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Globalisierung und Menschenbilder

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Das wichtigste weltgeschichtliche Ereignis der letzten Jahrzehnte war sicherlich die Globalisierung. Einerseits besteht kein Zweifel daran, dass sie durch neueste technische Entwicklungen enorm begünstigt und beschleunigt wurde. Ich denke an den immer schnelleren Transport von Personen und Gütern durch den Flugverkehr und zunehmend größere Frachtschiffe (wobei einige Capesize, also Massengutfrachter und Supertanker, seit 2009 sogar den inzwischen weiter ausgebauten Suezkanal passieren können, sofern ihr Tiefgang weniger als zwanzig Meter beträgt); insbesondere habe ich jedoch den sekundenschnellen Informationsaustausch durch das Internet im Sinn. Dieser erleichtert nicht nur die Organisation des Güterverkehrs, sondern auch viele Dienstleistungen können nun weltweit erfolgen, was die Allokationsrationalität außerordentlich steigert. Kapital kann ebenfalls in Sekundenschnelle bewegt werden. All das legt die Vermutung nahe, die Globalisierung sei einfach eine Nebenwirkung einer gleichsam naturwüchsigen technischen Entwicklung. Doch ist das zu kurz gedacht. Das bekannte Phänomen der Mehrfachentdeckungen in der Technik deutet vielmehr darauf hin, dass Entdeckungen „in der Luft liegen“, und sie liegen nur dann in der Luft, wenn eine starke Nachfrage nach ihnen besteht (was natürlich nicht heißt, dass alles, was nachgefragt wird, zu einem bestimmten Zeitpunkt auch technisch möglich wird).

Die Idee der Globalisierung lag in der Tat seit gut zweihundert Jahren in der Luft. Auch wenn sie einerseits durch realgeschichtliche Ereignisse, wie die großen Entdeckungsfahrten seit dem 15. Jahrhundert, angestoßen wurde, so gab es doch andererseits seit dem 18. Jahrhundert eine sehr gehaltvolle theoretische Diskussion über die Vor- und Nachteile des Welthandels. Und zweifelsohne hatten die Befürworter der Globalisierung – in Frankreich Montesquieu, in Großbritannien Adam Smith, in Deutschland Immanuel Kant – die besseren Argumente auf ihrer Seite. Diese waren keineswegs nur ökonomischer Natur (zu Smiths Theorie der absoluten Kostenvorteile fügte David Ricardo 1817 diejenige der komparativen Kostenvorteile hinzu). Mit dem Welthandel war die Hoffnung verbunden, Kriege zwischen den miteinander durch Handel verbundenen Staaten würden immer unwahrscheinlicher werden. Doux commerce, der „süße Handel“, soll bei Montesquieu die Gewaltbereitschaft der Menschen bändigen und die Raubzüge der Vergangenheit, die vielen Kriegen zugrunde lagen, ablösen.

Es ist offensichtlich, dass der Gründung der Europäischen Gemeinschaften nach der Erfahrung der beiden Weltkriege ähnliche Gedankengänge zugrunde lagen – durch wirtschaftliche Verflechtung der sich einst bekriegenden Staaten sollte ein Krieg zwischen ihnen geradezu unmöglich werden. Auch das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen von 1947 und die Gründung der Welthandelsorganisation im Jahr 1994 wurzelten in analogen Überzeugungen. Und man kann nicht bestreiten, dass sich viele der Hoffnungen verwirklicht haben: Europa hat seit 1945 eine einmalig lange Epoche des Friedens erlebt; die absoluten globalen Wohlstandsgewinne sind enorm gewesen; ja was vielleicht noch mehr zählt, auch die globale Einkommensungleichheit, die seit 1820 aufgrund der Industrialisierung Westeuropas stetig zugenommen hatte, begann um 2000 abzunehmen, weil Hunderte Millionen Chinesen und zunehmend auch Inder dank der Globalisierung den Aufstieg in die globale Mittelklasse schafften. Was will man sinnvollerweise dagegen einwenden?

Interessanterweise gab es freilich schon vor zweihundert Jahren Kritiker des sich anbahnenden philosophisch-ökonomischen Konsenses zum Welthandel. Die bedeutendste philosophische Stimme war Johann Gottlieb Fichte. In seinem Werk Der geschlossene Handelsstaat von 1800 wandte er sich gegen den Welthandel mit dem Argument, dieser würde Entscheidungen des Staates zunehmend von äußeren Vorgängen abhängig machen, auf die der Staat keinen Einfluss habe; die weltwirtschaftlichen Verwicklungen würden die Errichtung sozialer Gerechtigkeit im Inneren erschweren. Denn Fichte favorisierte planwirtschaftliche Ideen und ging davon aus, dass der Eigentumsbegriff nur innerhalb einer gemeinsamen Rechtsordnung Sinn ergebe.

 

Nationale Ungleichheit und weltanschauliche Spaltung

 

Nun muss man keineswegs Sympathien für Fichtes nationalen Sozialismus haben, um anzuerkennen, dass die Globalisierung auch ihre Schattenseiten hat, die auch und gerade diejenigen nicht totschweigen dürfen, die im Prinzip positiv gegenüber der Globalisierung eingestellt sind, weil sie die Argumente des 18. Jahrhunderts weiterhin für überzeugend halten. Diese Schattenseiten sind in den letzten Jahren immer deutlicher hervorgetreten. Im Wesentlichen sind drei Phänomene zu unterscheiden.

Erstens hat der Welthandel den weltweiten Konsum vermehrt, und dieser führt zu intensiverem Ressourcenverbrauch und mehr Umweltverschmutzung. Zwar ist es unfair, die Umweltzerstörung speziell mit der Globalisierung in Verbindung zu bringen, denn das Problem ist, dass die Preise, etwa für den Transport, nicht die ökologische Wahrheit abbilden, und ob ein gleich langer Transport Staatsgrenzen überschreitet oder nur in einem einzigen großen Land erfolgt, macht ökologisch keinen Unterschied. Aber es bleibt richtig, dass ohne den Welthandel der Konsum überflüssiger Güter geringer wäre. Und nicht minder richtig ist, dass die weltwirtschaftliche Konkurrenz ein umweltgerechtes Wirtschaften im eigenen Land, etwa durch Umweltsteuern, oft mit Wettbewerbsnachteilen bestraft. Doch kann die Antwort darauf nur in einer globalen „Erdpolitik“ dank internationaler Verträge bestehen. Diese kommt freilich nur langsam voran, während die Zeit für die Verhinderung ökologischer Katastrophen immer knapper wird.

Zweitens ist die Abnahme globaler Ungleichheit mit der Zunahme nationaler Ungleichheit in zahlreichen Ländern (und zwar sowohl in den entwickelten als auch in den Entwicklungsländern) einhergegangen. Diese wirtschaftliche Ungleichheit hat in vielen westlichen Staaten zu einer Schwächung staatlicher Politik, ja zu einer politischen, gar weltanschaulichen Spaltung geführt – zwischen urbanen, kosmopolitisch denkenden, von der Globalisierung profitierenden Eliten auf der einen und oft weniger gebildeten, traditionell, und das heißt meist national denkenden Bürgern auf der anderen Seite, die meist auf dem Land leben oder zur wegen des Konkurrenzdrucks aus den Entwicklungsländern sowie der Automatisierung verfallenden Arbeiterklasse gehören. Die politische Krise der Führungsmacht des Westens, der USA, hat wesentlich damit zu tun, dass in den 1990er­Jahren die „Globalisten“ auch innerhalb der Demokratischen Partei die Oberhand gewannen und stattdessen die Republikanische Partei dank der Tea-Party-Bewegung und schließlich unter der Führung eines Demagogen wie Donald Trump zum Sammelbecken wirtschaftspolitisch protektionistischer, innenpolitisch xenophober und außenpolitisch isolationistischer Kräfte wurde.

Die Ereignisse vom 6. Januar 2021 mit dem Sturm auf das Kapitol in Washington haben gezeigt, wie fragil die Rückkehr der USA unter Joe Biden zu ihrer traditionellen Rolle als Führungsmacht eines Westens ist, der weiter am Projekt einer geordneten Globalisierung arbeitet. Immerhin hat Biden Lehren aus der Niederlage von 2016 gezogen und bemüht sich sehr um die Wiedergewinnung der Arbeiterklasse und der von der Globalisierung Abgehängten. Doch wäre es naiv, anzunehmen, das Trump-Lager werde klein beigeben – eine Wiederkehr Trumps oder seiner Gesinnungsgenossen 2024 oder 2028 ist durchaus eine reale Möglichkeit. Ähnliche politische Vorstellungen der Abkehr vom Multilateralismus hin zu schlichteren und eingängigeren Souveränitätsidealen sind auch innerhalb verschiedener Staaten der Europäischen Union verbreitet und könnten diese noch weit über den Brexit hinaus gefährden.

 

Einigung auf komplexes Menschenbild

 

Drittens ist die weltwirtschaftliche Vernetzung nicht von der Herausbildung einer gemeinsamen Wertordnung begleitet worden. Gewiss: Sowohl das Völkerrecht als auch das internationale Privatrecht jedes Einzelstaates (denn es handelt sich dabei um innerstaatliches Recht zur Regelung juristischer Probleme mit Auslandsberührung) haben eine gewisse Angleichung der Rechtsordnungen bewirkt. Aber es bleibt dabei: Staaten sind in ihren Rechtssystemen und Verfassungen souverän und weichen auch material in ihren Rechtsprinzipien massiv voneinander ab. Diesen Abweichungen liegen unterschiedliche deskriptive und normative Menschenbilder zugrunde, die sich als widerständig gegenüber den Globalisierungsfolgen erwiesen haben. Man mag vielleicht überall gern Big Macs essen (sicher bin ich mir dessen nicht), aber selbst, wenn das der Fall sein sollte, heißt das keineswegs, dass man überall eine unabhängige Justiz wünscht oder das westliche Verständnis der Menschenrechte teilt.

Francis Fukuyamas Vorhersage einer unaufhaltsamen Entwicklung der Welt hin zu demokratischen Marktgesellschaften nach 1991 war unverantwortlich naiv, und die Ereignisse seit 2014 – Annexion der Krim durch Russland und Invasion in der Ostukraine – haben die ein Vierteljahrhundert vorher überwunden geglaubte Idee eines großen Krieges in zunehmendem Maße eine unheimliche Bedrohungskraft gewinnen lassen. Ja, seit einigen Jahren erkennen wir, dass etwa die Abhängigkeit vom Internet im Kriegsfall eine ganz besondere Form von Verwundbarkeit erzeugt hat, von der noch gar nicht klar ist, ob sie symmetrisch ist und allgemein besteht oder vielmehr von einer besser vorbereiteten Macht schnell zu ihrem eigenen Vorteil eingesetzt werden kann. Eine Kultur, die an kompliziertere Techniken gewöhnt und inzwischen auf sie angewiesen ist, wird vermutlich verwundbarer sein als solche, die es weniger sind.

Sollte die Globalisierung wider Erwarten einen großen Krieg nicht zu verhindern vermögen, wird dieser Krieg gerade wegen der globalen Abhängigkeiten vermutlich chaotischer und unberechenbarer sein, als viele traditionelle Kriege es waren. Deswegen muss alles darangesetzt werden, einen solchen Krieg zu verhindern. Dazu gehört einerseits glaubwürdige Abschreckung seitens eines geeinten, möglichst transatlantischen Westens, der in der Lage sein muss, auch im Cyberkrieg zurückzuschlagen. Andererseits ist es nicht minder wichtig, die Globalisierung des Handels durch eine Globalisierung universaler Werte zu begleiten. Viel wäre gewonnen, wenn man sich weltübergreifend auf ein komplexes Menschenbild einigen könnte. Ein solches Menschenbild involviert unweigerlich eine normative Dimension. Denn der Mensch, als das „nicht festgestellte Tier“, wie Friedrich Nietzsche zu Recht schreibt, ist nicht einfach durch die Natur gegeben; er macht sich zu dem, was er ist, indem er bestimmte Werte wählt, und er wählt sie dauerhaft nur, wenn er, anders als Nietzsche glaubt, sie als vorgegebene Wahrheit anerkennt.

 

Substanzieller Dialog der Kulturen

 

Eine Suche nach solchen allgemein verbindlichen Werten zeichnet China, Indien, Iran, Griechenland und Israel seit der Achsenzeit des ersten vorchristlichen Jahrtausends aus, als eine teils religiöse, teils philosophische Revolte gegen die traditionellen Volksreligionen einsetzte und – unter Berufung auf ein oft als gegenüber Natur und Gesellschaft transzendent konzipiertes Prinzip – sowohl ein Individualisierungsschub als auch eine Universalisierung der moralischen Normen erfolgte.

Es ist heute entscheidend, nicht einfach die westliche Ausprägung dieser universalen Werte zu vermitteln, und zwar aus zwei Gründen: Erstens hat sich im Westen heute weitgehend eine reduktionistische naturalistische Anthropologie durchgesetzt, die den Menschen ausschließlich als Produkt der biologischen Evolution versteht und damit seiner Geistnatur und seinem Bezug auf ein kontrafaktisches moralisches Prinzip gerade nicht gerecht wird.

Und zweitens ist selbst der klassische westliche Rationalismus so eng mit dem Imperialismus des 19. Jahrhunderts verwoben gewesen, dass seine triumphalistische Fortsetzung zu Recht auf Widerstände stößt. Daher muss es darum gehen, im aufrichtigen Dialog mit den verschiedenen Kulturen und Religionen so etwas wie ein Weltethos zu formen, um die Formulierung Hans Küngs zu verwenden. Denn auf die Dauer kann eine nur auf den ökonomischen Eigennutz gegründete Globalisierung nicht dauerhaft sein.

Der deutsch-­amerikanische Philosoph Hans Jonas wies besonders eindrucksvoll darauf hin, dass etwa der Gedanke intergenerationeller Gerechtigkeit das Symmetrieprinzip sprengt, denn spätere Generationen können sich an den früheren nicht für das Unrecht rächen, das diese ihnen antun. Hierzu sind forderndere moralische Prinzipien vonnöten, und ihre Ausarbeitung in einem substanziellen Dialog der Kulturen sollte eine dringend notwendige Ergänzung der rein wirtschaftlichen Globalisierung sein.

 

Viel, was hier nur skizziert ist, ist detailliert ausgearbeitet in meinem Buch Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart. Mit einem Geleitwort von Horst Köhler, Freiburg/München 2020.

 

Vittorio Hösle, geboren 1960 in Mailand (Italien), Paul G. Kimball Professor of Arts and Letters in den Instituten für Deutsche und Russische Sprache und Literatur, für Philosophie und Politische Wissenschaften, University of Notre Dame, Indiana (USA).

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