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von Jeronim Perovic

Tschetschenien als inneres Ausland

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Nirgendwo traf Russlands imperiale Expansion im 19. Jahrhundert auf erbitterteren Widerstand als in den von Tschetschenen und dagestanischen Bergvölkern besiedelten Gebieten des Nordkaukasus. Auf die gewaltsame Eingliederung dieser muslimischen Gesellschaften ins Russische Kaiserreich folgte eine Zeit, die von Aufständen, erzwungenen Umsiedlungen und staatlicher Repression geprägt war. Von allen nordkaukasischen Völkern galten den Beamten und Administratoren des Zaren insbesondere die Tschetschenen in kultureller Hinsicht als „Fremdstämmige“ (inorodcy) und damit kaum in den imperialen Staatsverband integrierbar. Von der im späten 19. Jahrhundert einsetzenden Modernisierung und Industrialisierung blieben Tschetschenen deshalb weitgehend ausgeschlossen. In der damals boomenden Erdölindustrie bei Grosny arbeiteten kaum Tschetschenen, dafür vor allem Russen und andere Slawischstämmige.

Lenin und seine bolschewistischen Weggefährten versprachen den nicht-russischen Völkern nach der Oktoberrevolution 1917 mehr Freiheiten, um sich deren Loyalität für das sozialistische Staatsprojekt zu sichern. Tatsächlich profitierten in diesem Zeitraum auch Tschetschenen von einer Nationalitätenpolitik, die auf die Förderung der indigenen Sprachen und Kulturen abzielte und Angehörigen der sogenannten „Titularnationen“ führende Posten in Staat und Partei ermöglichte. Tschetschenen kamen Anfang der 1920erJahre sogar in den Genuss eines eigenen autonomen Verwaltungsgebiets, das 1934 im Verbund mit Inguschetien zu einer autonomen Republik aufgewertet wurde. Allerdings blieb auch in dieser Zeit das Verhältnis der Tschetschenen zur Sowjetmacht angespannt. In weiten Teilen des Nordkaukasus kam es im Zuge der forcierten Kollektivierung der Landwirtschaft zu bewaffneten Aufständen, und zahlreiche Angehörige der nationalen Eliten fielen dem stalinistischen Terror der 1930er-Jahre zum Opfer. Wie sehr die sowjetische Führung Tschetschenen und anderen Nordkaukasusvölkern weiterhin misstraute, äußerte sich auch darin, dass diese bis 1939 von der allgemeinen Wehrpflicht ausgenommen waren.

 

Trauma Deportation

 

Im deutsch-sowjetischen Krieg (1941–1945) kämpften Zehntausende Tschetschenen und andere Nordkaukasier in der Roten Armee gegen Hitlerdeutschland, und viele ließen für die Sowjetunion ihr Leben. Allerdings gestaltete sich die Mobilisierungskampagne bei den Tschetschenen schwierig; viele verweigerten den Dienst, flüchteten in die Wälder und Berge und formierten sich dort zu bewaffneten Widerstandsgruppen. Unter dem pauschalen Vorwurf der „Kollaboration“ mit dem Feind ließ Stalin gegen Endes des Zweiten Weltkriegs im Nordkaukasus die Tschetschenen, die Inguschen sowie die zahlenmäßig kleinen Völker der Balkaren und Karatschajer in ihrer Gesamtheit aus dem Nordkaukasus aussiedeln. Sie galten fortan als „Feindesnationen“. Zwischen Herbst 1943 und Frühjahr 1944 wurden über 600.000 Nordkaukasier wie Vieh in Bahnwaggons verfrachtet und nach Zentralasien deportiert. Die Tschetscheno-Inguschische Republik wurde aufgelöst. Mehrere Zehntausend Menschen starben auf dem Transport und in den ersten Jahren des Exils. Erst 1956, unter Parteisekretär Nikita Chruschtschow, wurden diese Völker rehabilitiert; ab 1957 war ihnen auch die Rückkehr in ihre kaukasischen Heimatgebiete erlaubt. Die Tschetscheno-Inguschische Republik wurde wiederhergestellt.

Die Deportation und das schwierige Leben im Exil brannten sich als traumatische Erfahrung in das kollektive Gedächtnis der Menschen ein. Während der gesamten späteren Sowjetzeit durfte über dieses Ereignis nicht öffentlich gesprochen werden. Eine Aufarbeitung dieser Gewalterfahrung blieb bis zum Amtsantritt von Michail Gorbatschow und zu der von ihm eingeleiteten Politik der Glasnost („Transparenz“) Ende der 1980er-Jahre aus. Auch waren Tschetschenen und Inguschen in ihrer Republik in öffentlichen Ämtern und in Führungsetagen der staatlichen Unternehmen gegenüber den Russen stark unterrepräsentiert. Im Unterschied zu allen anderen nicht-russischen autonomen Verwaltungseinheiten der Sowjetunion besetzte einzig in Tschetscheno-Inguschetien bis 1989 ein ethnischer Russe und damit kein Angehöriger der Titularnation den machtvollen Posten des Ersten Parteisekretärs.

Zwar erlebte die Republik in der späten Sowjetzeit und dank finanzieller Zuwendungen aus Moskau einen starken wirtschaftlichen Aufschwung. Doch davon profitierten Tschetschenen und Inguschen nur bedingt. Sie waren vornehmlich als Arbeiter und in der Landwirtschaft tätig, nahmen niedere Beamtenfunktionen wahr und lebten in den ärmlicheren Außenbezirken Grosnys und in den Dörfern auf dem Land. Tausende junger tschetschenischer Männer wanderten in andere Städte des Landes ab, und nicht wenige verdienten ihr Geld mit halblegalen oder sogar kriminellen Aktivitäten. Es war diese Generation junger Männer, die später den Kern des bewaffneten tschetschenischen Widerstands gegen Russland bilden sollte. Die problematische Situation Tschetscheno-Inguschetiens spiegelte sich auch im Bildungsstand wider: Ungeachtet dessen, dass immer mehr Menschen über einen Schulabschluss verfügten, rangierte die Tschetscheno-Inguschische Republik bezüglich des allgemeinen Bildungsniveaus der Bevölkerung gemäß der Volkszählung von 1989 auf dem letzten Platz.

 

Sezessionskriege

 

Als im Zuge der Liberalisierung durch Gorbatschow erstmals auch offen über die Verbrechen der Stalin-Zeit gesprochen werden durfte, mündete die Diskussion darüber unter den Tschetschenen in eine unheilvolle gesellschaftliche Dynamik: Nationalistisch orientierte Kräfte um Dschochar Dudajew, einen ehemaligen Offizier der sowjetischen Luftstreitkräfte, übernahmen in Tschetschenien die Macht und drängten auf vollständige staatliche Unabhängigkeit. Dudajew, der im Oktober 1991 in umstrittenen Wahlen zum ersten Präsidenten Tschetscheniens gewählt wurde, sah in der Deportation einen „Genozid“ und erklärte die Einverleibung Tschetscheniens im 19. Jahrhundert für illegal. Anders als die Tschetschenen waren die Inguschen nicht an einer Sezession von Russland interessiert und lösten sich deshalb bereits 1992 von der gemeinsamen Republik.

Russlands Präsident Boris Jelzin fürchtete vor dem Hintergrund von Autonomieforderungen, die sich Anfang der 1990er-Jahre auch in Tatarstan, Baschkortostan und einer Reihe anderer Regionen Russlands bemerkbar gemacht hatten, um den Zusammenhalt des Landes. Um den Unabhängigkeitsbestrebungen Tschetscheniens ein Ende zu setzen und ein Signal an andere, nach mehr Autonomie strebenden Regionen des Landes auszusenden, gab er im Dezember 1994 den verhängnisvollen Befehl zum Einmarsch russischer Truppen in Tschetschenien.

Allerdings hatte Moskau den Widerstandswillen der Tschetschenen unterschätzt. Diese vermochten der russischen Armee auch dank der Waffen, die ihnen die sowjetischen Truppen Anfang der 1990er-Jahre überlassen hatten, große Verluste zuzufügen. Nach fast zwei Jahren Krieg einigten sich die beiden Seiten im August 1996 auf ein Waffenstillstandsabkommen, das auf eine faktische Anerkennung der tschetschenischen Unabhängigkeit hinauslief. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Krieg Schätzungen zufolge etwa 80.000 Menschenleben gefordert und zog massivste Verwüstungen nach sich.

 

Die „Tschetschenisierung“ Tschetscheniens

 

Nach dem Abzug der russischen Truppen war die Situation innerhalb Tschetscheniens keineswegs stabil, sondern von politischen Richtungskämpfen und gewaltsamen Spannungen unter rivalisierenden Banden gezeichnet. In Reaktion auf vermeintlich von Tschetschenen ausgeführte Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Russland und den Einfall tschetschenischer Islamisten unter dem Kommando des Rebellenführers Schamil Bassajew in dagestanische Grenzdörfer entsandte Russland im August 1999 erneut Truppen nach Tschetschenien. 2006 und danach 2009 verkündete Russlands Präsident Wladimir Putin das Ende des als „Anti-Terror-Operation“ bezeichneten Krieges. Im Zuge des sogenannten Zweiten Tschetschenienkriegs kamen erneut mehrere Zehntausend Menschen ums Leben.

Die gewaltsame Befriedung Tschetscheniens war dem Umstand geschuldet, dass die russischen Truppen nun mit noch größerer Härte gegen den tschetschenischen Widerstand vorgingen. Zum Sieg Russlands trug aber auch bei, dass es Moskau gelungen war, die Zerwürfnisse innerhalb der tschetschenischen Gesellschaft zu seinen Gunsten zu nutzen. Entscheidend war, dass Achmat Kadyrow, der machtvolle Mufti von Tschetschenien, die Seiten wechselte und sich gegen seine ehemaligen tschetschenischen Kampfgefährten stellte. Bereits im Februar 2000 eroberten russische Truppen Grosny, worauf der tschetschenische Widerstand in den Untergrund ging. Unterstützt von Moskau, wurde Achmat Kadyrow im Oktober 2003 mit großer Mehrheit zum Präsidenten Tschetscheniens gewählt. Weil sich zuvor alle anderen Kandidaten auf Druck Moskaus zurückgezogen hatten, konnte die Wahl allerdings nicht als frei und fair angesehen werden und trug somit kaum zur Überwindung der tiefen Spaltung der tschetschenischen Gesellschaft bei.

Unter Putin sollte es keine Verhandlungen mit den Separatisten und keine Anerkennung ihrer Sache durch Moskau geben. Stattdessen verfolgte Moskau eine Politik der „Tschetschenisierung“, die letztlich darauf hinauslief, dass alle wichtigen Schaltstellen im staatlichen Machtapparat, in der Wirtschaft und in den Sicherheitsdiensten zunehmend mit Familienmitgliedern und Anhängern Kadyrows besetzt wurden. Als wichtigste Stütze dieses Regimes figurierte der „Sicherheitsdienst von Achmat Kadyrow“, bekannt unter dem Namen Kadyrowtzy. Diese mehrere Tausend Mann umfassende Leibgarde des Präsidenten, die von dessen Sohn Ramsan angeführt wurde, war im Kern eine Privatarmee des Kadyrow-Klans. Sie wurde 2004 in das tschetschenische Innenministerium integriert und damit legalisiert.

 

Die Diktatur Ramsan Kadyrows

 

Nachdem Achmat Kadyrow während einer öffentlichen Gedenkveranstaltung zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai 2004 einem Bombenanschlag zum Opfer gefallen war, war es aus der Perspektive des Kremls nur folgerichtig, dass dessen Sohn Ramsan zu seinem Nachfolger ernannt werden sollte. Aufgrund einer verfassungsmäßigen Altersbeschränkung war Ramsan Kadyrow allerdings noch zu jung, um die Nachfolge seines Vaters als Präsident anzutreten; deshalb wurde er zunächst zum Vizepremier der Republik ernannt. Als Ramsan Kadyrow dreißig Jahre alt wurde, trat der damalige Präsident Tschetscheniens, Alu Alchanow, zurück und wurde als stellvertretender Justizminister nach Moskau versetzt. Auf Putins Vorschlag hin ernannte das tschetschenische Parlament Ramsan Kadyrow am 2. März 2007 offiziell zum Präsidenten.

Seither hat sich Tschetschenien zu einem faktisch unabhängigen Staat innerhalb Russlands entwickelt, der von Kadyrow mit eiserner Hand regiert wird. Tschetschenien verfügt über eigene Sicherheitskräfte und verwaltet sich in politischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht weitgehend selbst. Im Gegenzug für diesen Sonderstatus, der durch großzügige finanzielle Zuwendung aus dem russischen Staatsbudget gestützt wird, gibt sich Kadyrow dem Kreml gegenüber loyal, stellt seine Truppen für Kriegseinsätze Russlands zur Verfügung und gewährleistet Tschetscheniens innere Stabilität, indem er Kritik an seinem Regime unterdrückt und mit großer Härte gegen jegliche tatsächliche und vermeintliche Gegner vorgeht.

Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, die Stabilisierung Tschetscheniens unter Kadyrow nur einer repressiven Politik zuzuschreiben. Wie in der frühen Sowjetzeit, als die bolschewistische Führung im Rahmen ihrer Nationalitätenpolitik auf loyale nicht-russische Kader gesetzt hatte, wird Tschetschenien heute von Tschetschenen regiert. Zwar darf das hochgradig personalisierte System mit Ramsan Kadyrow an der Spitze als ein zentrales Charaktermerkmal des tschetschenischen politischen Regimes und Grundlage für die derzeitige Stabilität betrachtet werden. Gleichzeitig ist es aber der tschetschenische Staat und seine ausschließlich von Tschetschenen besetzten Institutionen, die zum nationalen Zusammenhalt beitragen. Die Betonung einer eigenen tschetschenischen nationalen Identität, die auf der Ausrichtung am Sufismus im Islam, der tschetschenischen Sprache und Symbolik (zum Beispiel Flagge und nationale Trachten) sowie auf staatlich streng vorgegebenen Verhaltensweisen und Regeln (etwa Kleidervorschriften für Frauen) beruht, wird nicht nur von Kadyrow propagiert, sondern auch über die staatlichen Institutionen reproduziert.

Nach außen präsentiert sich Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow als Erfolgsgeschichte. Ein organisierter Widerstand gegen sein Regime existiert innerhalb Tschetscheniens nicht mehr, die letzten radikalislamistischen Gruppierungen wurden bereits vor Jahren ausgemerzt, das stark zerstörte Grosny und andere Ortschaften in neuem Glanz aufgebaut. Damit sind aber weder die Konfliktlinien innerhalb der tschetschenischen Gesellschaft verschwunden, noch kann das Verhältnis zu Russland als wirklich stabil bezeichnet werden. Die Gewährung von Autonomie im Gegenzug für Loyalität basiert im Kern auf einem informellen „Abkommen“ zwischen Putin und Kadyrow. Deshalb ist unklar, wie sich etwa ein personeller Führungswechsel im Kreml auf die russisch-tschetschenischen Beziehungen auswirken würde.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Gewalterfahrung der jüngsten Tschetschenienkriege, aber auch das noch immer nachwirkende Trauma der stalinistischen Deportation nie umfänglich aufgearbeitet worden sind. In Umkehrung des unter Dudajew propagierten Narrativs vom russisch-tschetschenischen „Dauerkonflikt“ stützt sich Ramsan Kadyrow heute zwar erneut auf sowjetische Vorstellungen von der „Völkerfreundschaft“ und betont die historische Verbundenheit von Tschetschenen und Russen. Doch diese Rhetorik könnte sich dann schnell wieder ändern, wenn Russland unter neuer Führung versucht sein könnte, den Sonderstatus der tschetschenischen Republik infrage zu stellen.

Der Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine hat den Sonderstatus Tschetscheniens und die Position Kadyrows zwar eher noch gestärkt. Denn auch tschetschenische Truppen beteiligen sich aktiv am Kriegsgeschehen. Als lautstarker Verfechter des Krieges hat Kadyrow erneut seine Loyalität gegenüber Moskau unter Beweis gestellt. Damit ist seine politische Zukunft allerdings auch eng mit dem Ausgang der russisch-ukrainischen Auseinandersetzung verknüpft und abhängig von innenpolitischen Rückwirkungen, die dieser Konflikt für Russland und die Stabilität des Putin’schen Regimes haben könnte.

 

Jeronim Perović, geboren 1971 in Winterthur (Schweiz), promovierter Historiker und Politikwissenschaftler, Professor für Osteuropäische Geschichte und Wissenschaftlicher Direktor des Center for Eastern European Studies (CEES) an der Universität Zürich.

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