An vielen Schulen, insbesondere an Grundschulen und Gymnasien, gibt es mittlerweile gute Angebote für die Förderung begabter Schüler/innen. Wie die Integration von Formen „Offenen Unterrichts“ in den „Normalunterricht“ für Begabte gelingen kann, hat das Deutschhausgymnasium (DHG) in Würzburg vorgemacht. Am DHG wird ein besonderes Förderkonzept für hochbegabte Schüler/innen in ein staatliches Regelgymnasium gegossen, in dessen Mittelpunkt der einzelne Schüler/die einzelne Schülerin und seine/ihre Persönlichkeitsbildung stehen. Praktiziert wird ein „multipler Unterricht“, in dem sowohl gemeinsamer Unterricht als auch „offener“, projektorientierter Unterricht und institutionalisiertes Selbstlernen stattfinden. Damit kann in arbeitsteiliger Gruppenarbeit, in freier Materialarbeit/ Freiarbeit, im Stationenlernen, in der Wochenplanarbeit, in individueller Recherche- und Dokumentationstätigkeit im Rahmen einer „Gesamtchoreografie des Unterrichts“ Lernen individualisiert und differenziert werden. Das Wissen wird durch herkömmliche Methoden, aber auch durch Präsentationen, Dokumentationen, Anwendungsprodukte, Portfolien oder Kolloquien und spezifische Lernverträge geprüft. Über die Sicherung von Basiswissen hinaus sollen begabte Schüler/innen so lernen, interessengesteuert eigene Ziele zu formulieren, eigenverantwortliches Lernen einzuüben und eine dementsprechende Selbstkontrolle zu entwickeln (vgl. Hackl 2008). In diesen multiplen Unterricht sind „klassische“ Formen „offenen Unterrichts“ integriert, die Selbststeuerung und Selbsttätigkeit der Schülern/innen stärken.
Offener Unterricht bereichert
Die „Bewegung Offener Unterricht“, historisch unter anderem durch reformpädagogische Schulen zwischen 1890 und 1930 begründet, hat Unterricht „immer schon“ am Kind ausgerichtet und hat über verschiedene Phasen hinweg bis heute unterrichtsmethodische Impulse hervorgebracht, die sich stärker am einzelnen Kind und seinen individuellen Fähigkeiten als an der Organisation des „Ganzklassenunterrichts“ orientieren. Durch „offene Unterrichtsformen“ soll im Unterricht schüleraktives, selbst reguliertes und ein zunehmendes Maß an selbst gesteuertem Lernen für die Schüler/Schülerinnen ermöglicht werden. „Offener Unterricht“ lässt sich seit den 1990er-Jahren als zeitlich, methodisch und inhaltlich „geöffneter“ Unterricht beschreiben. Wahlmöglichkeiten sollen den Schülern/Schülerinnen differenziertes, individualisiertes sowie kooperatives Lernen ermöglichen. „Offener Unterricht“ ist sowohl fachübergreifend organisiert als auch fachspezifisch und/ oder exemplarisch orientiert (vgl. Lin-Klitzing 2011). Dies kann zum Beispiel im Planspiel, im Projekt, in der Freiarbeit gut umgesetzt werden, da hier die Fähigkeiten der Schüler/innen, ihre eigenen Aktivitäten zu planen, auszuwählen, diese allein oder mit Partnern durchzuführen und abzuschließen, besonders gut entwickelt werden können (vgl. Reiß/Reiß 1992: 16).
Diese Ziele wurden beispielsweise auch in einem Schulentwicklungsprojekt in der deutschsprachigen Schweiz, im Konzept der „Erweiterten Lehr- und Lernformen“ (ELF), angestrebt. Hier ging es darum, „den Selbststeuerungsgrad der Lernenden im Vergleich zum traditionellen Unterricht durch vermehrte Wahlmöglichkeiten zu erhöhen“, die „Adaptivität des Unterrichts“ zu verbessern, „Lernkompetenzen durch Maßnahmen zur Unterstützung der Reflexion des eigenen Lern, Arbeits- und Kommunikationsverhaltens“ bewusst und aktiv zu fördern und „die Eigenaktivität der Lernenden zu erhöhen“ (Pauli/Reusser/Waldis/Grob 2003: 294). Wichtige Qualitätsmerkmale von gutem Unterricht wie Klarheit, Strukturiertheit und gute Klassenführung können und sollen auch in einem schülerzentrierten, offenen Unterricht realisiert werden.
Es geht beim „Offenen Unterricht“ um eine Offenheit gegenüber den Inhalten beziehungsweise Lerngegenständen, gegenüber den Unterrichts- und Sozialformen sowie um eine Offenheit, in welchen Zeiten und Räumen gearbeitet wird. In allen diesen Dimensionen haben die Schüler/innen die für den „Offenen Unterricht“ charakteristischen Wahlmöglichkeiten, die ihnen beispielsweise in der Freiarbeit eröffnet werden.
„Offener Unterricht“ wird heute überwiegend als „Teil eines unterrichtlichen Gesamtarrangements“ gesehen, der „nur einen Stellenwert im Rahmen einer ‚Gesamtchoreografie‘ des Unterrichts“ habe (Gudjons 2004: 8). Dies entspricht schon den Empfehlungen von F. E. Weinert (2000), der als Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer formuliert hatte, sowohl traditionelle „direkte Unterweisung“ als auch „Offenen Unterricht“, Projekt- und Teamarbeit sowie individualisiertes, selbstständiges Lernen zu realisieren, um jeweils unterschiedliche Kompetenzen der Schülerinnen zu fördern.
Leistungsstarke profitieren
Bisher kann für die Wirksamkeit „Offenen Unterrichts“ beziehungsweise „offener Unterrichtsformen“ gesagt werden, dass nach Uhl (1996), Gruehn (2000) und Bohl (2000) leistungsstärkere Schüler in kognitiver Hinsicht stärker von „Offenem Unterricht“ profitieren als leistungsschwächere Schüler/innen. Hartinger (2002) untersuchte die Wirkung verschiedener Formen der Öffnung von Unterricht auf das Selbstbestimmungsempfinden von Grundschulkindern und kommt unter anderem zum Ergebnis, dass sich die Schüler/innen durch die Mitbestimmung verschiedener Elemente des Unterrichts tatsächlich als selbstbestimmter empfinden. Aus Sicht von befragten Lehrenden kommt Jürgens in seiner Studie schriftlich befragter Lehrkräfte an Grundschulen und der Sekundarstufe I zur Praxis der Freiarbeit zu dem Ergebnis, dass diese die klassische offene Unterrichtsform der Freiarbeit „als die effektivere Unterrichtsform im Vergleich zum traditionellen direktiven Unterricht“ beurteilen, die „gute Ansatzpunkte zur Leistungsdifferenzierung“ und „sowohl für die LehrerInnen als auch für die SchülerInnen eine angenehme und anregende Arbeitsatmosphäre“ biete (Jürgens 1998: 331).
Die Wirksamkeit kooperativen Lernens als einer unterrichtsmethodischen Variante gruppenunterrichtlichen Arbeitens ist insbesondere im US--amerikanischen Raum gut untersucht, und entsprechende Studien (Slavin 1993 ff.) „belegen eine signifikante Überlegenheit kooperativer Lernformen gegenüber traditionellen bzw. kompetitiv angelegten Unterrichtsmethoden“ (Gruehn 2000: 49). Im Rahmen einer MetaAnalyse hatte Slavin (1996) die Leistungsmaße von Schülern/Schülerinnen, die in verschiedenen Formen kooperativen Lernens und „herkömmlich“ unterrichtet wurden, verglichen und stellte höhere Leistungsmaße für die Schüler/innen fest, die in den kooperativen Formen Gruppenrallye, Gruppenturnier und Gruppenpuzzle unterrichtet wurden.
Bildung der Persönlichkeit dient dem Gemeinwohl
Den Weg in die Schulgesetze haben die individuelle Förderung und die Begabtenförderung erfreulicherweise bereits gefunden, wenngleich bildungspolitisch und unterrichtspraktisch nach den ersten PISA-Ergebnissen insbesondere die Förderung benachteiligter Schüler/innen im Vordergrund stand. Die Schule als gesellschaftliche Institution übernimmt Aufgaben für den Staat beziehungsweise für das Individuum. Für die Gesellschaft übernimmt die Schule dabei die Funktion der „Reproduktion“: Mit der Erziehung und Bildung der Schüler/innen in der Schule soll die Gesellschaft mindestens auf dem jeweils aktuellen Stand ihrer Entwicklung reproduziert, im besten Falle weiterentwickelt werden. Im Rahmen der individuellen Funktionen für das Individuum soll die Schule gleichzeitig zu einer umfassenden Persönlichkeitsbildung beitragen.
In den Schulgesetzen der Länder finden sich daher auch für die individuelle Förderung begabter Schüler/innen entsprechende Grundlagen – im Rahmen der staatlichen Verantwortung für das Schulwesen, die grundgesetzlich in den Artikeln 7, 20 und 30 niedergelegt ist. Hier soll nur exemplarisch auf die schulgesetzliche Regelung des Landes Niedersachsen hingewiesen werden, ähnliche Festlegungen finden sich in den Schulgesetzen anderer Bundesländer. Dort heißt es in Paragraf 54 (1): „Das Land ist verpflichtet, im Rahmen seiner Möglichkeiten das Schulwesen so zu fördern, daß alle in Niedersachsen wohnenden Schülerinnen und Schüler ihr Recht auf Bildung verwirklichen können. Das Schulwesen soll eine begabungsgerechte individuelle Förderung ermöglichen und eine gesicherte Unterrichtsversorgung bieten. Unterschiede in den Bildungschancen sind nach Möglichkeit durch besondere Förderung der benachteiligten Schülerinnen und Schüler auszugleichen. Auch hochbegabte Schülerinnen und Schüler sollen besonders gefördert werden.“ Das Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen weist zudem in Artikel 2 (4) darauf hin, dass „die Schule […] die zur Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Werthaltungen“ vermittle und „dabei die individuellen Voraussetzungen der Schüler/Schülerinnen“ berücksichtige. „Sie fördert die Entfaltung der Person, die Selbstständigkeit ihrer Entscheidungen und Handlungen und das Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl […].“
Die in die Schulgesetze aufgenommene individuelle Förderung umfasst sowohl Individualisierungs- und Differenzierungsangebote im Unterricht für die Schüler/innen durch Lehrende als auch zusätzliche Förderangebote durch die Schule außerhalb des Unterrichts. Individuelle Förderung bedeutet in diesem umfassenden Sinne die konsequente Anpassung an die Lern- und Förderbedürfnisse der jungen Menschen. Alle Schüler/innen haben gemäß schulgesetzlichen Aussagen einen Anspruch auf individuelle Förderung, in manche Schulgesetze sind explizit die „individuelle Förderung“ und die „Begabtenförderung“ aufgenommen worden. Als Bedingungen des Gelingens einer solchen Förderung nannte Andreas Helmke (2009): die Notwendigkeit eines Einstellungswandels von Lehrkräften vom imaginierten Durchschnittsschüler hin zu einer vielfältigen, individuellen Förderung, materielle Ressourcen und Zeit, geeignetes Lernmaterial und angemessene Diagnoseinstrumente sowie die diagnostische Expertise der Lehrkräfte in Kombination mit deren fachlicher und fachdidaktischer Expertise.
Lehrerbelastung reduzieren
Gleichzeitig wies er auf eine mögliche Restriktion dieser Ziele durch die Bildungsstandards hin, die sich beim kritischen Blick auf die PISA-Ergebnisse für begabte Schüler/innen beziehungsweise Spitzenleister/innen zu bestätigen scheint: Begabte Schüler/innen müssen aufgrund der Stagnation in ihrem hohen Leistungssegment bildungspolitisch und unterrichtspraktisch neu in den Blick genommen und besonders gefördert werden. Dazu können schülerzentrierte, offene Unterrichtsformen im Rahmen einer „Gesamtchoreografie des Unterrichts“ (vgl. Gudjons 2004) dienen. Gleichwohl müssen in diesem Zusammenhang auch weitere Gelingensbedingungen berücksichtigt werden: Sowohl für individualisierte, offene Förder- und Enrichment-Angebote im Unterricht als auch für den Bereich zusätzlicher, an Schülerinteressen orientierter Arbeitsgruppen in der Schule ist aus Sicht der Lehrerbelastungsforschung eine Arbeitszeitreduktion für die Lehrkräfte und eine höhere Lehrerstundenzuweisung an die Schulen nötig.
Susanne Lin-Klitzing, geboren 1963 in Bremerhaven, Dekanin des Fachbereichs Erziehungswissenschaften, Philipps-Universität Marburg.
Literatur
Bohl, Thorsten: Unterrichtsmethoden in der Realschule. Eine empirische Untersuchung zum Gebrauch ausgewählter Unterrichtsmethoden an staatlichen Realschulen in Baden-Württemberg. […], Bad Heilbrunn 2000.
Gudjons, Herbert: „Was ist eigentlich ‚offen‘ am Offenen Unterricht?“, in: Pädagogik, Jg. 56, 2004, Nr. 12, S. 6–9.
Gruehn, Sabine: Unterricht und schulisches Lernen. Schüler als Quellen der Unterrichtsbeschreibung, Münster 2000.
Hackl, Armin: Individuelle Förderung von Begabungen. Vortrag auf der Tagung „Individuelle Förderung“ des Deutschen Philologenverbandes, 10.11.2008, Berlin 2008.
Hartinger, Andreas: „Selbstbestimmungsempfinden in offenen Lernsituationen […]“, in: Spreckelsen, Kay / Möller, Kornelia / Hartinger, Andreas (Hrsg.): Ansätze und Methoden empirischer Forschung zum Sachunterricht, Bad Heilbrunn 2002, S. 174–184.
Helmke, Andreas: „Diagnosekompetenz von Lehrern“, in: Profil, Zeitschrift des Deutschen Philologenverbandes, 3/2009, Düsseldorf 2009, S. 32–37.
Jürgens, Eiko: „Wege zu selbständigem Lernen. Erfahrungen von Lehrerinnen und Lehrern mit Freiarbeit“, in: Die Deutsche Schule, Jg. 90, Nr. 3, 1998, S. 321–332.
Lin-Klitzing, Susanne: Lehrerfortbildung zum Offenen Unterricht. Ein empirischer Vergleich verschiedener Durchführungsformen, Hohengehren 2011.
Pauli, Christine / Reusser, Kurt / Waldis, Monika / Grob, Urs: „Erweiterte Lehr- und Lernformen im Mathematikunterricht der Deutschschweiz“, in: Unterrichtswissenschaft, Jg. 31, Nr. 4, 2003, S. 291–320.
Reiß, Elke / Reiß, Günter: „Einführung und Weiterentwicklung von Freier Arbeit in der Schule für Lernbehinderte (Förderschule) […]“, in: Reiß, Günter / Eberle, Gerhard (Hrsg.): Offener Unterricht. Freie Arbeit mit lernschwachen Schülerinnen und Schülern, Weinheim 1992, S. 16 f.
Slavin, Robert E.: „Kooperatives Lernen und Leistung: Eine empirisch fundierte Theorie“, in: Huber, Günter L. (Hrsg.): Neue Perspektiven der Kooperation, Baltmannsweiler 1993, S. 151–170.
Slavin, Robert E.: „Research on cooperative learning and achievement: What we know, what we need to know“, in: Contempory Educational Psychology, Nr. 21, 1996, S. 43–69.
Uhl, Siegfried: „Zur Wirksamkeit neuerer Lehr- und Lernverfahren“, in: Lehren und Lernen, Jg. 22, Nr. 12, 1996, S. 14–27.
Weinert, Franz E.: „Lehr- und Lernforschung an einer kalendarischen Zeitenwende […]“, in: Unterrichtswissenschaft, Jg. 28, Nr. 1, 2000, S. 44–48.