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von Nino Galetti

Italiens Mittelmeerpolitik

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Ein Blick auf die Landkarte genügt, um die Bedeutung des Mittelmeers für Italien zu erkennen: Das stiefelförmige Land liegt im Zentrum des vormaligen „Mare nostrum“. Die Nähe zu Nordafrika und zum Nahen Osten ist nicht nur geografisch, sondern auch historisch gegeben. Die wirtschaftlichen und kulturellen Bindungen Italiens zu seinen gegenüberliegenden Küsten bestehen seit der Antike und haben im Mittelalter und in der Neuzeit im gesamten Mittelmeerraum zahlreiche Spuren hinterlassen.

Schiffbau, Fischerei und Küstentourismus leisten heute einen nicht unerheblichen Beitrag zum italienischen Bruttoinlandsprodukt. Die italienische Wirtschaft ist insbesondere im Bereich der Energieversorgung auf freie Handelsrouten und sichere Häfen im Mittelmeer angewiesen. Denn das Land ist von Energieimporten abhängig: So speist sich die Hälfte des in Italien benötigten elektrischen Stroms aus Erdgas. Über neunzig Prozent des Erdgases wird importiert, davon ein Fünftel als Flüssiggas auf Schiffen, der Rest über Pipelines, die quer durch das Mittelmeer verlaufen und vom Balkan oder aus Nordafrika kommen.

Seit dem Ausbruch des „Arabischen Frühlings“ vor zehn Jahren sieht sich Italien als Mitglied einer stabilen Europäischen Union (EU) einer Reihe instabiler Staaten im nördlichen Afrika und in Nahost gegenüber, in denen die politischen Umwälzungen zu Unruhen und bewaffneten Konflikten geführt haben – und in deren Folge organisiertes Verbrechen, transnationaler Terrorismus und illegale Einwanderung begünstigt wurden; Phänomene, die Italien als eines der ersten Länder der Europäischen Union erreichten. Besonders sichtbar wird dies in den Bildern über die Ankunft von Bootsflüchtlingen auf Lampedusa.

 

Schutz und Förderung italienischer Interessen

 

Italiens Interesse an politischer und sozialer Stabilität im Mittelmeerraum ist vor diesem Hintergrund besonders ausgeprägt, und das Thema wurde schon früh in der italienischen Öffentlichkeit erörtert. In ihrem 2015 veröffentlichten Weißbuch zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat die italienische Regierung die Absicht bekundet, ihren Fokus stärker als in den Jahrzehnten zuvor auf die Sicherheit in der Mittelmeerregion zu richten. Das bis dahin globale Engagement Italiens und seiner Militärstreitkräfte, die im Rahmen der Vereinten Nationen, der NATO und der Europäischen Union in knapp dreißig Auslandsmissionen aktiv waren, sollte künftig stärker an den nationalen Interessen Italiens ausgerichtet und in den „erweiterten Mittelmeerraum“ verlagert werden. Hierzu zählt Italien neben dem eigentlichen Mittelmeer auch das Schwarze Meer, das Rote Meer, das Horn von Afrika und den Persischen Golf sowie die Sahel-Staaten.

Zum Schutz und zur Förderung italienischer Interessen verfolgt die italienische Politik das Ziel, die benachbarten Mittelmeerländer zu stabilisieren, wirtschaftliche Entwicklung durch Zusammenarbeit zu ermöglichen und die ungesteuerte Migration einzudämmen. Dabei kann Italien von einem funktionsfähigen und vergleichsweise gut ausgerüsteten Militär, einem exzellent ausgebildeten diplomatischen Korps, expansionswilligen italienischen Unternehmen und einer aktiven Landschaft von Nichtregierungsorganisationen sowie den traditionell engen und guten Verbindungen zur katholischen Kirche profitieren.

In der italienischen Außenpolitik gibt es die Überzeugung, als kleinste der großen Mächte Europas die eigenen Interessen nicht im Alleingang, sondern nur gemeinsam mit Verbündeten durchsetzen zu können. Deswegen hat Italien seit dem Zweiten Weltkrieg stets einen multilateralen Ansatz gewählt. Nach 1945 war es – ähnlich wie in der Bundesrepublik Deutschland – zunächst das Ziel, die vorangegangene Feindschaft zu den westeuropäischen Nachbarn zu überwinden und als gleichberechtigter und gleichwertiger Partner wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig bietet der multilaterale Ansatz der italienischen Politik die Möglichkeit, andere, größere Partner für die Verwirklichung der eigenen Ziele gewinnen und bei deren Umsetzung mit einbinden zu können.

 

Andauernde Missstimmung gegenüber Frankreich

 

Italiens politischer Führung waren dementsprechend die Bündnistreue zur NATO und zur Europäischen Union sowie gute Beziehungen zu den USA und den europäischen Partnern meist oberste Priorität. Die Änderung der langjährigen Mittelmeerpolitik der USA unter den US-Präsidenten Barack Obama und Donald Trump, insbesondere das ausbleibende Engagement in den bewaffneten Konflikten in Libyen und Syrien und das damit zusammenhängende Auftreten neuer Mächte wie Russland oder der Türkei im Mittelmeerraum, hat bei italienischen Politikern Besorgnis ausgelöst. Diese Erfahrungen haben die italienische Politik darin bestärkt, innerhalb der NATO und der Europäischen Union beharrlich eine größere Fokussierung auf die Südflanke einzufordern. Dabei wird insbesondere im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich der NATO traditionell Vorrang gegenüber anderen möglichen Akteuren, etwa der Europäischen Union, gegeben. So ist es Italien auch wichtig, mit dem Gemeinsamen Streitkräftekommando in Neapel und dem NATO Defense College in Rom zwei wichtige Institutionen des Verteidigungsbündnisses zu beherbergen und auch auf diese Weise seine Bündnistreue zu demonstrieren.

Auf diplomatischer und militärischer Arbeitsebene erfährt Italien für seine konstruktive Rolle und seine dauerhafte Präsenz viel Anerkennung. Politisch und öffentlich findet Italiens strategische Rolle im Mittelmeer jedoch wenig Beachtung. Das Ziel, die Aufmerksamkeit der Partner in NATO und EU auf die Mittelmeerregion zu lenken, ist bislang nur teilweise erreicht worden. Auch die regelmäßigen, kurz aufeinanderfolgenden Regierungswechsel in Rom sind hierfür eine Ursache: In den vergangenen zehn Jahren, zwischen 2011 und 2021, gab es in Italien sieben Premierminister, neun Außenminister und sechs Verteidigungsminister. Diese ständigen Wechsel behindern eine nachhaltige Einflussnahme im Rahmen der NATO -beziehungsweise auf den EU-Gipfeltreffen. Auch tragen das persönliche Auftreten einzelner italienischer Spitzenpolitiker oder die öffentliche Beschimpfung anderer Staats- und Regierungschefs nicht dazu bei, dass Italien im gewünschten Maße seine Interessen geltend machen, Führung übernehmen oder langfristige Visionen formulieren kann.

Gleichzeitig besteht in Italien die ständige Furcht, vom deutsch-französischen Tandem abgehängt zu werden. Nicht umsonst erinnern italienische Politiker immer wieder daran, dass Italien ein Gründungsmitglied der Europäischen Union ist und deren Gründungsverträge 1957 in Rom unterzeichnet wurden. Nach dem Brexit ist Italien der drittgrößte Staat der Europäischen Union und versucht, dies gegenüber Berlin und Paris deutlich zu machen. Doch auch Frankreichs Führungsanspruch innerhalb der Europäischen Union ist nach dem Brexit – insbesondere im militärischen Bereich – gewachsen. Die Neigung Frankreichs zu einseitigen militärischen Maßnahmen wird in Italien als problematisch angesehen: Insbesondere die französische Intervention in Libyen 2011 und das seither in einem unübersichtlichen Konflikt verharrende Land hat in Rom für andauernde Missstimmung gegenüber Frankreich gesorgt. Darüber hinaus ist Italien das zunehmende Engagement des NATO-Partners Türkei in Libyen ein Dorn im Auge.

 

Alleingelassen mit den Krisen

 

In Libyen ist Italien grundsätzlich bereit, aufgrund der geografischen Nähe, der historischen Bezüge und der wirtschaftlichen Verbindungen eine regionale Führungsrolle wahrzunehmen. Italien spricht mit allen Konfliktparteien und war eines der wenigen Länder, die ihre Botschaft in Tripolis auch während der bewaffneten Auseinandersetzungen dauerhaft offen gehalten hatten. Dass im Libyen-Konflikt noch keine Lösung gefunden wurde, hat aus italienischer Sicht damit zu tun, dass die Hinweise Italiens weder in Washington noch in London, Paris oder Berlin ausreichend Beachtung finden. Es frustriert Italiens Politiker, dass über einen allzu langen Zeitraum weder die NATO noch die Europäische Union ein wirkliches Interesse an der Mittelmeerregion entwickelt haben und gegenüber italienischen Bedürfnissen und Interessen gleichgültig und untätig geblieben sind. In Rom ist die Meinung weit verbreitet, dass Italien seine Partner lange Jahre durch internationales militärisches Engagement unterstützt habe, jedoch mit den Krisen im Mittelmeerraum alleingelassen wird.

Dass Berlin inzwischen die italienischen Befindlichkeiten besser versteht und die Probleme ernst nimmt, zeigt sich daran, dass die Bundesregierung nach 2020 bereits zum zweiten Mal eine internationale Libyen-Konferenz einberufen hat. Die Bundesregierung unterstreicht damit, dass Sicherheit und Stabilität im Mittelmeerraum nicht mehr nur eine Angelegenheit der Anrainerstaaten, sondern eine Aufgabe für ganz Europa – und damit auch für Deutschland – ist.

 

Nino Galetti, geboren 1972 in Fribourg (Schweiz), Leiter des Auslandsbüros Italien der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Rom.

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