch eine politische Stabilisierung, Wirtschaftswachstum und Rückgang der Armut in den ländlichen Gebieten aus. Trotz dieser positiven Entwicklung des Landes und der Robustheit seiner Wirtschaft blieb aufgrund der Finanzkrise im Jahr 2008 die Binnenwanderung ungebremst.
Das Ziel vieler Zuzügler sind die zentral gelegenen Städte Tirana, Durrës und Elbasan. Tirana und Durrës, die Wirtschaftsmotoren des Landes, sind beliebt aufgrund ihrer besseren Beschäftigungs- und Bildungsmöglichkeiten, aber auch als Zentren des gesellschaftlichen Lebens.
Zwischen 2001 und 2011 war Tirana „Endhaltestelle“ für 58 Prozent aller Binnenwanderer. Die Stadt wies damit das höchste Bevölkerungswachstum im Lande auf. Demgegenüber verlieren die Städte Dibër, Kukës, Gjirokastër und Berat aufgrund ihrer hohen Auswanderungsquote eine Vielzahl ihrer Einwohner.
Statistisch gesehen verlassen insbesondere junge Albaner im Alter zwischen fünfzehn und 34 Jahren ihren Wohnort. Bemerkenswert ist dabei, dass schon seit Anfang der 1990er-Jahre mehr Frauen als Männer umsiedeln. Dabei beträgt der weibliche Anteil circa sechzig Prozent aller Binnenwanderer.
Auch heute bleibt das Landfluchtproblem des Landes unverändert. Albanien steht kurz vor den Parlamentswahlen. Dennoch scheint weder die Regierung noch die Opposition wegen dieser Problematik wirklich besorgt zu sein. Die Frage, ob nach den Wahlen im Lande irgendwelche Maßnahmen für die Eindämmung der Landflucht ergriffen werden, bleibt vorerst offen.
Walter Glos
Auslandsbüro Albanien der Konrad-Adenauer-Stiftung
Quellen
Lerch, Matthias: „Internal and International Migration Across the Urban Hierarchy in Albania“, 2016, www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5088220/.
Gjipali Arsena, Jorgji Etis: „Internal Migration in Albania: Analysis of Determinants through a self-selection model“, www.rrpp-westernbalkans.net/en/conferences/RRPP-Annual-Conference-2013/Conference-Papers-2013/mainColumnParagraphs/02/ text_files/file6/Gijpali_Arsena.pdf.%%
www.worldometers.info/world-population/albania- population/.
„Internal Migration“, in: Migration in Albania 2014, INSTAT – Institute of Statistics, www.instat.gov.al/ media/242045/migration_in_albania.pdf.
INSTAT – Instituti i Statistikave.
Indien: „Die Zukunft Indiens liegt in den Dörfern“, sagte einst Gandhi. In der Tat leben ein Dreivierteljahrhundert später immer noch fast siebzig Prozent der Inder außerhalb urbaner Zentren – weit mehr als im globalen und asiatischen Vergleich. Zugleich lag die Urbanisierungsrate zwischen 2010 und 2015 nur knapp über der Hälfte des globalen Schnitts. Indien wird also auf absehbare Zeit ländlich geprägt bleiben. Dennoch wachsen die Städte schon allein aufgrund des allgemeinen Bevölkerungswachstums. Inzwischen beheimatet das Land dreizehn der weltweit hundert bevölkerungsreichsten Großstädte.
Mit den wachsenden Städten gehen unzählige gesellschaftliche und politische Herausforderungen einher. Angetrieben von der Hoffnung auf Arbeit, die oft nur in Form eines Tagelohnes erfüllt wird, zieht es die männliche Landbevölkerung in die Städte. Frauen folgen auf der Suche nach Ehepartnern. Für die Infrastruktur der Städte stellen Wachstum und Zuzug riesige Herausforderungen dar: Straßen, Krankenhäuser, Strom- und Wassernetze sind nur selten auf die Bevölkerungsgrößen ausgelegt, die sie heute bedienen müssen.
In einem so vielfältigen Land erwarten die Binnenmigranten oft Kulturschocks. Die Neu-Städter begegnen erstmals Lebensmodellen und Kulturen, die ihnen völlig unbekannt sind. Die Begegnung von Stadt und Land, zuweilen kombiniert mit Entwurzelung und Perspektivlosigkeit, ist einer der Auslöser von Gewalttaten.
Traditionell hat der ländliche Raum große kulturelle Bedeutung. Wertesystem und Traditionen wurden über Jahrtausende durch ländliches Leben und die Landwirtschaft geprägt. Dass das Denken auch auf dem Land durchaus fortschrittlich ist, zeigte sich aber in der kürzlich vorgestellten Jugendstudie des Centre for the Study of Developing Societies (CSDS) und der Konrad-Adenauer-Stiftung in Indien. Interessanterweise waren es junge Inder vom Land, die sich toleranter und offener gegenüber anderen Lebensmodellen, Religionen und Kulturen zeigten als ihre städtischen Altersgenossen.
Auch die indische Politik sieht sich Veränderungsprozessen ausgesetzt. Oft findet sie noch immer entlang persönlicher Beziehungen statt und sind Parteien auf Personen ausgerichtet. Diese lokale und personenbezogene Bindung trug im letzten Jahrzehnt zur zunehmenden Regionalisierung der Politik bei. Zuletzt steht diesem Trend jedoch der Aufstieg der Bharatiya Janata Party (BJP) zur dominanten politischen Partei des Landes gegenüber. Während sie durch Premierminister Narendra Modi zwar stark von der Beliebtheit einer Person profitiert, ist ihr Aufstieg auch entscheidend auf die landesweit vorhandenen professionellen Strukturen zurückzuführen.
Indien sieht sich zahlreichen Veränderungen gegenüber. Entsprechend muss die Regierung landesweite Perspektiven schaffen, will sie eine unkontrollierte Landflucht verhindern. Die indische Regierung hat erkannt, dass eine weitere Urbanisierung nicht die Lösung für Indiens Probleme sein kann. Gerade Premierminister Modi betont immer wieder, dass Indien wirtschaftlich nur gedeihen kann, wenn der ländliche Raum wächst. Durch verschiedene Maßnahmenpakete und Kampagnen versucht die Regierung der Herausforderung zu begegnen: Durch die Anbindung an das Stromnetz, das Internet und eine Verbesserung der Infrastruktur sollen die Perspektiven der ländlichen Regionen erhöht werden. Zudem sollen Städte und Dörfer „smarter“ werden, soll Digitalisierung bei der Verminderung von Abhängigkeiten und bei der Schaffung sozialer Absicherungen helfen. Dauerhafte Perspektiven auf dem Land sind für die Zukunft Indiens von entscheidender Bedeutung. I