Die Fragen um die terroristische Bedrohung der Gegenwart müssen klar ausgesprochen werden: Es geht nicht um religiösen Radikalismus – es geht um die enorme und komplexe Herausforderung, mit der sich Europa angesichts des wachsenden Dschihadismus sowohl innerhalb seiner Grenzen als auch an seiner südlichen und östlichen Peripherie konfrontiert sieht. Unübersehbar besitzt der Dschihadismus eine religiöse Komponente, doch es gibt zugleich eine soziale Dimension. Nicht zuletzt wirkt auch das Erbe der Kolonialgeschichte nach. Die innere Struktur der Gesellschaft spielt eine Rolle, psychologische Phänomene müssen berücksichtigt werden.
Eine einfache Beobachtung lässt vielleicht den Kern des Problems erkennen: Bei soziologischen Felduntersuchungen in Nizza, das unter den französischen Regionen, die Dschihadisten nach Syrien „exportieren“, an zweiter Stelle steht, stellten wir fest, dass in den Familien, die ein Kind an die Dschihadisten verloren hatten, kaum Väter zu finden waren. An die Stelle der Väter waren gleichaltrige „Peers“ getreten, die den für die Kinder schwerwiegenden Makel der „Vaterlosigkeit“ kompensierten. Verbreitet war unter ihnen die Vorstellung, dass die Gesellschaft vollständig anomisch, also ebenso gott- wie gesetzlos sei und durch eine neue Ordnung, eine Art Utopia, ersetzt werden müsse – diese neue Ordnung solle auf der heiligen Schrift des Islams aufbauen – so, wie sie von der salafistischen Bewegung verstanden wird.
Diese Gemengelage von Ursachen und Kausalitäten gilt es zu entschlüsseln und zu diagnostizieren. Darin besteht die Rolle des Gelehrten, während es die Sache des Politikers ist, auf dieser Grundlage eine Therapie vorzuschlagen und anzuwenden. Die Schwierigkeit einer solchen Kooperation bestand in den letzten Jahren darin, dass einerseits die Politiker die akademischen Tätigkeiten von Grund auf verachten und andererseits auch die Wissenschaftler lieber nichts mit Politikern zu tun haben wollen.
Aufstände der Araber
Frankreich und Europa sind mit den Auswirkungen des Chaos konfrontiert, in dem der Nahe Osten und Nordafrika gefangen sind und das sowohl arabisches als auch türkisches und teilweise auch iranisches Gebiet umfasst. Einst arbeiteten autoritäre Regime dem Westen insofern zu, als sie die Grenzen überwachten und im Inneren für ein gewisses Maß an sozialem Frieden sorgten. Daran war man mehr interessiert als an demokratischen Reformen im Mittelmeerraum – aus Furcht, sie könnten zu einem Chaos führen. Heute bezahlen wir mit den Migrationsproblemen für diese Politik. Als die Aufstände der Araber im Winter 2010 begannen, brach Begeisterung los: Die Araber glaubten, wieder im Mittelpunkt der Geschichte zu stehen. Sie entledigten sich der autoritären Regime – wie es früher Portugal, Griechenland oder Spanien sowie die Länder des sozialistischen Ostblocks getan hatten. Doch die Visionen erwiesen sich bald als weitgehend utopisch. Heute ist der Raum südlich und östlich des Mittelmeers instabil, und die Legitimität des Staates steht zumindest in Syrien, Libyen und im Jemen infrage. Auch in ökonomischer Hinsicht haben sich die Variablen durch den Fall des Ölpreises grundlegend verändert. Dabei hängt alles im Nahen Osten von den Einnahmen aus dem Ölgeschäft ab. Der daraus erwachsende Veränderungsdruck wird noch nicht ausreichend wahrgenommen, Europa sollte darauf aber vorbereitet sein.
Wir haben in den letzten fünfzig Jahren unsere Augen vor den undemokratischen Prozessen im Nahen Osten auch deshalb verschlossen, weil sich als Alternative zu diesen autoritären Regimen eine Auffassung herausbildet, die – wie ich sagen würde – nicht im Fundamentalismus, sondern in einem Verständnis der islamischen Schriften verwurzelt ist, das ursprünglich von der Moslembrüderschaft stammt, sich aber im Laufe der Jahre immer mehr dem Salafismus und dem Dschihadismus angenähert hat. Um das zu erklären, muss man in die Geschichte zurückschauen.
Womit Europa zurzeit konfrontiert ist, bezeichne ich als das „dritte Zeitalter“ des Dschihadismus. Das erste Zeitalter erstreckt sich über die 1980er- und die Mitte der 1990er-Jahre und hatte seinen Ursprung in Afghanistan: Der Einmarsch der sowjetischen Armee am Weihnachtstag 1979 war eine Herausforderung für die weltpolitische Machtposition des Westens. Die USA waren damals, nach dem Vietnamkrieg, der nur wenige Jahre zurücklag, nicht in der Lage, unmittelbar militärisch zu reagieren – eine der heutigen Lage ähnliche Situation. Also glaubte man, nur mithilfe regionaler Kräfte – und dann im Namen der Religion – zurückschlagen zu können. Afghanistan galt als islamisches Land, in das eine nicht islamische, atheistische Macht eingedrungen war. Daher bezeichnete man den Guerillakrieg gegen die Rote Armee als einen bewaffneten, allerdings defensiven Dschihad. Dieser wurde von islamischen Gelehrten gepredigt, von den Saudis finanziert und von den Amerikanern durch militärische Ausbildung und Ausrüstung unterstützt. Der Dschihad war sehr effizient: Innerhalb von zehn Jahren wurden die Sowjets aus Afghanistan gedrängt, am 15. Februar 1989 verließ die Rote Armee Kabul, nachdem im April 1988 das Genfer Abkommen zwischen Afghanistan, der Sowjetunion, den USA und Pakistan das Ende des Krieges besiegelt hatte.
So, wie viele Dschihadisten die Geschichte auslegen, waren sie es, die den Kampf gegen die UdSSR siegreich bestanden hatten. Die von den USA geleistete Unterstützung wurde einfach vergessen. Nach ihrer Auffassung hatte sich die Geschichte des Propheten und seiner Offenbarung wiederholt. Wie die Reiter des Propheten das Reich der Sassaniden geschlagen hatten, so wurde die Sowjetunion von den neuzeitlichen Dschihadisten besiegt. So, wie sich muslimische Kämpfer einst gegen Konstantinopel gewandt hatten und es schließlich zerstörten, so würden sie sich auch gegen Amerika wenden und es dereinst zerstören. Ähnliche Vorstellungen prägten die Weltanschauung Osama bin Ladens und seiner Anhänger. Das ist von großer Bedeutung, denn weder in Frankreich noch irgendwo sonst in Europa sind die genannten Epochen ein wesentlicher Bestandteil des Schulunterrichts.
Die Erfahrungen in Afghanistan versuchten die Dschihadisten in Ägypten, Algerien und Bosnien zu wiederholen. Das schlug fehl: Die muslimischen Massen scharten sich nicht um ihre Fahnen. Derzeit versuchen radikale Gruppen, die muslimischen Massen erneut zu mobilisieren. Eine entscheidende Frage – insbesondere für Frankreich – ist dabei, inwieweit sich die Mehrheitsgesellschaft durch die fortgesetzten Anschläge und Provokationen dazu bringen lässt, das Zusammenleben mit den muslimischen Mitbürgern aufzukündigen. Werden Pogrome angezettelt, Moscheen in Brand gesteckt? Werden sich Menschen muslimischer Herkunft folglich als Opfer fühlen können und zu den Radikalen überlaufen? Darin liegt die große Herausforderung der Provokation, die in Frankreich vorhanden ist und sich auch in Deutschland zu entwickeln beginnt.
Strategiewechsel
Nach ihrem Fehlschlag Mitte der 1990er-Jahre, insbesondere in Algerien, dachten Osama bin Laden, Aiman az-Zawahiri und andere, der Dschihadismus habe versagt, weil er die Massen nicht mobilisieren konnte. Es folgte ein Strategiewechsel vom Dschihadismus der nahen Regionen zu einem Dschihadismus in der Ferne. Die Ursache für die fehlende Mobilisierung der muslimischen Massen sahen sie in der Angst vor Amerika, das als zu stark und mächtig erschien. Daher müsse man einen Schlag gegen Amerika führen – so wie in der Vergangenheit gegen Konstantinopel. Dann würden die Menschen glauben, dass Amerika auf tönernen Füßen stehe und seinen „Lakaien“ und „abtrünnigen“ Regimen in der arabischen Welt nicht zu Hilfe kommen könne. Das war die Logik der Anschläge von New York und Washington, aber auch noch in der Zeit nach 9/11.
Auch diese zweite Phase des Dschihadismus verfing bei den muslimischen Massen nicht. Selbst der erneute Angriff auf den Irak, von dem bin Laden und seine Anhänger glaubten, er würde für Amerika zu einem zweiten Vietnam werden, mobilisierte nicht in dem erhofften Umfang. Der Irak ließ sich von den Dschihadisten nicht einnehmen, schon weil das Land mehrheitlich schiitisch ist. Die Widersprüche zwischen Schiiten und Sunniten traten hervor, und damit spitzte sich auch der Kampf um die Hoheit über den politischen Islam zu. Der Konkurrenzkampf zwischen dem sogenannten schiitischen Halbmond – Iran, Irak und Syrien– und dem sunnitischen Block auf der anderen Seite, der seinerseits durch interne Bündnisse tief gespalten ist, behinderte die Dschihadisten. So erschien auch die zweite Phase des Dschihad als ein Fehlschlag.
Die Dschihadisten meinten nun erneut, ihre Lektion gelernt zu haben, und begaben sich in die dritte Phase. 2005 veröffentlichte der in Frankreich ausgebildete syrische Ingenieur Abu Musab al-Suri im Internet 1.600 auf Arabisch verfasste Seiten unter dem Titel „Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand“. Die zentrale Aussage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Amerika sei zu weit entfernt, um effektiv zuschlagen zu können. Was dagegen in den arabischen Ländern passiere, sei im Kampf gegen den Westen nicht von Belang, denn wenn Araber Araber töteten, interessiere es dort niemanden. Daher müsse der richtige Ort der Auseinandersetzung gefunden werden.
Nach dieser Wahrnehmung ist Europa der soft underbelly (Winston Churchill) des Westens. Vom Nahen Osten nach Europa zu gelangen, sei verhältnismäßig leicht. Europa sei ein fragiler Kontinent, besitze keinen signifikanten politischen Zusammenhalt und habe weder politische noch militärische Bedeutung. Aber es würden Millionen Kinder muslimischer Einwanderer dort leben, die nicht gut integriert und schon gar nicht assimiliert seien. Aufgrund von Arbeitslosigkeit, Rassismus und Xenophobie würden sich manche nicht mit den liberalen Werten der Aufklärung identifizieren. Deshalb seien sie reif für eine Weltanschauung, die sich gegen die Länder wendet, in denen sie keine wirkliche Heimat hätten.
So ist Europa anstelle von Amerika und neben den Regionen des Nahen Ostens zur Zielscheibe des Dschihadismus geworden. Die theoretische Fundierung aus dem Jahr 2005 haben viele meiner Kollegen aus dem Arabischen ins Französische, Deutsche und in weitere Sprachen übersetzt, aber davon hat in der politischen Arena niemand Notiz genommen. Zehn verlorene Jahre sind inzwischen vergangen, und die damals festgehaltenen Ziele der Dschihadisten sind jetzt teilweise Wirklichkeit geworden.
Die zweite wesentliche Aussage dieses tödlichen Programms lautet kurz gefasst: Hört auf mit dem Ansatz von 9/11! In Flugzeuge zu steigen, die das World Trade Center oder das Pentagon treffen, wirke nicht auf die Basis der Gesellschaft. Das Bestreben ziele nun darauf ab, mit denjenigen zusammen zu agieren, die in der Gesellschaft leben. Man müsse ein vernetztes Phänomen initialisieren, das die Vertrauensgrundlage unterminiere. So schrieb Abu Musab al-Suri: „Tötet Ungläubige oder Konvertiten in eurer Nachbarschaft, damit die Menschen sich fürchten.“ Das soll dazu führen, dass die Mehrheit der Bevölkerung reagiert, und diese Reaktionen sollen wiederum die Muslime, die nun Opfer von Schikanen oder islamophoben Aktionen und Äußerungen werden, unter dem Banner des Dschihadismus vereinen. Die Vision ist ein Bürgerkrieg, der Europa zerstören soll, um auf dessen Ruinen das Kalifat zu errichten.
Als wir Experten diesen Text Mitte der 2000er-Jahre erstmals lasen, dachten wir, das Programm sei weit von der Wirklichkeit entfernt. Längst müssen wir feststellen, dass es von der dritten Dschihadistengeneration angewendet wird. Ob sie damit „erfolgreich“ sein wird, hängt von uns ab. Grundlage dafür ist, dass wir uns deren verquerer Logik stellen müssen, um effektiv reagieren zu können. Die Dschihadisten wollen heute einen Teil der jungen Bevölkerung für sich nutzbar machen. Als Nachkommen der ersten nach Europa eingewanderten „Gastarbeiter“ sollten sie eigentlich „europäische Bürger“ sein. Aber die kulturelle und politische Teilhabe an den europäischen Lebensformen und Werten stellt weiterhin ein Problem für diese junge Generation dar. Das gilt auch in Deutschland, obwohl die Jugend türkischer Herkunft nicht mit einem größeren Arbeitslosenproblem zu kämpfen hat.
Gespaltene Reaktionen
In einer Umfrage des Institut Montaigne vom 18. September 2016 gaben etwa 46 Prozent der Franzosen, die sich zum Islam bekennen, an, dass sie die demokratischen Werte der Republik teilten und Frankreich und Europa ihre Heimat seien. Allerdings identifizierten sich bei den unter 25-Jährigen erschreckenderweise knapp dreißig Prozent überhaupt nicht mit den demokratischen Werten; sie waren der Ansicht, dass weltliches Recht illegitim sei und die Scharia als einziges Recht zu gelten habe. Weiterhin gaben sie an, sehr positiv über verschleierte Frauen, auch mit Ganzkörperschleier, zu denken. Ein bedeutender Anteil dieser jungen Menschen hegte sogar Sympathie für den Islamischen Staat.
Auf beiden Seiten des politischen Spektrums fühlte man sich bestätigt und sagte: „Seht ihr! 28 Prozent unterstützen die Scharia.“ Andere hielten entgegen, das sei nicht von Bedeutung, denn eine deutliche Mehrheit von 46 Prozent zeige die gegenteilige Haltung. Diese Reaktion zeigt die Polarisierung oder eine fracture (Gilles Kepel: La Fracture, Coédition Gallimard / France Culture, Paris 2016) in dieser Frage. Eine Zuspitzung ist in Gang gekommen, und einige glauben, dass das nachwirkende Erbe der Kolonialgeschichte dabei eine wichtige Rolle spielt. So wurde betont, dass die Ermordung der jüdischen Schüler an der Ozar-Hatorah-Schule in Toulouse durch Mohamed Merah, die erste Manifestation der dritten Dschihadgeneration auf französischem Boden, auf einen 19. März 2012 fiel – auf den Tag genau fünfzig Jahre nach dem Waffenstillstand zwischen Frankreich und Algerien. In Frankreich gibt es rund 5.000 Straßen, die rue du 19 mars 1962 heißen. In den Gemeinden, in denen der Front National stark ist, werden diese Straßen „enttauft“, Straßenschilder abgerissen, weil das Datum an eine Niederlage Frankreichs erinnere und – so die Auffassung – Straßen nicht nach Niederlagen benannt werden sollten.
Die republikanische Rechte und die republikanische Linke kämpfen in der ersten Runde der Präsidentenwahl 2017 um den zweiten Platz. Anzunehmen ist, dass Marine Le Pen diesen Wahlgang gewinnen wird – was viel darüber aussagt, wie tief die Politik gefallen ist und wie groß die Lücke zwischen dem politischen System und seiner Fähigkeit ist, allen Teilen der Gesellschaft in der politischen Arena ihren Platz zu geben.
Wenn unsere sozialen und psychologischen Probleme eine solche religiöse oder kulturelle Dimension annehmen, dann liegt das auch daran, dass die Politik ihre grundlegende Rolle nicht zu spielen vermag. Sie hat dafür zu sorgen, dass die Menschen im Parlament und nicht auf den Straßen kämpfen; dabei muss auch die Unterscheidung zwischen religiösem Eifer – der nicht auf die Straße gehört – und politischem Kampf deutlich getroffen werden.
Der Beitrag basiert auf dem Vortrag „Religious Radicalism: A Challenge for Europe“, den der Autor am 29. September 2016 auf Einladung des Auslandsbüros Griechenland der Konrad-Adenauer-Stiftung gehalten hat. Die Veranstaltung fand in Kooperation mit dem Goethe-Institut und dem Institut für Demokratie „Konstantinos Karamanlis“ in Athen statt.
Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim
Gilles Kepel, geboren 1955 in Paris, Professor am Institut für Politische Studien, Paris, Lehrstuhlinhaber für den Vorderen Orient und den Mittelmeerraum („Chaire Moyen-Orient Méditerranée“).