Das Recht erhebt den Anspruch, autoritär zu sein, als allgemein verbindliche Verhaltensnorm aufzutreten.1 Legt man das Selbstbild des Rechts zugrunde, so kommt ihm ein umfassender oder jedenfalls weitreichender Autoritätsanspruch zu: Das Recht erhebt den Anspruch, jeden denkbaren Lebensbereich rechtlicher Regelung zuführen zu können und diesem damit verbindliche Vorgaben zu machen. Tatsächlich ist das Recht aber ungeachtet dieses Anspruchs beziehungsweise dieses Selbstbildes nur begrenzt autoritär; es lassen sich sogar Bereiche identifizieren, in denen das Recht – im Sinne eines Rechts auf Nicht-Recht2 – Zurückhaltung üben muss.
Die Autorität eines freiheitlich-demokratischen Staates ist in einem doppelten Sinn begrenzt: Erstens kann die Werteloyalität der Bürger nicht erzwungen werden. Das Bundesverfassungsgericht formuliert dies dahingehend, die Bürger seien „rechtlich nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen“. Zwar baue das Grundgesetz „auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, [es] erzwingt die Werteloyalität aber nicht. Die Bürger sind daher auch frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen, solange sie dadurch Rechtsgüter anderer nicht gefährden“.3 Innere Zustimmung und Loyalität kann dem Einzelnen nicht abverlangt werden.
Die Begrenzung erschöpft sich aber zweitens nicht in der fehlenden Möglichkeit, innere Einstellungen und Anschauungen zu erzwingen, sondern betrifft auch das Handeln des Bürgers: Selbst sein nach außen gerichtetes Verhalten muss sich nicht vollumfänglich dem staatlichen Machtanspruch beugen. Insbesondere die Grundrechte fungieren als Begrenzung der staatlichen Herrschaft. Entsprechend schützt die Meinungsfreiheit (Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz [GG]) auch solche Meinungen, „die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen, unabhängig davon, ob und wie weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar sind“.4 Die Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Absatz 1 GG) gewährleistet das Recht des Bürgers, „aktiv am politischen Meinungsbildungsprozeß und Willensbildungsprozeß teilzunehmen“ und zählt zu den „unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens“.5 Ihre Kritik an den staatlichen Institutionen und einzelnen Politikfeldern wie beispielsweise dem Klimaschutz dürfen die Bürger auch in Form von Protesten – friedlich – zum Ausdruck bringen.
Akzeptanz und normativer Grundkonsens
Der Geltungsgrund des Rechts liegt – so Rechtswissenschaftler Hans Kelsen – im Bereich des Sollens, nicht des Seins. Gemeint ist damit, dass nur aus einem Sollen ein anderes Sollen abgeleitet werden kann und damit jede Norm auf eine andere, höherrangige Norm bis hin zu einer Grundnorm zurückgeführt werden können muss. Aus einem Sein kann hingegen kein Sollen abgeleitet werden. Ob eine Norm wirksam ist, beantwortet hingegen das empirische Sein: Wird der normative Geltungsanspruch eingelöst, die Norm real befolgt und angewendet? Beim empirischen Sein geht es also um die Frage, ob die Norm in der Wirklichkeit Beachtung findet. Dies besagt nun aber keineswegs, dass die reale Rechtsbefolgung irrelevant wäre: „Eine Norm, die nirgends und niemals angewendet und befolgt wird, das heißt eine Norm, die – wie man zu sagen pflegt – nicht bis zu einem gewissen Grade wirksam ist, wird nicht als gültige Rechtsnorm angesehen.“6 Von der Frage nach der Geltung des Rechts lässt sich das darüber hinausweisende Verhältnis der geltenden Rechtsordnung zu den Bürgern unterscheiden.7 Wird die Erwartung der Rechtsordnung erfüllt, dass die Bürger zu einem normativen Grundkonsens finden und dass sie das geltende Recht im Großen und Ganzen befolgen?
Gerade weil die Machtbefugnisse einer durch die Verfassung, namentlich die Grundrechte, eingehegten Staatsgewalt begrenzt sind, ist der Staat auf die Akzeptanz seiner Institutionen und seines Rechts angewiesen.8 In Abwandlung des berühmten Böckenförde-Diktums9 hängt der Verfassungsstaat von den Voraussetzungen der Akzeptanz und eines normativen Grundkonsenses ab, die er um der Freiheit willen indes nicht garantieren kann.10 Dass staatliche Maßnahmen auf öffentliche Akzeptanz stoßen sollten, erweist sich in der Demokratie als politische Klugheitsregel. Denn der Staat vermag den normativen Grundkonsens nicht zu erzwingen; „er ist wehrlos, wenn die Bürger in großer Zahl sich abwenden, wenn der allgemeine Wille zur Verfassung erlahmt“.11
Autoritätsverluste und „die Kraft der freien Auseinandersetzung“
Autoritätsverluste sind kein neues Phänomen; in jüngerer Zeit werden sie vor allem bezüglich der Polizei beklagt. Insbesondere zwei Erklärungsversuche lassen sich hierfür anführen: Zum einen kann ein Autoritätsverlust als Folge eines Vertrauensverlusts eintreten. Ursächlich dafür kann das Fehlverhalten von Polizeibeamten, aber auch das bloße Empfinden einer übermäßigen Gewaltanwendung sein. Dies gilt in besonderem Maße, wenn der Eindruck entsteht, dass es sich nicht um bloß individuelles Fehlverhalten einzelner Beamter handelt, sondern dieses auf strukturelle oder institutionelle Gegebenheiten zurückzuführen ist. Ein aktuelles Beispiel sind die gegenüber der Polizei erhobenen Rechtsextremismus- und Rassismusvorwürfe.
Zum anderen können Autoritätsverluste aber auch eintreten, weil sowohl der Staat als auch seine Institutionen und seine Rechtsordnung von den Bürgern grundlegend infrage gestellt oder erst gar nicht anerkannt werden. Hierzu können Fälle der organisierten Bandenkriminalität (sogenannte Clankriminalität) und das Entstehen sogenannter No-go-Areas gezählt werden.
Sowohl der Autoritätsverlust infolge fehlenden Vertrauens als auch das Infragestellen oder Nichtanerkennen von Staat und Rechtsordnung können durchaus miteinander verwoben sein. Wenn staatliche Institutionen und ihre Bediensteten anhand personenbezogener Merkmale differenzieren (und nicht etwa aufgrund konkreter Verdachtsmomente) oder auch nur ein solcher Eindruck entsteht – wie es beispielsweise beim sogenannten Racial Profiling der Fall ist –, kann dieses (angenommene) Fehlverhalten zu einem Vertrauensverlust in die staatlichen Institutionen führen. In der Konsequenz erscheint auch ein Infragestellen der staatlichen Institution als solcher und ihres Handelns möglich.
Staat und Rechtsordnung sind auf Befolgung und Akzeptanz angewiesen, gerade weil der freiheitliche Verfassungsstaat seinen Herrschaftsanspruch nur begrenzt durchsetzen kann. Dieser Befund besagt nun jedoch keineswegs, dass der Staat zum Fatalismus verurteilt wäre. Zunächst kann und muss der Staat das geltende Recht durchsetzen und rechtswidriges Verhalten – beispielsweise Straßenblockaden durch Klimaaktivisten, die den Straftatbestand der Nötigung (Paragraph 240 Strafgesetzbuch) erfüllen – untersagen und ahnden. Zudem kann der Staat selbst durchaus dazu beitragen, dass seine Maßnahmen auf Zustimmung stoßen. Für die Akzeptanz der staatlichen Institutionen und des Rechts lassen sich nämlich Gelingensbedingungen identifizieren. Hinsichtlich der staatlichen Institutionen ist das Vertrauen der Bürger die zentrale Voraussetzung. Schaffen und stützen kann der Staat dies zunächst durch die Gestaltung seiner Institutionen (einschließlich ihrer personellen Besetzung) und des Verfahrens, ferner durch die kommunikative Vermittlung seiner Rechtsakte. Die transparente Aufarbeitung von Missständen kann verlorenes Vertrauen zurückgewinnen.
Fehlt es nicht nur punktuell, sondern grundlegend an einer Anerkennung der staatlichen Autorität und der Rechtsbefolgung, so richtet sich der Blick auf die Möglichkeiten zur Durchsetzung des staatlichen Herrschaftsanspruchs – auch gegen Widerstände. Aber selbst hier sind die staatlichen Machtbefugnisse um der Freiheit willen begrenzt. Das Grundgesetz setzt insofern auf die „Kraft der freien Auseinandersetzung“, auf „bürgerschaftliche(s) Engagement im freien politischen Diskurs“ und auf die „staatliche Aufklärung und Erziehung in den Schulen gemäß Art. 7 GG“.12 Als letzte Reserve fungiert schließlich die wehrhafte Demokratie, die mit Partei- und Vereinsverbot (Artikel 21 Absatz 2, Artikel 9 Absatz 2 GG) sowie der Möglichkeit der Grundrechtsverwirkung (Artikel 18 GG) und auch der Ewigkeitsgarantie (Artikel 79 Absatz 3 GG) Instrumente zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bereithält.
Stabilisierung durch Infragestellung
In Bezug auf die Rechtsordnung und das staatliche Handeln im Allgemeinen bedarf es einer grundsätzlichen Überzeugung der Bürger von der Notwendigkeit und Richtigkeit des staatlichen Handelns. Die Rechtsordnung muss an grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen ausgerichtet sein und die Interessen aller Bürger hinreichend berücksichtigen. Die Vorstellungen, was das im Einzelnen bedeutet, divergieren naturgemäß in einem pluralen Gemeinwesen, das – nicht allein, aber eben auch durch Einwanderung – zunehmend diverser wird.
Der Staat als „Heimstatt aller Staatsbürger“13 muss deren unterschiedliche Belange adressieren, um in allen Bevölkerungskreisen auf Akzeptanz zu stoßen. Dies bedeutet zwangsläufig auch, die Regeln des Gemeinwesens nicht schlicht als gegeben anzusehen, sondern sie immer wieder zu hinterfragen und neu auszuhandeln. Aus Sicht der Bürger bestehende Missstände gilt es zunächst ernst zu nehmen und zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung zu machen. Dies betrifft gegenwärtig insbesondere die unter dem Begriff des Rassismus14 geführten Debatten, Fragen der Repräsentation und Partizipation von Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund in staatlichen Institutionen und die Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation. Öffentliche Meinung und Zeitgeist sind keineswegs Richtschnur für Rechtssetzung und -anwendung, sondern notwendigerweise vage bleibende Vorgaben, die jedoch als Seismograf für das staatliche Handeln und seine Akzeptanz fungieren können.
Die Autorität partiell infrage zu stellen, kann also paradoxerweise bei einem richtigen Umgang des Staates mit den Reaktionen der Bürger zu ihrer Stabilisierung beitragen. Behandelt und beantwortet der Staat die Kritik seiner Bürger an seiner Autorität, kann er damit Akzeptanz und Autorität stärken. Aufseiten der Bürger setzt dies allerdings eines voraus: die grundsätzliche Anerkennung der staatlichen Herrschaft. Hinterfragt und in Zweifel gezogen wird dann nicht das „Ob“ der staatlichen Autorität, sondern das „Wie“.
Judith Froese, geboren 1985 in Köln, seit 2021 Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Nebengebieten, Universität Konstanz.
1 Joseph Raz: Practical Reason and Norms, Oxford University Press 1999 (1. Aufl. Princeton 1975), S. 150 f.; ders.: The Authority of Law. Essays on Law and Morality, Oxford University Press 1979; näher: David Kuch: Die Autorität des Rechts. Zur Rechtsphilosophie von Joseph Raz, Tübingen 2016, S. 175 ff., S. 212 ff.
2 Ino Augsberg / Steffen Augsberg / Ludger Heidbrink (Hrsg.): Recht auf Nicht-Recht. Rechtliche Reaktionen auf die Juridifizierung der Gesellschaft, Weilerswist 2020.
3 Bundesverfassungsgericht (BVerfG) NJW 2001, 2069 (2070).
4 BVerfGE 124, 300 (320).
5 BVerfGE 69, 315, 1. Leitsatz.
6 Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Tübingen / Wien 1960, S. 10.
7 Stephan Harbarth: „Der Auftrag des Staates zur Verwirklichung seiner Voraussetzungen als produktives Dilemma“, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR), 148. Band, Heft 1, März 2023, S. 9 f.
8 Vgl. Josef Isensee: „Gerechtigkeit – zeitlose Idee im Verfassungsstaat der Gegenwart“ (2000), in: Otto Depenheuer (Hrsg.): Staat und Verfassung, Heidelberg 2018, S. 3, S. 21.
9 Der zentrale Satz des Diktums lautet: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“
10 Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ (1967), in: ders. (Hrsg.): Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt 1976, aktuelle Auflage Berlin 2016, S. 92, S. 113 f.
11 Josef Isensee: „Das Volk als Grund der Verfassung – Mythos und Relevanz der Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt“ (1995), in: Otto Depenheuer, a. a. O., S. 395, S. 466, siehe En. 8.
12 BVerfGE 124, 300 (320).
13 BVerfGE 108, 282 (299).
14 Siehe dazu Judith Froese / Daniel Thym (Hrsg.): Grundgesetz und Rassismus, Tübingen 2022, passim.