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Anmerkungen zum "Sachsen-Monitor 2016"

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Wenn es um die politische Kultur im Osten Deutschlands geht, richten sich seit einiger Zeit die Scheinwerfer der Öffentlichkeit auf den Freistaat Sachsen. Gewiss hat die seit 2014 aktive „Pegida“-Bewegung erheblichen Anteil an dieser gesteigerten Aufmerksamkeit. Ticken die Sachsen anders? Wirft man einen oberflächlichen Blick etwa auf den „Sachsen-Monitor 2016“ (eine im Auftrag der Sächsischen Staatskanzlei vom Markt-und Politikforschungsinstitut „dimap“ erstellte Studie), könnte man versucht sein, diese Frage zu bejahen. Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus. Jedenfalls ist sie viel komplexer.

Zur Komplexität gehört, dass – wie die Studie nachweist – in wichtigen Fragen politischer Kultur signifikante Unterschiede innerhalb Sachsens bestehen, nämlich zwischen dem Direktionsbezirk Leipzig einerseits und den Direktionsbezirken Chemnitz und Dresden andererseits. Bemerkenswert sind auch die Unterschiede zwischen den Generationen. So nennen von den 18- bis 29-Jährigen 28 Prozent – doppelt so viele Befragte wie bei den Altersgruppen ab 60 Jahren – den Themenkomplex „Asylpolitik/ zu viele Ausländer / Überfremdung“ als „wichtigstes Problem“ in Sachsen, wenn sie ohne Vorgabe einer Antwortmöglichkeit gebeten werden, ihre Ansicht spontan zu äußern. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite stehen jene 20 Prozent der 18- bis 29-Jährigen, die den Anstieg des Rechtsextremismus als wichtigstes Problem für ihr Land bezeichnen – wiederum doppelt so viele wie bei den Befragten ab 60, ja sogar bei den Altersstufen ab 30 Jahren. Hier zeigt sich innerhalb der jungen Generation eine Polarisierung, die stärker ausgeprägt ist als bei älteren Jahrgängen.

Allein diese Beispiele verdeutlichen, dass der „Sachsen-Monitor 2016“ nicht für generalisierende Urteile über die sächsische Bevölkerung taugt. Länderübergreifende Vergleiche widerlegen zudem die These eines sächsischen Sonderweges auf dem Feld der politischen Kultur.

Aus den zahlreichen Aspekten, unter denen sich die Befunde der Sachsen-Studie auswerten lassen, sollen hier drei herausgegriffen werden: Erstens: der Vergleich mit den anderen ostdeutschen Ländern; zweitens: neuere Entwicklungen in Ostmitteleuropa (Polen, Ungarn); drittens: Tendenzen in der jüngeren Generation.

 

Kein Sonderfall Sachsen

Bei einem Ost-West-Vergleich grundlegender politischer Orientierungen fällt Sachsen keineswegs als extremer Sonderfall im Kreis der ostdeutschen Bundesländer auf. Die These von einer spezifisch sächsischen Anfälligkeit für Rechtspopulismus, Demokratieverdrossenheit und gruppenbezogene Aversionen lässt sich nicht aufrechterhalten.

Mitprägend für die gesamtdeutsche politische Kultur sind nach wie vor deutliche Einstellungsunterschiede zwischen Ost und West. Bereits an der Oberfläche, nämlich den Ergebnissen der Sonntagsfrage (Landtagswahlen), sind fortbestehende Differenzen zwischen dem Osten und dem Westen der Bundesrepublik ablesbar: Im Osten kam die AfD 2016 auf Werte zwischen 15 und 25 Prozent – im Westen lagen ihre Werte um rund 10 Prozent niedriger, nur in Hessen und Baden-Württemberg gab es zuletzt deutliche Abweichungen nach oben (Hessen 14 Prozent im Januar 2017, Baden-Württemberg 17 Prozent im September 2016). Einiges spricht für die Vermutung, dass die AfD-Zahlen im Zuge des Bundestagswahlkampfes insgesamt zurückgehen werden – nicht zuletzt deshalb, weil eine Polarisierung zwischen Union und SPD die Behauptung der AfD konterkariert, sie sei die einzige „Alternative“ zum Status quo.

Im West-Ost-Vergleich zeigen sich deutliche Meinungsunterschiede auch dort, wo nach dem Funktionieren unserer Demokratie oder der Glaubwürdigkeit unserer Medien gefragt wird.

 

Institutionenvertrauen – Unterschiede zwischen West und Ost

Im Dezember 2016 ergab eine Studie von „infratest dimap“ im Auftrag des WDR, dass fast zwei Drittel (64 Prozent) der Westdeutschen mit dem Funktionieren der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland zufrieden oder sehr zufrieden sind, im Osten Deutschlands dagegen etwas weniger als die Hälfte (49 Prozent). Unter den staatlichen Institutionen genießt die Polizei auf gesamtdeutscher Ebene mit 81 Prozent das höchste Vertrauen, doch auch hier weichen West und Ost signifikant voneinander ab (West 84, Ost 70 Prozent). Dieses Muster setzt sich fort im Blick auf das Bundesverfassungsgericht (West 72, Ost 57 Prozent), die Bundesregierung (West 42, Ost 35 Prozent) und den Bundestag (West 43, Ost 32 Prozent).

Häufiger als ihre ostdeutschen Mitbürger (48 Prozent) halten westdeutsche Befragte (59 Prozent) die Medien für eine glaubwürdige Informationsquelle. Dieses Gefälle von rund 10 Prozent bleibt bestehen, wenn konkret nach „staatstragenden“ Medien wie Tageszeitungen, öffentlich-rechtlichem Radio und öffentlich-rechtlichem Fernsehen gefragt wird. Im Westen lehnen mehr als drei Viertel der Befragten (77 Prozent) das Wort „Lügenpresse“ ab, im Osten sind es gut zwei Drittel (68 Prozent). Die Bertelsmann-Studie „Willkommenskultur im ‚Stresstest‘“ vom April 2017 konstatiert, dass Ost und West im Hinblick auf die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen, „weiter auseinander driften“.

Der „Sachsen-Monitor 2016“ bestätigt den Eindruck, dass die Ansichten der sächsischen Bevölkerung im Großen und Ganzen denen der übrigen Ostdeutschen entsprechen. So äußern sich 51 Prozent eher zufrieden oder sehr zufrieden über das Funktionieren der Demokratie auf Bundesebene; für die eigene Landesebene sagen das sogar 56 Prozent (Brandenburg 57 Prozent im November 2016, Mecklenburg-Vorpommern 62 Prozent im August 2016). Ein ähnlicher Gleichklang zwischen Sachsen und anderen Ostdeutschen ist beim Institutionenvertrauen zu beobachten: Polizei 70 Prozent (Ost 70), Bundesregierung 33 (Ost 35), Bundestag 33 Prozent (Ost 32).

 

Nativistische Strömungen

Spätestens mit der (oft so genannten) Flüchtlingskrise seit 2015 sind Bruchlinien zwischen den westlichen Altmitgliedern und den ostmitteleuropäischen Neumitgliedern der Europäischen Union sichtbar geworden. Der Wunsch nach Verteidigung kultureller Identität und nationaler Souveränität gegen Entwicklungen, die als „Überfremdung“ und „Fremdbestimmung“ empfunden werden, lässt sich mit dem US-amerikanischen Begriff „Nativismus“ genauer erfassen als mit der Allerweltsbezeichnung „Rechtspopulismus“.

Nativistische Strömungen gibt es auch im Westen Europas – in Großbritannien ebenso wie in den Niederlanden und Frankreich. Aber anders als in Ungarn und Polen haben sie es nicht geschafft, parlamentarische Mehrheiten hervorzubringen. Internationale Vergleichsstudien des Washingtoner Pew Research Center von 2016 und 2017 zeigen, dass Deutschland bei nativistischen Einstellungen im europäischen Mittelfeld liegt.

Es ist kein überraschender Befund, dass der Osten Deutschlands in dieser Hinsicht näher beim ostmitteleuropäischen, der Westen Deutschlands näher beim westeuropäischen Mainstream liegt. Der „Sachsen-Monitor 2016“ liefert dafür aussagekräftige Hinweise. Nativistische Tendenzen lassen sich besonders klar an den Sorgen der Befragten vor „Überfremdung“ ablesen. In Sachsen gaben 58 Prozent an, die Bundesrepublik sei „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“. Das gelte auch für ihre persönliche Wohnumgebung, meinten 17 Prozent. Bei den 18bis 29-Jährigen waren es sogar 32 Prozent. Hier klaffen tatsächliche Verhältnisse (praktisch keine Ausländer in der persönlichen Wohnumgebung) und gefühlte Wirklichkeit in grotesker Weise auseinander. Der „Sachsen-Monitor 2016“ erklärt diese Diskrepanz mit „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“. Man könnte sie aber auch als Symptom einer tiefsitzenden Angst vor Identitätsverlusten interpretieren.

Für die enorme Bedeutung der Identitätsfrage spricht auch, dass das Institutionenvertrauen in Sachsen umso größer ist, je näher – im wörtlichen Sinne – eine Institution den Bürgerinnen und Bürgern steht: Zum Bürgermeister der eigenen Gemeinde oder Stadt haben 57 Prozent der sächsischen Befragten Vertrauen – dagegen nur 18 Prozent zur Europäischen Kommission. Im Prinzip dürfte ein solches Vertrauensgefälle auch in anderen europäischen Regionen und Ländern zu beobachten sein; es taugt also ebenfalls nicht als Indiz für einen sächsischen Sonderweg.

 

Je jünger, desto skeptischer gegenüber Autoritäten

Als Deutschland 1990 seine staatliche Einheit wiedererlangte, war die Hoffnung groß, dass die innere Einheit nach einer Generation auch in den Köpfen der Deutschen vollendet sein werde. Doch wie hätte dieser Angleichungsprozess politisch forciert werden können? Schon 1844 hatte Heinrich Heine in seinem „Wintermärchen“ die innere Einheit als „Einheit im Denken und Sinnen“ definiert – und gespottet, das wirksamste Mittel, dieses Ziel zu erreichen, sei die Zensur.

Jedenfalls hat die Zeit allein eine völlige „Einheit in Köpfen“ nicht bewirken können. Aber man sollte doch erwarten, dass der mentale Angleichungsprozess umso weiter fortgeschritten ist, je jünger die Befragten sind.

Doch da wartet der „Sachsen-Monitor 2016“ mit einigen kontraintuitiven Befunden auf. So ist bei denjenigen, die im vereinten Deutschland aufgewachsen sind (also der Altersgruppe der 18bis 29-Jährigen), das Institutionenvertrauen besonders schwach ausgeprägt – und bei denjenigen, die den größten Teil ihres Lebens in der DDR verbracht haben (also der Altersgruppe 70 plus), besonders stark. Polizei: 55 versus 77 Prozent; Justiz: 52 versus 51 Prozent; Sächsische Staatsregierung: 39 versus 49 Prozent; Sächsischer Landtag: 35 versus 49 Prozent; Bundestag: 29 versus 39 Prozent; Bundesregierung: 27 versus 40 Prozent; Parteien: 13 versus 21 Prozent.

Was ist der Grund dafür? Das verhältnismäßig geringe Institutionenvertrauen der jungen Generation in Sachsen hat wohl vor allem mit einer größeren Skepsis gegenüber Autoritäten zu tun. Braucht Deutschland jetzt „eine starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“? Das bejahen 50 Prozent der 18bis 29-Jährigen, aber fast zwei Drittel – 65 Prozent – der Altersgruppe 70 plus. Bemerkenswert ist auch, wie unterschiedliche Altersgruppen auf die Frage antworten, ob „in diesen Zeiten … unbedingt eine starke Hand gebraucht wird“. Bejaht wird dies von 54 Prozent der der 18bis 29-Jährigen, 61 Prozent der 30- bis 44-Jährigen, 64 Prozent der 45- bis 59-Jährigen, 59 Prozent der 60- bis 69-Jährigen und 67 Prozent der Altersgruppe 70 plus.

 

Offener Transformationsprozess

Die politische Kultur im Freistaat Sachsen unterscheidet sich nach alledem nicht signifikant von der politischen Kultur in Ostdeutschland und weiten Teilen Ostmitteleuropas. Fragen der Identität und Zugehörigkeit, die sich in der Angst vor „Überfremdung“ negativ manifestieren, spielen in der jüngeren Generation Sachsens eine größere Rolle als in älteren Jahrgängen. Gleichzeitig sind in dieser Generation die Sorge vor dem Anstieg des Rechtsextremismus und die Ablehnung eines autoritären Politikverständnisses am stärksten ausgeprägt.

Zahlen ohne Angabe des Instituts sind Studien der Meinungsforschungsinstitute „dimap“ und „infratest dimap“ entnommen.

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Michael Mertes, geboren 1953 in Bonn, Jurist, Autor und literarischer Übersetzer, von 2011 bis 2014 Leiter des Auslandsbüros Israel der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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