Moderne Verwaltungsstrukturen mit hoher digitaler und technologischer Kompetenz gehören immer mehr zum Fundament handlungsfähiger Demokratien. Wie wichtig das ist, zeigt sich gerade in Krisenzeiten. Ob bei der Registrierung Hunderttausender Flüchtlinge, bei der Auszahlung von Wirtschaftshilfen in Pandemien oder der Auszahlung von Energiepauschalen an Studierende – mit einer effizienten Staatsund Verwaltungsstruktur, die über die Ebenen der Kommunen und Länder bis zum Bund nahtlos zusammenspielt, wären sowohl manche Krisenreaktion als auch politisches Handeln schneller, effektiver und kostengünstiger möglich.
Das wirkt sich auf das Vertrauen in die politische Ordnung aus. In Deutschland halten fast sieben von zehn Bürgern den Staat generell für überfordert, obwohl der öffentliche Dienst in den vergangenen Jahren immer mehr Personal aufgebaut hat und die Staatsausgaben stark gestiegen sind. Tatsächlich verlieren sich die über Jahrzehnte gewachsenen Verwaltungsstrukturen allzu oft in Komplexität, einer unübersichtlichen Akteurslandschaft, langwierigen bürokratischen Entscheidungsprozessen und politischen Maßnahmen, die noch immer ohne valide Datenbasis entwickelt werden und trotz der Investition enormer Milliardensummen in ihrer Wirkung teils verpuffen.
Dieses Ergebnis überrascht wenig: Viele Verwaltungsstrukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie im Bildungsbereich über den Sozial- und Arbeitsmarkt, beim Zugang zu Bürgerdienstleistungen bis hin zu Genehmigungs- und Verwaltungsverfahren etwa bei Unternehmensgründungen weisen gravierende Schwachstellen auf, die die Handlungsfähigkeit des Staates beeinträchtigen und das in ihn gesetzte Vertrauen beschädigen.
Schlüsseltechnologie des öffentlichen Sektors
Im Ergebnis wird der Ruf nach einer umfassenden Modernisierung der Verwaltung – über alle politischen Lager hinweg – lauter. „Verwaltungsmodernisierung“ und „Staatsmodernisierung“ sind keine Randthemen politischer Fachjuristen, sondern rücken in den Mittelpunkt der politischen Agenda.
Die Frage nach der Handlungsfähigkeit des Staates in Zeiten rasanter Entwicklungsfortschritte vor allem neuer digitaler Technologien wird die künftigen Wahlkämpfe prägen. Künstliche Intelligenz (KI) kann ein entscheidendes Instrument zur Modernisierung des Staates werden. KI hat sich zu einem der zentralen Treiber der Digitalisierung entwickelt und birgt nicht nur eine enorme Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch für unsere Demokratie.
Tatsächlich werden erste, noch relativ einfache KI-Anwendungen – dank der zunehmenden Leistungsfähigkeit sogenannter Large Language-Models (LLMs) – längst in Verwaltungen vom Bund bis in die Kommunen getestet und schaffen realen Nutzen. Insbesondere die Verwaltung in Deutschland ist aktiver Testanwender von KI: In der Kommunikation zum Bürger kann ein modernes Sprachmodell beispielsweise einen behördlichen Bescheid erklären; mit einem erstaunlichen Verständnis der Gesetze und Verfahren. Verwaltungsorganisationen nutzen LLMs, um Prozesse zu beschleunigen und Personal zu entlasten. KI wird eingesetzt, um zu helfen, Vorgaben detailgenau und trotzdem effizient umzusetzen und dem Personalmangel entgegenzuwirken.
Es wird dabei nicht nur bei vermeintlich einfachen Anwendungsfällen bleiben. Vom KI-Einsatz in den Steuer- und Finanzbehörden (Financial Intelligence) bis zum Process Mining, dem Aufbereiten unerschlossener Daten und Informationen in Verwaltungsorganisationen – KI wird künftig in weitaus größerem Umfang als Schlüsseltechnologie von Regierungen und Organisationen des öffentlichen Sektors eingesetzt werden.
Vier Trends
Der verstärkte Einsatz von KI-Systemen durch den Staat wird vor allem in den Anwendungsfeldern rasant anwachsen, in denen gesellschaftliche Trends und technologische Entwicklungen verstärkt zusammenkommen – einige Beispiele.
Erstens: wachsende Personalknappheiten. Aktuell fehlen dem Staat mindestens eine halbe Millionen Beschäftigte in zentralen Bereichen, Tendenz: stark steigend. Vom Fachkräftemangel betroffen sind alle Sektoren der staatlichen Daseinsvorsorge, etwa Bildung, Gesundheit, Infrastruktur sowie Innere und Äußere Sicherheit. Der ständige Aufgabenzuwachs bei den Kommunen – oftmals Ergebnis bundespolitischer Entscheidungen – schlägt sich ebenfalls deutlich in wachsenden Personallücken in der Verwaltung nieder. Das Ergebnis liegt auf der Hand: „Mehr Personal“ als Lösungsinstrument bei der Gestaltung von Performance-Lücken in der Verwaltung ist kaum noch eine Lösung.
Zweitens: hohe Innovationsdynamik. In der sich rasant entwickelnden Welt der Künstlichen Intelligenz sind Innovationen und Fortschritte an der Tagesordnung. Der Innovationsdruck, nahezu ausschließlich getrieben durch die Tech-Szene, bleibt somit in vielen staatlichen Aufgabenfeldern enorm hoch – allen voran in den Bereichen Gesundheit, Verteidigung, Sicherheit oder Finanzen. Verwaltungen, die diesem Druck nicht hinreichend durch Anpassung Rechnung tragen können, werden für die Bürgerinnen und Bürger an Leistungsfähigkeit und Akzeptanz verlieren.
Drittens: engere Finanzspielräume in den Haushalten. Die Finanzspielräume in den Haushalten werden auf allen Ebenen bis hinein in die Kommunen enger. Geopolitische (Krisen-)Entwicklungen, unsichere Wirtschaftslagen und wachsende Sozialausgaben alternder Gesellschaften wie in Deutschland führen zu einem Konsolidierungsdruck bei der Entwicklung und Anwendung technologischer und digitaler Innovationen in Staat und Verwaltung. Je höher der potenzielle Effizienzgewinn eines Einsatzes von KI-Lösungen in der Verwaltung ist, desto wahrscheinlicher wird ihr Einsatz werden.
Viertens: wachsender Wettbewerbsdruck. Verwaltungen und Regierungsformen – allen voran die Demokratie – stehen unter wachsendem Wettbewerbsdruck. Schon heute agieren immer mehr private Akteure in Anwendungsfeldern, die lange Zeit allein Staaten vorbehalten waren. Beispiel Verteidigung: Die Wehrhaftigkeit der Ukraine im Angriffskrieg Russlands wäre ohne die Ressourcen und Expertise von privaten Drohnenherstellern und Softwareentwicklern kaum denkbar. Beispiel: (digitale) Infrastruktur: In einer Welt, die immer mehr durch (Informations-)Technologien bestimmt wird, werden leistungsfähige Rechenzentren zu einer Kern-Infrastruktur. Die leistungsfähigsten Rechenzentren sind längst nicht mehr in den Händen von Staaten und Verwaltungen. So hat Anfang 2024 das Projekt Stargate in Fachkreisen für Furore gesorgt, durch das Microsoft und OpenAI ein KI-Rechenzentrum für bis zu 100 Milliarden Dollar planen; ein Projekt, das um ein Vielfaches teurer ist als einige der größten bestehenden Rechenzentren.
Für Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland, deren politische und verwaltungsbezogene Handlungsmuster sich über Jahrzehnte vor allem aus Prinzipien wie Stabilität und Sicherheit heraus abgeleitet haben, stellen die aufgeführten Trends eine bisher noch nie da gewesene Herausforderung dar. Die zentralen Wachstumsfundamente der Bonner Republik – ökonomisch, technologisch oder sicherheitspolitisch – lösen sich in einer Geschwindigkeit auf, die einen konsequenten, ambitionierten Gestaltungswillen erfordert. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die staatlichen Aktionen zur Gestaltung der Künstlichen Intelligenz, deren Entwicklungsgeschwindigkeit nicht vermuten lässt, dass sie als zentraler Einflussfaktor der Entwicklung von Staaten und Verwaltungen irgendwann wieder an Relevanz verlieren würde.
Moderne, dynamische Regulierung
Für Deutschland ergeben sich zwei große Hebel, der wachsenden Bedeutung von KI gerecht zu werden. In und für Deutschland müssen staatliche KI-Anwendungen so konzipiert und implementiert werden, dass diese sicher sind, zur Unterstützung der Demokratie beitragen und dabei Daten (der Regierung wie auch der Bürgerinnen und Bürger) transparent, sicher und zuverlässig verarbeiten. Denn der Einsatz von KI im öffentlichen Sektor setzt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die neuen Technologien ebenso voraus wie das Vertrauen der Verwaltungsmitarbeiter und -mitarbeiterinnen in den Mehrwert und Nutzen der Technologie für ihren Verwaltungsalltag.
Im Rahmen des verabschiedeten europäischen Artificial Intelligence Act (AI Act) wurde dazu weltweit erstmals ein umfassendes Regelwerk für KI entwickelt. Bewährt es sich in der Praxis, wird das europäische Gesetz den entscheidenden Rahmen für den Einsatz Künstlicher Intelligenz in Europa setzen, um Innovationen zu fördern und gleichzeitig das Vertrauen in die Nutzung von KI zu stärken. Ein erster Erfolg ist der globale Vorbildcharakter, den nationale Regelungen kaum erreichen können.
Auch wenn das Potenzial für den Einsatz von KI erkannt ist und ein erstes KI-Regelwerk entwickelt wurde, sollten in der Anfangsphase keine Wunder erwartet werden. Von der Politik werden die Einsatzmöglichkeiten von KI kurzfristig überschätzt, die langfristigen Effekte dagegen unterschätzt. Werden überzogene Erwartungen enttäuscht, kann es dazu kommen, dass die dringend notwendigen strukturellen Veränderungen für einen flächendeckenden Einsatz der KI nicht angegangen werden. Deshalb ist es wichtig, ein realistisches Erwartungsmanagement zu betreiben und den AI Act der Europäischen Union kontinuierlich an neuere Entwicklungen anzupassen.
Dies erfordert einen modernen, dynamischen Regulierungsansatz, keinen statischen, restriktiven Vorschriftenkatalog. Nur so können die technologischen Innovationssprünge und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten kontinuierlich bewertet und, wenn nötig, (nach-) reguliert werden. Gelingt dies Staat und Politik nicht, droht der Verlust von Vertrauen in seine Regulierungskompetenz – bisher eine der letzten zentralen Kernhoheiten von Staaten überhaupt.
Operative Exzellenz durch Umbau von Staat und Verwaltung
Auch wenn KI-Anwendungen ein großes Potenzial für die Anwendung durch Staat und Verwaltung haben: Sie sind kein ultimatives Allheilmittel, ihr Einsatz wird den Staat weder handlungsfähiger machen noch die Unzufriedenheit über Bürokratie und Verwaltungsstrukturen signifikant reduzieren. Ohne den grundlegenden Umbau der Organisation in unseren Verwaltungsapparaten sowie langfristige Maßnahmen wie Investitionen in die (digitalen) Infrastrukturen der Zukunft – allen voran die Cloud-Systeme – wird es nicht gehen. Es gilt das Prinzip, Staat und Verwaltung endlich „plattformfähig“ zu machen. Digitale Plattformen sind grundlegend für das Bereitstellen digitaler Lösungen auf der Basis gemeinsamer Standards und Entwicklungsprinzipien. Bisher schenken staatliche Akteure der proaktiven staatlichen Nutzung von Plattformprinzipien kaum Beachtung, eine schier unübersichtliche Zahl von staatlichen und halbstaatlichen Akteuren arbeitet noch zu oft in Parallelstrukturen, ohne Abstimmung oder Zusammenarbeit über Grenzen hinweg.
Dies zu ändern, ist die Aufgabe konsequenter, entschlossener politischer Führung. Noch viel zu oft wird versucht, „das Neue“ auf dem politischen Betriebssystem der Vergangenheit zu bauen. Der große Erfolg bleibt trotz Milliardenausgaben für die Verwaltungsmodernisierung aus. Und das ist nicht verwunderlich, denn die Erfolgsfaktoren von Innovation und Zukunft folgen den administrativen Grenzen von Bundesländern ebenso wenig wie den politisch sorgsam austarierten, geschlossenen Ökosystemen des staatlichen IT--Zeitalters, das schon längst zu Ende gegangen ist.
Staat und Verwaltung müssen mehr denn je offene Ökosysteme aufbauen, um die Demokratie technologiefähig zu machen. Tech-Unternehmen, Start-ups oder Forschungsakteure entlang neuer Bereiche wie Machine Learning oder Data Science verfügen über die Expertise und die Fähigkeiten, die sich der Staat zunutze machen muss. Gerade im KI-Umfeld werden staatliche Akteure realistischerweise kaum mithalten können. Allerdings darf das nicht zu einer einseitigen Abhängigkeit führen. Um auf Augenhöhe agieren zu können, müssen Verwaltungen entsprechende Kompetenzen aufbauen, um Partnerschaften zwischen Staat und KI-Unternehmen wirksam einrichten, steuern und bewerten zu können. Nur so kann gewährleistet werden, dass staatliche Institutionen die KI-Expertise von Unternehmen ziel- und anwendungsbezogen einbeziehen und in der Lage sind, die Ausgestaltung von KI-Anwendungen abzuschätzen und die Kosten einzuschätzen.
Wie mit jeder neuen Technologie sind mit der Künstlichen Intelligenz weitreichende Chancen verbunden, wenn wir die Risiken akzeptieren, nicht überhöhen und bestmöglich einhegen. Die konstruktive, ambitionierte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, die uns KI bietet, ist allemal lohnend. Ein kluger Einsatz von KI kann maßgeblich dazu beitragen, einen leistungsfähigeren und technologiefähigen Staat zu ermöglichen und mit einer Verbesserung der Qualität staatlicher Leistungen auch das Vertrauen in die Demokratie zu stärken.
Der Einsatz von KI allein wird jedoch wenig Wirkung haben. Angesichts der wachsenden technologischen Herausforderungen und gesellschaftlichen Trends bedarf es einer echten „Staatenwende“ in Deutschland: eines schrittweisen, aber ambitionierten Umbaus der Staatsund Verwaltungsstrukturen in Deutschland, der den technologischen Anforderungen und Herausforderungen vom Bund bis in die Kommunen langfristig Rechnung trägt.
Lars Zimmermann, Mitgründer und Vorstand des GovTech Campus Deutschland und 2024 Fellow der Konrad-Adenauer-Stiftung.