„Digitalisierung, Digitalisierung!“ – in kaum einer Talkshow, in keiner Rede und auf keinem Zukunftskongress darf die Anrufung einer uns alle überwältigenden technologischen Entwicklung fehlen, die unabsehbare gesellschaftliche Folgen habe. Ein Mantra wie das „Amen“ in der Kirche. Jeder Politiker, der auf sich hält und als jung, frisch und unverbraucht gelten möchte, führt die Digitalisierung im Munde wie der Pfarrer das Vaterunser. Das suggeriert Modernität, Aufgeschlossenheit und kritisches Bewusstsein.
Nun ist es aber so, dass sich die Digitalisierung vor allem in der Wirtschaft auch ganz ohne Politiker durchgesetzt hat – und das seit etwa zwei Jahrzehnten. Vom Industrieroboter bis zum allerneuesten Smartphone, vom selbstfahrenden Auto bis zum sprechenden Kühlschrank, vom Google-Algorithmus bis zur Marssonde – nichts geht mehr ohne die weltweite und blitzschnelle Informationsverarbeitung ungeheurer Datenmengen. Dass diese Entwicklung Millionen Arbeitsplätze, Milliardenvermögen und in der Menschheitsgeschichte bislang unerhörte Möglichkeiten von Produktion und Kommunikation geschaffen hat, steht außer Frage.
Immer mehr aber schieben sich in der Öffentlichkeit die damit einhergehenden Probleme in den Vordergrund – vor allem der Schutz persönlicher Daten und die Herausforderung, die in der Zusammenballung von Know-how und brisanten Informationsmengen in den Händen weniger mächtiger Konzerne liegt. Hier für Klarheit und Kontrolle zu sorgen, ohne Freiheiten einzuschränken, und das auch noch am besten auf der Basis internationaler Standards, ist ein äußerst schwieriges Unterfangen. Es beginnt schon damit, dass nur eine verschwindende Minderheit auch nur einen groben Überblick über die komplexe Sachlage hat, die sich zudem unentwegt und in unglaublicher Geschwindigkeit verändert.
Kassandra und Apollon im Pas de deux
Ein probates Mittel, dieser geradezu unmöglichen Herausforderung zu entgehen, besteht darin, spekulative Zukunftsszenarien zu entwerfen, in denen Kassandra und Apollon, Untergangsprophetie und Utopieseligkeit den Pas de deux wagen. Nachdem die legendäre Rolle der Intellektuellen in den 1960erund 1970er-Jahren nur noch eine ferne, sentimentale Erinnerung ist, haben einige späte Adepten die neueste Mode philosophischer Spökenkiekerei entdeckt: „Total digital – die Welt spielt verrückt, und wir zeigen euch, wie, wo und warum.“
Ein führender Vertreter dieser Wir-sagen-euch-was-Sache-ist-Spezies ist, wie könnte es anders sein, der Bestsellerautor Richard David Precht, der sich schon auf den Themenfeldern Ernährung, Bildung und Liebe als auskunftsfreudiger Experte erwiesen hat. In einem langen Spiegel-Gespräch setzte er unlängst die wichtigsten Duftmarken dieser neuen meinungsstarken Zukunftsforschung: Facebook hält er für gefährlicher als Donald Trump, Google, Amazon und Apple, kurz Silicon Valley, gar für eine globale Gefahr. „Die Digitalisierung bedroht alles, was ist“, dekretiert er. Selbst am Fremdenhass sei sie schuld, weil die frei flottierenden Ängste vor den Algorithmen auf die leichter greifbaren, weil physisch präsenten Flüchtlinge projiziert würden.
Das ist zwar Vulgärpsychologie aus dem ersten Semester, aber auch Kurzschlüsse verfehlen ihre Wirkung nicht, umso mehr, als Precht und andere Wahrsager der neuen Durchblickerzunft die Lösung gleich mitliefern – frei nach Hölderlins Satz „In der Gefahr wächst das Rettende auch“.
Die rechten, restaurativen Tendenzen seien „ein gutes Anzeichen dafür, dass Revolutionen in der Luft liegen“. Das ist das „Umschlagsargument“. Man erinnert sich an die historisch-materialistische Dialektik von Karl Marx, bei der das unterdrückte Proletariat vom Opfer plötzlich selbst zum Akteur der weltgeschichtlichen Vernunft wird.
Freilich ist es bis zur Selbstbefreiung der abgeschöpften Algorithmusopfer von Twitter bis Instagram ein weiter Weg, denn Silicon Valley, das offenbar für alles Unheil der Welt verantwortlich ist, will uns zu vergangenheitsvergessenen und traditionslosen „Supermenschen“ ummodeln, zur „Mensch-Maschine“, die „Teil der Cloud“ ist und nichts kennt, als technische Probleme zu lösen. Eine „totalitäre“ Vision. Hier grüßt die Entfremdungstheorie von Herbert Marcuse, auch Günther Anders’ „Antiquiertheit des Menschen“. Ein Horrorszenario, in dem „die Hälfte der heute Beschäftigten keine Arbeit mehr hat“ und der Rest in den Fängen der Datenkraken zappelt, in der Blase einer Orwell‘schen Überwachungswelt, die dir sagt, was du kaufen und welche Partei du wählen sollst.
Am Ende war’s die „Zenzi“ und nicht Zuckerberg
Manchmal hilft es ja, älter zu sein. Wie viele Prophezeiungen, helle wie dunkle, hat man schon überlebt, vom sozialistischen Menschheitsparadies bis zum flächendeckenden Waldsterben und, ja, natürlich, den „Atomstaat“ (Robert Jungk) der „totalen Überwachung“? Eine „Volkszählung“, die in den 1980er-Jahren zu großen Protesten führte, war datenrechtlich ein komplett harmloses Unterfangen gegenüber dem, was Vierzehnjährige heute in den Social Media von sich preisgeben. „Die Arbeit geht uns aus“, warnten „Experten“ vor Jahrzehnten – heute haben wir mehr sozialversicherungspflichtige Jobs denn je. Immer wieder wurde das „Ende des Wachstums“ vorhergesagt – heute wissen wir, dass es weitergeht, im besten Fall unter sehr viel effizienterem Verbrauch materieller Ressourcen.
Was noch hilft: mal wieder rausgehen, ins echte Leben. Mit normalen Leuten reden – mit dem Mosel-Winzer am Steilhang, mit dem gehetzten Paketzusteller. Den Flaschensammler beobachten, der noch in der größten Hitze sonntags seine gar nicht virtuellen Runden dreht. Einen Freund im Krankenhaus besuchen. Oder mal wieder in die Berge, nach Südtirol. Dort, wo noch auf über 2.000 Meter Höhe Kühe im lichten Unterholz stehen und seltene Pflanzen verspeisen. Und sich dann die Frage stellen: Wer melkt die am Abend? Eine Drohne mit voll automatisierter Spezialsaugtechnik? Und wer hat eigentlich die köstliche Buttermilch auf der Alm gemacht? Am Ende war‘s doch die „Zenzi“ und kein Algorithmus von Mark Zuckerberg.
Apropos: Nachdem ich mein Hotel in Südtirol gebucht hatte, bekam ich ständig Werbung für Hotels in Südtirol. Keine besonders raffinierte Überwachungstechnologie. Dasselbe galt für meine neu gekauften Bergschuhe. Und noch was: Keine anonyme Macht im Netz hat mir jemals nahegelegt, was ich wählen soll. So bleibt die Qual der Wahl bei mir ganz allein.
Nein, wir wollen die Probleme nicht verleugnen oder verniedlichen. Aber wir brauchen auch keine falschen Propheten, die auf unsere Einwände immer geheimnisvoll und allwissend antworten: „Ja, warten Sie es nur ab! Das alles kommt erst noch. Sie werden sich wundern!“
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Reinhard Mohr, geboren 1955 in Frankfurt am Main, Journalist, Autor und Publizist. Nach dem Studium der Soziologie arbeitete er für das Frankfurter Stadtmagazin „Pflasterstrand“, später die „tageszeitung“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und den „stern“. Von 1996 bis 2004 war er Kulturredakteur beim „Spiegel“. Heute lebt er in Berlin und schreibt als freier Autor unter anderem für die „Welt am Sonntag“.