Stets hatten wir herausragende und engagierte Stipendiatinnen und Stipendiaten in unseren Reihen – Stefan W. Hell, Nobelpreisträger für Chemie, zählen wir stolz dazu. Heute sind die jungen Menschen in der Förderung nicht weniger beeindruckend, aber die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen: Das heißt, die Arbeit der Stiftung passt sich – ohne ihre Wertebasis preiszugeben – den veränderten Bedürfnissen der Geförderten an.
Fähig zu besten akademischen Leistungen, zu Konversation und Korrespondenz in mehreren Fremdsprachen auf hohem Niveau, bereits welterfahren mit Reisen und Aufenthalten auf entfernten Kontinenten, bereit zu ehrenamtlichem Engagement, unterwegs in sozialen Netzwerken und vertraut mit den Instrumenten des digitalen Zeitalters – so treten sie uns heute entgegen.
Ein halbes Jahrhundert Begabtenförderung – das bedeutet auch ein halbes Jahrhundert tief greifenden Wandels: Deutsche Einheit, Globalisierung, digitale Revolution, die jeden Lebensbereich erfasst, all das schlägt sich in veränderten Studienbedingungen, einem gewandelten Arbeitsmarkt, anderen gesellschaftlichen Bedingungen mit veränderten Werteauffassungen nieder. Dieser Wandel wird von jungen, begabten Menschen in Gang gesetzt, erfasst und gelebt.
Mit diesen Zeitenwenden veränderte die Begabtenförderung ihr Gesicht, wie mein Blick zurück als Altstipendiatin und heutige Vertrauensdozentin zeigen mag.
Kaum Kinder von Gastarbeitern in der Begabtenförderung
Bunt waren die Stipendiatengruppen in den 1970er- und 1980er-Jahren, was die Fächerwahl anbelangt, wenn auch die staats- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen dominierten. Nichtdeutschstämmige Studierende gab es in sehr überschaubarer Zahl. Sie waren zum Studium nach Deutschland gekommen. Selbst in meiner großen Münchener Gruppe waren es lediglich zwei türkische Studenten, die betriebswissenschaftliche Kenntnisse in Deutschland erwerben wollten. Die Kinder der Gastarbeiter hatten erst in seltenen Fällen den Weg an die deutschen Universitäten gefunden und in noch selteneren Fällen eine Bewerbung bei einer Begabtenförderung eingereicht – der Begriff Begabtenförderung allein erheischte ja auch bei Deutschen beachtlichen Respekt. Wie die Statistiken ausweisen, war die Studentenschaft in Deutschland damals sozial und ethnisch weit homogener, und die Stipendiatengruppen waren ein Spiegel davon: Die Begriffe „Menschen mit Migrationshintergrund“ und „Patchwork-Familien“ waren noch nicht erfunden. Zumindest bei den Geförderten in Bayern war es selbstverständlich, kirchlich gebunden zu sein oder wenigstens auf Sozialisation in einer der christlichen Kirchen zurückblicken zu können. Unausgesprochen gab es bei Gesprächen und Diskussionen ein Gemeinsames: Über Werte tauschten wir uns auf der Basis christlichen Verständnisses aus. Mit einer päpstlichen Enzyklika konnten eigentlich alle etwas anfangen, über das Zölibat ließ sich trefflich streiten, nicht nur zwischen Protestanten und Katholiken, sondern auch unter Letzteren; mit dem Tod, so glaubten alle, sei ziemlich sicher nicht alles zu Ende, und selbstverständlich würde man kirchlich heiraten und seine Kinder taufen lassen.
Seit den 1970er-Jahren hat die Zahl der Abiturienten aus Familien mit nichtakademischem und nichtdeutschstämmigem Hintergrund zugenommen. Zu unseren hervorragenden Absolventen gehören inzwischen selbstverständlich Menschen, deren Eltern nicht in Deutschland geboren wurden. Diese Entwicklung wird sich in den kommenden Jahren noch sehr viel deutlicher in der Stipendiatenschaft widerspiegeln.
Großes Potenzial der Verunsicherung
Mein Wechsel nach Sachsen machte mir bewusst, dass sich spätestens mit der deutschen Einheit das Profil der Geförderten geändert hatte. Zwar liegt der Anteil an Christen in meiner Stipendiatengruppe deutlich über dem Schnitt der Chemnitzer Studentenschaft. Ein Vierteljahrhundert nach der Einheit ist das Wissen über die christliche Religion inzwischen wohl bei den Chemnitzer Studenten größer und das „Fremdeln“ geringer als noch in den Jahren unmittelbar nach der Friedlichen Revolution. Die Atheisten, die nach 1989 in die Studienförderungen aufgenommen wurden, wunderten sich nachhaltig, dass sie es in eine der Christlich Demokratischen Union nahestehende Stiftung „geschafft“ hatten; sie fragten sich, ob sie sich dort wohlfühlen könnten. In Informationsgesprächen vor einer Bewerbung war dies häufig die dominierende Frage. Deutschland ist „bekenntnisfreier“ geworden – und so auch die Stipendiatenschaft – das bedeutet nicht, dass ihr ein Wertegerüst fehlt.
Noch etwas war in Sachsen anders als in Bayern: Die Studierenden waren deutlich jünger – das Abitur in den neuen Bundesländern nach acht Jahren machte sich bemerkbar. Heute ist das frühe Abitur ein gesamtdeutsches Phänomen, das durch die ausgesetzte Wehrpflicht noch stärker in Erscheinung tritt: Die Stipendiatinnen und Stipendiaten sind erheblich jünger, oft gerade erst achtzehn Jahre alt; sie suchen noch mehr als früher ihren Platz im Leben, sind innerlich zum Teil weniger gefestigt. Wie auch nicht? Gerade in dieser Lebensperiode machen wenige Jahre einen großen Unterschied aus; hinzu kommt, dass sie alle nach ihren Lebens- und Berufszielen in einer unübersichtlichen Universitäts- und Arbeitswelt suchen, die einem rasanten Wandel unterworfen ist; feste Rollenbilder gibt es schon lange nicht mehr, und es gilt, unter einer unübersichtlichen Vielzahl an Studiengängen die richtige Entscheidung zu treffen. Welch ein Potenzial zur Verunsicherung!
Zudem hat die „Bologna-Reform“ das Leben der Studierenden verändert, mit Folgen für die Hochschulgruppen und für das ehrenamtliche Engagement: Die Zeiten sind vorbei, in denen Vertrauensdozenten Stipendiaten vom ersten Semester bis zur Promotion begleiten und in ihrer Entwicklung beobachten durften, in der sich gut eingewurzelte und neue Gruppenmitglieder gegenseitig inspirieren und auch längerfristige Projekte wie gemeinsame Reisen planen konnten. Wenn die Entscheidung für ein Auslands- oder Praktikumssemester gefallen ist oder für ein Masterstudium an einer anderen Universität, sind einige Geförderte vielleicht nicht einmal zwei Semester dabei. Das wirkt sich aus auf die Chancen, Freundschaften zu schließen, Netzwerke und engere Beziehungen mit dem Vertrauensdozenten aufzubauen.
Örtliche Kontinuität und politische Elite
Das Studentenleben unter dem Bologna-Regime hat weitere Folgen: Das Studium läuft unter geringerer zeitlicher Flexibilität ab, mit eng getakteten Leistungsnachweisen und Prüfungen. Gerade begabte Studierende sind bestrebt, Praktika im In- und Ausland in den Semesterferien und oft auch im Semester abzuleisten. Dies und Studienortswechsel erschweren das politische, gesellschaftliche und soziale Engagement, denn dieses setzt eine gewisse örtliche Kontinuität voraus. Wahlämter zu übernehmen bedeutet meist, schon Basisarbeit geleistet zu haben. Andererseits kommt es auch vor, dass auf dem Weg zu einem Mandat ein Auslandsaufenthalt nicht „in den Kram passt“ – ein Dilemma, denn die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, die heute die Globalisierung an Deutschland stellt, setzen politische und wirtschaftliche Eliten voraus, die über Auslandserfahrungen verfügen und andere Kulturen, andere gesellschaftliche Systeme, andere Traditionen tatsächlich erlebt haben.
Engagement bedeutet heute zudem seltener parteipolitisches Engagement. Die polarisierenden „Grundsätzlichen“ Themen – „Freiheit statt Sozialismus“ – gibt es nicht mehr. Umweltschutz – nicht wenige sind hier in verschiedenen Kontexten aktiv – ist längst ein Unionsthema. Soziales Engagement für Kinder, Jugendliche und Alte ist verbreitet, wohl auch die Vorstellung, nicht dauerhaft bei einer Sache oder einer Partei mitzumachen – wer weiß, wo man morgen ist.
Studentinnen und Studenten mit Kindern? Früher doch nicht! Heute schon! Damals hieß es: erst einmal das Studium beenden, denn wohin mit dem Kind? Dann muss der Berufseinstieg geschafft werden, denn wer nimmt schon eine junge Mutter? Fest im Sattel, kann man nachher über Kinder nachdenken, so mit Anfang, Mitte dreißig, falls nicht noch der passende Vater gesucht werden muss. Heute wissen die Studentinnen und Doktorandinnen und ihre Partner, dass es für Frauen den „richtigen Zeitpunkt“ für eine Familiengründung eigentlich nicht gibt – und nicht wenige beschließen, mit dem Kind oder den Kindern „aus dem Gröbsten heraus zu sein“, wenn das heute noch stärker fordernde Berufsleben beginnt. Manche bleiben in ihren Berufszielen aber karriereorientiert – Beispiele aus der Politik oder der Arbeitswelt vor Augen.
Andere, und zwar explizit auch junge Männer, wollen ein Berufsleben, dessen E-Mails und Internetarbeit bis in die Wochenenden und Ferien dringen, nicht auf Kosten des Familienlebens führen. In all den Jahrzehnten seit meinem Studium habe ich nie so deutlich wie in den vergangenen Jahren erfahren, dass eine berufliche Karriere nicht mehr als das höchste Ziel empfunden wird, sondern partnerschafts- und familienkompatibel sein muss. Das heißt nicht, dass diejenigen, für die Karriere nicht an erster Stelle steht, mit den anderen nicht den Wunsch nach Optimierung ihrer „Performance“, ihres Auftretens teilen: Seminare, die Bildungsdefizite ausgleichen und Auftreten, Rhetorik und Präsentation verbessern, erfreuen sich auch bei ihnen großer Beliebtheit.
Die Begabtenförderung hat sich nicht weniger gewandelt als diejenigen, die sie betreut. Die Aufnahmeverfahren wurden angepasst: Heute bietet die Konrad-Adenauer-Stiftung Unterstützung für ein Teil- oder gar Vollstudium im Ausland, gründet Hochschulgruppen an dortigen Universitäten, bietet mehr Seminarprogramme, die auf Berufswege in einer internationalisierten Welt vorbereiten, sowie Praktikumsplätze im In- und Ausland und Unterstützung für sogenannte Erstakademiker – also Studierende, deren Eltern keine Akademiker sind. Nicht zuletzt sind die Vertrauensdozenten gefordert: Hochschullehrer, die selbst Studenten in den hochpolitisierten 1968er-Jahren waren, müssen sich in eine andere akademische Welt und in andere Formen des Engagements hineindenken. Neben dem Rat zum Fortkommen im Studium sind Gespräche und Begleitung in Lebenskrisen viel gefragt – all das gehört zur notwendigen Ausrüstung der akademischen Elite, wenn Deutschlands Zukunft gelingen soll.
Beate Neuss, geboren 1953 in Essen, Professorin für Internationale Politik an der Technischen Universität Chemnitz, Altstipendiatin, Vertrauensdozentin und stellvertretende Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung.