Optimisten haben es gegenwärtig schwer. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass Europas Sicherheitslage fragiler ist, als es sich westliche Regierungen lange Zeit eingestehen wollten. Zudem hat er die Inflation befeuert, insbesondere durch die hohen Energiepreise. Doch damit nicht genug: Der demografische Wandel und der damit verbundene Fachkräftemangel schwächen die deutsche Wirtschaft. Hinzu kommen eine marode Infrastruktur und eine Bundesregierung, die den Eindruck erweckt, überfordert zu sein. Die Angst vor einer Deindustrialisierung geht um. Längst steht wieder die Frage im Raum, ob Deutschland zum kranken Mann Europas wird.1
Auf diese beunruhigende Grundstimmung reagiert die Publikation Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland in Gefahr? Was zu tun ist und was man unterlassen sollte. Verfasser ist der Kronberger Kreis, der wissenschaftliche Beirat der Stiftung Marktwirtschaft, der sich aus den namhaften Ökonomen Lars Feld, Clemens Fuest, Justus Haucap, Heike Schweitzer, Volker Wieland und Berthold Wigger zusammensetzt. Ziel der Publikation ist es, die Frage zu beantworten, „[…] mit welchen wirtschaftspolitischen Mitteln der Industrie- und Wirtschaftsstandort Deutschland verbessert werden könnte“ (S. 5). Das Resultat ist ein Plädoyer für mehr Vertrauen in den Markt und eine Rückbesinnung des Staates auf seine Ordnungsfunktion.
Systemische Herausforderungen
Zunächst wird die Lage des Standorts Deutschland analysiert, um sich danach den notwendigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zuzuwenden. Deutschland habe im Vergleich zu anderen G7-Ländern einen großen Industriesektor, dafür jedoch einen kleinen Dienstleistungssektor. Zudem seien viele Dienstleistungen eng mit industriellen Aktivitäten verbunden, weshalb Industriepolitik in Deutschland gesamtwirtschaftlich betrachtet werden müsse.
Die Autoren gehen sodann auf die Faktoren ein, die es dem Standort Deutschland schwer machen, wettbewerbsfähig zu bleiben. Zum einen gebe es grundlegende Trends wie den demografischen Wandel, Schwierigkeiten bei der Digitalisierung, die Dekarbonisierung und Unsicherheiten bei der künftigen Energieversorgung. Auch spielen für die Industrie die Offenheit der globalen Märkte sowie das steuerliche und regulatorische Umfeld in Deutschland eine Rolle. Dies seien systemische Herausforderungen, die bereits vor der Corona-Pandemie existiert hätten. Aufgrund dieser Probleme entwickele sich Deutschland schlechter als andere G7-Staaten.
Förderung des Standorts Deutschland
Vor diesem Hintergrund kommt der Kronberger Kreis zu dem Ergebnis, dass es durchaus Grund zur Sorge gebe. Die Autoren fordern von der deutschen Wirtschaftspolitik Maßnahmen zu einer zeitnahen Ausdehnung des gesamtwirtschaftlichen Angebotes, die zu einer allgemeinen Ausweitung der Produktionskapazitäten führen. Klassische Beispiele sind unter anderem der Abbau von Bürokratie, das Schaffen innovationsfreundlicher Rahmenbedingungen und die Stärkung des Wettbewerbs. Mithilfe einer solchen Wirtschaftspolitik könne ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum in Deutschland begünstigt werden. Deutschland müsse dafür offen für einen Strukturwandel sein. Der Kronberger Kreis glaubt nicht, dass der Staat die notwendigen Informationen besitzt, um beurteilen zu können, wie der Markt künftig aussehen wird und welche Unternehmen und Produkte in der Zukunft Erfolg haben werden. Dies entscheide der freie Wettbewerb. Der Staat müsse vielmehr die richtigen Bedingungen und Infrastrukturen für den Standort schaffen.
In der Analyse kommt der Kronberger Kreis zu dem Schluss, dass sich die „Transformative Angebotspolitik“ des Bundeswirtschaftsministeriums vom zentralen Gedanken der Angebotspolitik abgewendet habe. Denn das Ministerium lehne eine Ausweitung der Produktionskapazitäten der Wirtschaft aus Gründen des Klimaschutzes ab. Damit wolle das Ministerium sicherstellen, dass es genügend Ressourcen für die Klimatransformation gebe. Dafür werde eine schwächere allgemeine Wirtschaftsentwicklung in Kauf genommen, was der Kronberger Kreis scharf kritisiert.
Anstelle von Eingriffen in den Markt fordert der Kronberger Kreis von der Bundesregierung ein neues Konzept zur Förderung des Standorts Deutschland. Alle bisherigen Konzepte griffen zu kurz. Erforderlich ist aus Sicht des Kronberger Kreises:
„1. eine umfassende Strategie zur Stärkung des Arbeitsangebotes, eine Steigerung des Energieangebotes und eine Anpassung an höhere Energiepreise,
2. eine international abgestimmte Klimapolitik, die Klimaschutz und wachsenden Wohlstand miteinander verbindet,
3. eine Verbesserung regulatorischer und steuerlicher Bedingungen für unternehmerische Investitionen und Innovationen,
4. eine ambitionierte Digitalisierungspolitik, die den Ausbau digitaler Infrastruktur beschleunigt, die Aus- und Weiterbildung von digitalen Fähigkeiten ermöglicht und offene Datenmärkte schafft,
5. eine Modernisierung der öffentlichen und grenzüberschreitenden Verkehrsinfrastruktur,
6. eine europäische Handelspolitik, die weitere Handelsabkommen mit Drittstaaten abschließt und sich für eine offene, regelgebundene internationale Handelsordnung einsetzt“ (S. 9).
Wenn die Angebotsbedingungen in diesen Bereichen gestärkt würden, könnte nach Ansicht des Kreises der Strukturwandel in Deutschland gelingen.
Die Publikation kommt zum richtigen Zeitpunkt. Der deutsche Industrie- und Wirtschaftsstandort steht vor großen Veränderungen. Deutschland braucht jetzt die richtigen Rahmenbedingungen, damit der Wandel gelingen kann. Dafür muss sich die Bundesregierung auf die Aufgabenverteilung zwischen Staat und Markt zurückzubesinnen. Erinnern sollte man sich an den Ausspruch Ludwig Erhards: „Ebenso wie beim Fußballspiel der Schiedsrichter nicht mitspielen darf, hat auch der Staat nicht mitzuspielen.“ Das Problem ist nur, dass der Staat längst mitspielt.
Der Frust der Ordnungsökonomen ist an mancher Stelle der Publikation durchaus spürbar. Besonders die Regierungsentscheidung, den Klimaschutz allen anderen wirtschaftspolitischen Aufgaben überzuordnen, kommentiert der Kronberger Kreis mit Unverständnis. Immer wieder betont er, dass staatliche Eingriffe in die Angebotsstruktur möglichst breit und unspezifisch angelegt werden müssten. Von Subventionen an Chipfabriken, die ohne monetäre staatliche Anreize den Standort Deutschland nie gewählt hätten, hält der Kreis nichts. Auch von einer Subventionierung des Strompreises rät er ab; nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass nur relativ wenige Unternehmen von der spezifischen Subvention profitieren würden.
Dass die Publikation Fehlentwicklungen im Verhältnis von Staat und Markt aufdeckt und thematisiert, ist ein zentraler Ansatz zur Diskussion um die deutsche Wirtschaftspolitik. Was sich Deutschland in dieser angespannten Lage nicht leisten kann, ist ein überlasteter und überforderter Staat, der außerdem noch ständig zugunsten von Partikularinteressen und aus ideologischen Gründen in den Markt eingreift. Eine derart gestaltete Wirtschaftspolitik vergeudet Kraft und Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen.
Wichtig und gut begründet ist die Forderung des Kronberger Kreises, das Angebot zu stärken, denn im Kern geht es dabei um die Preisstabilität. Während sich die Nachfrage seit der Pandemie nicht zuletzt dank staatlicher Finanzspritzen erholt hat, gilt dies für die Angebotsseite des Marktes nicht. Steigt die Nachfrage schneller als das Angebot, steigen auch die Preise. Eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik zum jetzigen Zeitpunkt würde die Inflation anheizen.
Die Handlungsempfehlungen des Kronberger Kreises sind zwar nachvollziehbar, bleiben aber allgemein. Sie enthalten zudem wenig Neues und Innovatives. Bereits in den 1970er-Jahren war der unspezifische und allgemeine Ansatz eine Schwäche der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, deren Instrumentenkasten Karl Schiller seinerzeit spöttisch als „einen Gemischtwarenladen“ bezeichnet hat.2
Warnung vor Protektionismus
An der einen oder anderen Stelle wünscht man sich, dass der Kronberger Kreis auch auf ökonomische Probleme eingegangen wäre, die sich nicht durch ein vergrößertes Angebot lösen lassen. So betont der Kronberger Kreis, dass der Klimawandel mit einem funktionierenden CO2-Preis bekämpft werden solle. Das ist sicherlich richtig, aber damit ist das globale Trittbrettfahrerproblem nicht gelöst. Staaten fehlt der Anreiz, CO2-Emissionen zu verteuern, wenn sie von den Anstrengungen anderer Staaten profitieren können, ohne sich selbst an den Kosten beteiligen zu müssen. Es wäre deshalb begrüßenswert, wenn der Kronberger Kreis weitere Vorschläge unterbreiten würde, wie CO2-Emissionen auch mit anderen marktwirtschaftlichen Mitteln bekämpft werden könnten.
Der Kronberger Kreis warnt schließlich vor zu viel Protektionismus. Die Analyse des Kreises bringt treffend auf den Punkt, dass es im Eigeninteresse der deutschen Exportnation liege, ein offenes und regelbasiertes internationales Handelssystem zu unterstützen. Nur was geschieht, wenn die Regeln gebrochen werden und es keinen wirksamen Schiedsrichter gibt? Chinesische Automobilunternehmen können heute beispielsweise E-Autos zu Dumpingpreisen anbieten, da sie vom Staat unterstützt werden. Für solche Szenarien findet man in der Publikation Anhaltspunkte, aber noch keine wirklichen Lösungen.
Miriam Siemes, geboren 1997 in Caracas, Referentin Soziale Marktwirtschaft, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.
1 The Economist: Is Germany once again the sick man of Europe?, 19.08.2023.
2 Michael Hüther: „Und es hat sich doch gelohnt. Wir müssen unseren Blick für die tatsächlichen Erfolge und Misserfolge der Wirtschaftspolitik schärfen“, Gastbeitrag, Institut der deutschen Wirtschaft (IW), 19.10.2006, www.iwkoeln.de/presse/in-den-medien/und-es-hat-sich-doch-gelohnt.html [letzter Zugriff: 04.03.2024].
Die Publikation ist kostenfrei bestellbar unter www.stiftung-marktwirtschaft.de/inhalte/publikationen/kronberger-kreis-studien/detailansicht/wirtschafts-und-industriestandort-deutschland-in-gefahr-was-zu-tun-ist-und-was-man-unterlassen-sollte/kronberger-kreis-studien/show/Publications/.