Ulrich Menzel, Professor für Internationale Politik und Vergleichende Regierungslehre an der Technischen Universität Braunschweig, forscht schon lange und intensiv über Geschichte und Theorie der internationalen Beziehungen. Sein neues Buch ist also alles andere als eine Sturzgeburt, sondern das Ergebnis unzähliger wissenschaftlicher Vorarbeiten.
Weil Menzel einen ausgezeichneten Ruf als Wissenschaftler genießt, ist es nicht übertrieben, hinzuzufügen, dass dieses Buch mit einer gewissen Ungeduld erwartet wurde.
Das aktuelle Erscheinungsdatum passt aus einem weiteren Grund: Angesichts weltweiter Krisen und Kriege erscheint die Suche nach internationaler Ordnung besonders dringlich. Neuüberlegungen sind gefragt, denn die gängigen Ordnungsvorstellungen erscheinen mehr und mehr verbraucht und abgenutzt. Die idealistische Idee des Weltstaates prallt seit Jahrhunderten am Souveränitätsprinzip der Staatenwelt ab. Wer auf die UNO als Schaltstelle für Weltordnung setzt, sieht sich weitgehend enttäuscht.
Auch das realistische Gegenmodell, in dem Ordnung durch Macht, Gleichgewicht und nationalen Interessenausgleich erreicht werden soll, blieb bislang unvollkommen. Menzel holt deshalb weiter aus und schärft den Blick des Lesers für die ordnungspolitische Kraft der großen Mächte: „Es gibt eine Schwelle, jenseits der ein Staat erst befähigt ist, den Status einer großen Macht an der Spitze der Hierarchie der Staatenwelt einzunehmen, um in der Lage zu sein, deren Anarchie einzuhegen“ (Seite 37).
Aber wie schaffen Großmächte Ordnung? Das geschieht zunächst nach Maßgabe ihrer Herrschaft. Menzel unterscheidet dabei die großen Mächte (im Sinne Max Webers) idealtypisch in Imperien oder Hegemonialmächte. Erstere stützen sich prinzipiell als Landmächte auf den Einsatz von Gewalt und auf Eroberung von Territorien. Imperialmächte nehmen in der Regel als Landmächte fremdes Gebiet gewaltsam in Besitz, während Hegemonialmächte als Seemächte auf soft power, auf zivilisatorische Attraktivität, auf wirtschaftliche Stärke und auf freiwillige Gefolgschaft setzen.
Selbst wenn Menzel ihn nicht erwähnt – die Unterscheidung Arnold Wolfers zwischen Milieu- und Besitzzielen trifft hier den Kern: Imperialmächte streben Besitz durch direkte militärische Eroberung an. Hegemonialmächte dagegen kommen auf leisen Sohlen daher. Sie durchdringen dank wirtschaftlicher und zivilisatorischer Attraktivität indirekt das fremde gesellschaftliche Milieu, um es subtil zu dominieren.
Nach Auffassung Menzels impliziert diese Einsicht, dass für die Ordnung der Welt noch ein weiteres Prinzip bedeutsam ist, das bislang vernachlässigt wurde: die ordnungspolitische Bedeutung der Hierarchie. Weder ein allmächtiger Weltstaat noch die jüngst oft propagierte Globalisierung im Zeichen schwindender staatlicher Bedeutung ordnen die Welt. Für Menzel bleibt eine pluralistische Welt wegweisend, in der die Hierarchie als Gegengewicht zur Anarchie oder zum utopischen Weltstaat Ordnung schafft: „Je ausgeprägter die Hierarchie, desto eher wachsen die Möglichkeiten, der Anarchie Herr zu werden“ (Seite 38).
Hierarchien sind entweder militärisch erzwungen oder basieren auf mehr oder minder freiwilliger Gefolgschaft. Aber beide entwickeln ordnungspolitische Kraft. Strukturiert durch große Mächte, bilden sie den Schlüssel für Menzels Vorstellungen einer Weltordnung. Doch entscheidend ist für den Autor nicht die unterschiedliche Form von imperialer oder hegemonialer Herrschaft. Der wissenschaftliche „Knaller“ dieser Studie liegt vielmehr in der bahnbrechenden Erkenntnis, dass erst eine Ordnungsmacht für die anderen Mitglieder der Hierarchie öffentliche Güter wie Sicherheit, Schutz der Meere, Freihandel et cetera bereitstellt und sie daran teilhaben können.
Imperialmächte stellen nur den eroberten Territorien diese Güter zur Verfügung. Folglich sind die Anziehungskraft und die zivilisatorische Attraktivität einer Hegemonialmacht größer als die einer Imperialmacht, die ihre Macht durch Zwang und Unterdrückung sichert. Freiwilligkeit und Offenheit im hegemonialen Ordnungsbereich wirken hingegen einladend und verschaffen dieser Form von Hierarchie Flexibilität und Dauer. Imperialmächte kapseln sich ab, ihre Bemühungen um Ordnung sind ständig gefährdet, sie stoßen auf unfreiwillig unterworfene Staaten und werden nur durch militärische Macht zusammengehalten. Man kann Ulrich Menzel deshalb durchaus als Protagonisten hegemonialer Stabilität bezeichnen. Sein Verdienst besteht darin, die Theorie der hegemonialen Stabilität durch die Betonung des hierarchischen Ordnungsprinzips entscheidend vertieft und untermauert zu haben.
Um seine These von der hegemonialhierarchischen Stabilität empirisch zu belegen, spannt Menzel in seiner voluminösen Studie einen weiten, auf 1.200 Jahre ausgedehnten Geschichtsbogen vom China der Song-Zeit (960–1204) bis in die Gegenwart. Seine Beweisführung ist beeindruckend, lässt aber auch erkennen, dass die Idealtypen selten in Reinkultur, sondern oft als imperial hegemoniale „Zwitter“ auftauchen. Das Song China war dank der überragenden zivilisatorischen Leistungen und technisch wirtschaftlichen Innovationen eine Hegemonialmacht im Sinne der soft power. Es garantierte in Ost- und Südostasien eine hierarchische Ordnung, die mehr oder minder auf freiwilliger Gefolgschaft aufbaute und deshalb von beträchtlicher Dauer war.
Ein Nomadenvolk beherrschte die Welt
Chronologisch folgte das Imperium der Mongolen (1230–1350), das große Teile der eurasischen Landmasse durch militärische Gewalt beherrschte. Auf einmalige Weise gelang es diesem Nomadenvolk von einer Million Menschen, ein riesiges Territorium zu erobern und zu beherrschen, das erst 700 Jahre später in seiner Ausdehnung vom Britischen Empire übertroffen wurde. Kein Wunder, dass Menzel von diesem Reiter- und Nomadenvolk fasziniert ist: Von Karakorum aus eroberte es wie im Sturm höher stehende Zivilisationen, musste sich dann infolge mehrerer Niederlagen und der Zersplitterung nach nur wenigen Jahrzehnten wieder in die Steppe zurückziehen und verschwand in der Bedeutungslosigkeit.
Nach der imperialen „Pax Mongolica“ erschuf die Republik Genua dank ihrer kommerziellen Überlegenheit zwischen 1261 und 1350 eine beeindruckende mediterrane Weltwirtschaftsordnung und bewirkte so hegemoniale Stabilität. Das Ming-China (1386–1424), ebenso wie Genua, waren solche „Zwittermächte“. Beide waren nicht frei von imperialer Attitüde, beide handelten jedoch letztlich im Sinne einer Hegemonialmacht. Bis heute ist nicht völlig geklärt, warum die Ming eine radikale Kehrtwende vollzogen, freiwillig auf ihre Rolle als Ordnungsmacht verzichteten und in der Folge radikalen Isolationismus praktizierten.
Ulrich Menzel vermutet, dass die Gründe hauptsächlich im Machtkampf zwischen Mandarinen und Eunuchen, tatsächlich jedoch in einer Überdehnung der Kräfte des Reiches zu suchen sind. Der Kaiser „wollte alles, die Ausdehnung des Tributsystems, damit die Kontrolle des Welthandels und zugleich die Niederwerfung widerspenstiger Feinde. Er wollte Landmacht und Seemacht sein, Imperium und Hegemonie, wollte zwei Hauptstädte, die hegemoniale Hafenstadt Nanking und die imperiale Karawanenstadt Peking. Diese ‚Zwitter‘ Aspiration war auf Dauer nicht zu finanzieren, weil sie ungeheure Ressourcen an Menschen und Material verschlang“ (Seite 233).
China hätte die Weltgeschichte ändern können
Die Abkehr Chinas vom Meer, die Umstellung von Offensive auf Defensive manifestierte sich im Abwracken der seetüchtigen Kriegsschiffe und in der Entscheidung, die Große Mauer wieder aufzubauen. Die weltpolitischen Folgen waren von ungeahnter Tragweite: „Hätten sich die Eunuchen durchgesetzt, hätte das Jahr 1403 den Beginn der Pax Sinica markiert, wäre es 1492 möglicherweise nicht zum Beginn der europäischen Welteroberung gekommen, wäre die Weltgeschichte ganz anders verlaufen, wären die Ming und nicht die Niederlande oder Großbritannien zu den Herrschern der See geworden“ (Seite 235).
Stattdessen tauchen in Menzels Studie nun die Europäer in Asien auf, auf der Suche nach neuen überseeischen Handelsrouten: Venedig (1381–1503) wie auch Portugal (1494–1580) entwickelten sich zu wirtschaftlichen Hegemonen. Beide waren in Europa Vorreiter nautischer und kommerzieller Revolutionen im Übergang zur frühen Neuzeit. Beide bildeten Scharniere zwischen Orient und Okzident und sorgten für ein globales Handelsregime und den Schutz der Meere. Auf Portugal als „Seaborne Empire“ und als Hegemonialmacht im Indischen Ozean folgte das Osmanische Reich als Imperium zwischen Europa, Asien und Afrika und als Hegemon in Asien. Das Osmanische Reich war von 1453 bis 1918 ein Imperium von außerordentlich langer Lebensdauer.
Menzel schildert dann Bekanntes: wie Spanien von 1519 bis 1648 sein Weltsystem mit Anspruch auf Universalmonarchie durchzusetzen versucht und wie die Niederlande von 1609 bis 1713 ihren Aufstieg zur ersten Welthandelsmacht in ihrem „Goldenen Zeitalter“ bewerkstelligen. Geschickt weist Menzel dann nach, dass Frankreich in Amerika als Kolonialmacht scheiterte, aber seit 1635 Europa als klassische Landmacht dominierte. Frankreich konnte sich also zeitweilig auf dem Kontinent militärisch und zivilisatorisch durchsetzen, unterlag aber dem Dauerkonkurrenten England. Der kurze Versuch Napoleons, in Europa ein Imperium zu errichten, scheiterte in Menzels Augen an der Überdehnung der Kräfte und der Entschlossenheit der antinapoleonischen Mächte.
Großbritannien verkörpert dabei für den Verfasser den klassischen Fall eines Imperiums, das allerdings der Logik einer Seemacht folgte, sich auf seinen Aufstieg zur Weltmacht im Zeichen von Merkantilismus und später von Freihandel konzentrierte, sich aber in Europa auf die Rolle des Hegemons beschränkte.
Die USA verkörpern in Menzels Auffassung einen Sonderfall: Zunächst glichen sie in ihrer Aufstiegsphase im 18. Jahrhundert auf dem nordamerikanischen Kontinent einem Imperium, das in vielen Kriegen die indianischen Ureinwohner und die imperialen Konkurrenten verdrängte. Nach 1898 errichteten die Vereinigten Staaten von Amerika in der Karibik, im Pazifik und in Lateinamerika eine Mischung aus Hegemonie und Imperium, blieben aber als isolationistische Macht gegenüber Europa auf Distanz. Nach 1945 stiegen die USA zur ersten globalen Ordnungsmacht auf, die diesen Namen verdient. Der Kalte Krieg war laut Menzel konsequenterweise auch ein hegemonial imperialer Ausscheidungskampf der Systeme und Ideologien, an dessen Ende die Vision einer unipolaren Welt auftauchte.
Dieser Ritt durch 1.100 Jahre Geschichte beeindruckt durch Menzels tiefe Beweisführung seiner ordnungspolitischen Überlegungen. Er zeigt, dass die Welt von aufeinanderfolgenden großen Mächten imperialen oder hegemonialen Zuschnitts zwar nicht direkt regiert, aber doch hierarchisch geordnet wird. Große Mächte sorgten und sorgen heute noch für regionale oder internationale Ordnung, die allerdings von unterschiedlich langen Phasen der Anarchie unterbrochen werden.
Freilich hätte man sich noch einige Überlegungen zur chinesisch amerikanischen Rivalität im 21. Jahrhundert gewünscht. Umgekehrt fragt man sich, warum Menzel bei seinen Fallstudien die großen Mächte und Imperien der Antike ausgespart hat. Auch wären weiterführende Überlegungen zur Hierarchieproblematik unter räumlichen, institutionellen und machtpolitischen Gesichtspunkten nützlich gewesen. Einschlägige Literatur wurde offensichtlich nicht berücksichtigt.
Meilenstein der Forschung
Doch sind diese Anmerkungen marginal und schmälern die herausragende Bedeutung von Menzels Werk nicht. Vielmehr bleibt festzuhalten, dass es einen Meilenstein der Forschung markiert. Denn es verdeutlicht, dass es keinen Ersatz für die zentrale Bedeutung von Staaten gibt. Ein Mangel an Staatlichkeit und staatlicher Souveränität führt zu innen- und außenpolitischer Anarchie, wie die gegenwärtigen Entwicklungen im Nahen Osten und in Afrika erkennen lassen. Besonders Großmächte bleiben für eine Ordnung der Welt unverzichtbar. Auch das zeigt die gegenwärtige weltpolitische Lage. Natürlich handelt keine Weltmacht altruistisch, wie Menzel nachweist. Hegemonialmächte tragen aber eindeutig eher und deutlich mehr zivilisatorische Errungenschaften in die Welt als Imperialmächte. Auch sind die Aufstiegs- und Abstiegsphasen der Imperialmächte kürzer und steiler, während die der Hegemonialmächte länger und weniger dramatisch ausfallen.
Nur wenige Mächte konnten über Jahrhunderte hinweg ihre Ordnungskraft bewahren. Chinas Weltbild als Reich der Mitte, umgeben von konzentrischen Kreisen abhängiger Länder, wirkt bis heute zivilisatorisch und machtpolitisch fort. Die Mongolen als einstmals mächtigste Militärmacht haben dagegen ihre Bedeutung völlig verloren. Doch keine Macht der Welt hat als sanfter Hegemon die Weltpolitik so beeinflusst wie die USA. Trotz schwerer Fehler und Versäumnisse bleiben sie für Menzel vorerst die einzige Weltordnungsmacht. Allerdings taucht am zeitgeschichtlichen Horizont China mit dem Anspruch auf, die USA an allen Fronten zu attackieren und in die Schranken zu weisen. Vorerst jedoch bleibt für Menzel die Pax Americana prägend, weil sie noch immer Ordnung schafft, Hierarchien begründet, die internationale Arbeitsteilung organisiert und aufgrund ihres Reichtums und ihrer Innovationskraft weltweit eine einzigartige Attraktivität genießt.
Was immer die Zukunft bringen wird: Ulrich Menzel ist mit diesem Buch ein großer Wurf gelungen.
Christian Hacke, geboren 1943 in Clausenhof, Politikwissenschaftler und Zeithistoriker.