Respekt
Zusammen mit einem Kollegen fuhr ich Präsenzstreife, das heißt, wir waren ohne ein bestimmtes Ziel in Bochum Mitte unterwegs, um „nach dem Rechten zu sehen“, als mir drei Heranwachsende auffielen, schätzungsweise gerade mal volljährig. Sie überquerten die Straße unmittelbar vor unserem Streifenwagen, lachten uns im Vorbeigehen aus und gestikulierten. Sie hoben die Arme und ihr Kinn provokant in unsere Richtung, um auszudrücken, die Polizei solle doch herkommen, wenn sie etwas von ihnen wolle, und äußerten „Scheiß Bullen“, welches ich durch die geöffnete Fahrerscheibe hörte. Es war ihr übliches Machogehabe, um auf sich aufmerksam zu machen und uns ein bisschen zu provozieren. Mir blieb nichts anderes übrig: Ich hielt an und kontrollierte sie. Unternehme ich gegen dieses Verhalten nichts, wird es beim nächsten Mal nur noch schlimmer und womöglich aggressiver.
Die drei waren der Polizei bereits gut bekannt, sie stammten aus einer libanesischen Großfamilie mit etlichen kriminellen Mitgliedern. Alle drei hatten sich ihre Akteneinträge mit den üblichen Gewalt- und Eigentumsdelikten „redlich“ verdient.
Während der Kontrolle lachten sie sich weiter schlapp. Als ich sie darauf ansprach und sie darauf hinwies, dass es sich hier um eine Polizeikontrolle handelte, die sie ernst nehmen sollten, fragte mich einer, ob das heute mein erster Tag sei. Und: „Da muss wohl jemand seine Macht ausspielen, was?“
Ein anderer nahm sein Handy und spielte damit rum. Ich forderte ihn auf, es wegzustecken, doch er entgegnete mir, jetzt schon ein bisschen aggressiver: „Ich lege mein Handy weg, wann ich will!“ Selbst bei Kontrollen durch die Polizei, oder wie in diesem Fall: erst recht, wenn die Polizei da ist, wird zum Handy gegriffen, fotografiert oder gefilmt, Freunde über WhatsApp oder sonst irgendwie informiert. Gerne werden auch Leute zusammengetrommelt, um unsere Arbeit zu behindern – soweit kam es hier aber nicht.
Nachdem ich kurz genauso laut wie die drei jungen Libanesen wurde und sie noch einmal aufforderte, ihre Handys wegzustecken, änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Nun merkten sie endlich, dass die Situation nicht mehr ganz so lustig für sie war, dass sie eine Grenze erreicht hatten. Einer fing sogar an zu zittern. Allerdings nicht aus Angst, sondern aus Wut. Wie gern er mir eine reingehauen hätte, war ihm förmlich anzusehen, seine Augen schossen Blitze in meine Richtung. Es ist erniedrigend und peinlich, von der deutschen Polizei, insbesondere von einer Frau, laut zurechtgewiesen zu werden. Doch kaum war die Kontrolle vorüber, zogen sie amüsiert weiter und benahmen sich wie gehabt. Sie lachten eher noch ein bisschen lauter als vorher.
Wir Polizisten haben rechtlich keinerlei Handhabe gegen solch ein Verhalten. Und das wissen diese Jungs nur zu gut.
Sie wissen ganz genau, wie weit sie gehen können, ohne dafür belangt zu werden. Nicht nur, dass der Staat missachtet wird. Auf Dauer leiden vor allem die Beamten und deren Psyche unter diesen permanenten Erniedrigungen, mögen sie im Einzelfall auch noch so harmlos erscheinen. Man braucht da schon ein dickes Fell.
Solch ein Verhalten sollte als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Bei jedem Verkehrsverstoß wird der Bürger selbst für Lappalien zur Kasse gebeten, während dieses respektlose, provokante Verhalten keinerlei Sanktionen nach sich zieht. Dabei hat es sehr wohl negative Folgen, wenn bei jedem dieser kleinen Machtspielchen der Respekt mehr oder weniger schleichend untergraben wird. Es trifft Sanitäter und Ärzte, Busfahrer und Schaffner, Feuerwehrmänner und Polizisten, im Prinzip alle, die eine „offizielle“ Funktion haben und in einem beschränkten Weltbild Deutschland repräsentieren. Auch bei dem geschilderten Fall waren es am Ende mein Kollege und ich, die sich wieder ein bisschen macht- und hilfloser fühlten, als wir unsere Streife unter dem Gejohle der libanesischen Jungs fortsetzten.
Wenn es sich in Fällen wie diesem nicht einmal um Heranwachsende oder Jugendliche handelt, sondern eigentlich noch um Kinder – dann ist Respektlosigkeit nicht einfach nur ärgerlich, sie tut doppelt weh. Nicht nur, weil sie verletzend sein kann, sondern vor allem, weil einem diese Kinder leidtun müssen: Sie scheinen nur noch wenige Chancen zu haben, eine normale Rolle in unserer Gesellschaft einnehmen zu können. Und können selbst am wenigsten dafür. Wie soll ihre Zukunft aussehen? Und: Wie soll unsere gemeinsame Zukunft aussehen?
Kinder und Jugendliche haben schon immer rebelliert. Das gehört zu einer gesunden Entwicklung dazu. Auch ich habe immer wieder versucht, meinen Dickschädel durchzusetzen: gegen Mitschüler, gegen Lehrer, gegen meine Eltern. Aber das meine ich hier gar nicht. Es liegt mehr im Argen, wenn man als Polizist von Jugendlichen bespuckt und beleidigt wird, nur weil man Polizist ist. Das hat dann nichts mehr mit Rebellion in der Pubertät zu tun. Diese „Umgangsformen“ schauen sich schon die Kleinsten von den Halbstarken ab, die sie wiederum von den Nächstälteren übernommen haben. Das Verhalten wird quasi traditionell weitergegeben. Und in der nächsten Generation höchstens noch „verfeinert“ und an neueste technische Gadgets angepasst.
Tania Kambouri geboren 1983 in Bochum, ist Polizeikommissarin in ihrer Heimatstadt, sie hat griechische Wurzeln. In ihrem Buch „Deutschland im Blaulicht – Notruf einer Polizistin“, aus dem hier zitiert wird, gibt sie eigene Erfahrungen wieder.
Offenheit
„Sie haben doch gerade dieses Fest? Ist es so wie Weihnachten?“, fragt mich Adil. „Ich habe gestern diesen Leuchter im Fernsehen gesehen.“ „Wir feiern gerade Chanukka und mit Weihnachten hat dieses Fest gar nichts zu tun.“ (Das Chanukkafest feiert die Wiedereinweihung des Tempels nach dem siegreichen Makkabäeraufstand.) Ich nehme mein Handy raus und zeige ihm ein Foto von meiner Chanukkia (einem neunarmigen Leuchter) zu Hause, als wir die zweite Kerze angezündet haben.
„Wie schön!“ Adil scheint beeindruckt, und ich freue mich über seine Neugier. Wir unterhalten uns noch ein bisschen, ich erzähle ihm von den jüdischen Feiertagen, und er versucht, sie mit denen im Islam zu vergleichen. Wir, Adil, mein muslimischer Schüler, und ich, seine jüdische Lehrerin. Irgendwann landen wir bei den Essensvorschriften und stellen später fest, dass in beiden Religionen das Fluchen verboten ist. Irgendwann fragt Adil, „warum Menschen Krieg machen, die haben doch voll viel gemeinsam! Mensch ist doch Mensch!“
Offenheit und Toleranz füreinander und die Förderung des Miteinanders sind ein fester Bestandteil diverser Schulprogramme, Schlagwörter, die Schulen als Aushängeschilder benutzen. Ziele, die erreicht werden sollen, aber oftmals ebenso wenig mit der Realität gemeinsam haben wie die Behauptung, es gebe lediglich Einzelfälle von Antisemitismus auf deutschen Schulhöfen. Er ist aber da, präsent und alltäglich. Die Beleidigung „Jude“ gehört schon längst zum üblichen Jargon, der Nahost-Konflikt im Geschichtsunterricht gerät zum Fiasko, sodass die Lehrer rückwärts aus den Klassenräumen flüchten mit dem Vorhaben, das nächste Mal einen anderen Krisenherd zu behandeln. Und auch außerhalb des Unterrichts mangelt es nicht an Vorurteilen, die einen fragen lassen, ob die Zeit jemals kommt, in der Toleranz kein Fremdwort ist und der Hass verschwindet.
Schwierig, wenn die Verschlossenheit der Eltern bedingt, dass ihre Kinder nicht an einem Ausflug teilnehmen dürfen, bei dem eine Synagoge besucht werden soll. Außerdem gilt es, ein Coca-Cola-Verbot zu beachten, denn eine der gängigen Verschwörungstheorien lautet, dass der Schriftzug – von rechts nach links gelesen und einige Schnörkel weggedacht – auf Arabisch zu lesen sei: „Es gibt keinen Allah und kein Mekka.“ Die Schlussfolgerung dieser ahnungslosen Aussage mündet selbstverständlich bei den Juden, da unter den gegebenen Umständen Coca-Cola fraglos reichen Juden gehören müsse. Gleiches gelte für McDonald’s, weswegen es nur logisch sei, dort nicht mehr zu essen, da dieses Unternehmen seinen gesamten Gewinn an Israel spende; dort würden wiederum Waffen gekauft, um Palästinenser zu töten. Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt! Für einen vernünftig denkenden Menschen sind diese Kurzschlüsse maßlos erschreckend und zum Verzweifeln.
Man könnte sich umdrehen, wegrennen und innerhalb der Schule nie wieder das Thema Judentum und Israel ansprechen. Man könnte sich verbarrikadieren und die Augen verschließen vor den Möglichkeiten, die die Institution Schule bietet. Offen zu sein ist anstrengend, erfordert Geduld und manchmal auch Mut. Weil diese absurden Vorurteile es einem schwer machen, an das Gute im Menschen zu glauben, weil Verständnis häufiger Gespräche und gegenseitigen Kennenlernens bedarf und weil man sich manchmal vor Angriffen fürchten muss – gegen die eigene Person, Religion oder auch Meinung. Offenheit hat etwas mit Ehrlichkeit zu tun, mit der Bereitschaft, auf den Gesprächspartner zuzugehen und mit ihm zu reden, vielleicht auch zu argumentieren – emotionsgeladen und hitzig – und diese Diskussion auszuhalten. Offen zu sein für die Argumente der Gegenseite, aber auch dafür, sich zu offenbaren. Offen für Kritik und Fragen. Und wenn sie dann da ist, diese Offenheit, wie bei Adil und vielen anderen, die bereit sind, sich auf das Fremde einzulassen, muss man sie schätzen, fördern und immer wieder für sie plädieren. Man muss in sie investieren, in die Lehrerausbildung, in Unterrichtsmaterialien und in außerschulische Experten, in Menschen, die von ihren Erfahrungen mit der Offenheit berichten und ein Stück von dieser in die Schule tragen. Damit Offenheit die Grenzen überwindet und die Vielfalt der Menschen und Kulturen einander näherbringen kann.
Lisa Scheremet Lehrerin jüdischen Glaubens an einer Hauptschule in Niedersachsen
Solidarität
Die Flüchtlinge, meist aus Syrien und aus dem Irak, kommen sehr erschöpft bei uns an, aber freuen sich, endlich in Deutschland zu sein und als schutzbedürftige Menschen ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Sie berichten, dass ihnen aufgrund ihrer Religion oder Volkszugehörigkeit in ihrer Heimat das Existenzrecht abgesprochen wurde. Was sie jetzt am dringendsten brauchen, ist das Gefühl, wirklich angenommen und angekommen zu sein. Das heißt vor allem, die Gewissheit zu haben, auf deutschem Boden in Frieden leben zu dürfen – ohne konfessionelle Konflikte und Verfolgung. Ganz einfache Dinge gehören dazu – beispielsweise, dass die Kinder ohne Angst auf dem Spielplatz toben können.
Durch meine Arbeit in der Flüchtlingsberatungsstelle nehme ich wahr, wie viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer sich einbringen, um zu helfen. Durch ihren Einsatz fühlen sich die Flüchtlinge willkommen, und das trägt viel dazu bei, dass sie in einem fremden Land auch innerlich ankommen. Das ist verständlicherweise alles andere als einfach, wenn man die Sprache nicht versteht und spricht. Deshalb engagiere ich mich dafür, dass die Flüchtlinge so schnell wie möglich die deutsche Sprache erlernen. Das ist das Wichtigste! Dennoch gehört zum Ankommen in Deutschland mehr als der Spracherwerb. Die Wertvorstellungen sind anders als in den Heimatregionen der Flüchtlinge. Mehrmals habe ich beobachtet, wie Flüchtlinge gelegentlich an Grundwerten der deutschen Gesellschaft Anstoß nahmen – so etwa an der Gleichstellung von Frau und Mann.
In unserer Beratungsstelle verteilen meine Kollegen und ich das Grundgesetz auf Arabisch. Das ist hilfreich, aber es reicht nicht aus. Unsere Arbeit ist darüber hinaus stark darauf ausgerichtet, zu vermitteln, dass es ein friedliches Zusammenleben zwischen den Einheimischen und den neuen Nachbarn nur dann geben kann, wenn die Grundwerte der deutschen Gesellschaft geachtet werden. Das geschieht etwa, indem wir in Gesprächsrunden darüber diskutieren, wie lange in Deutschland darum gerungen wurde, bis hier jeder, gleichgültig ob Frau oder Mann, gleiche Rechte hatte, wie schmerzhaft die deutschen Erfahrungen waren, bis die Würde des Menschen hier für unantastbar galt. Im Zentrum steht somit die Botschaft, dass das, was für die Verfolgten ein Traum war, hier Wahrheit geworden ist.
Nach meinen Beobachtungen gibt es überwiegend die Bereitschaft, einen neuen Anfang zu machen, auch die Grundwerte anzunehmen. In den Heimatländern, zum Beispiel in Syrien oder im Irak, gab es große konfessionelle Spannungen zwischen Religionen und Konfessionen. Aber jetzt nehme ich wahr, dass man sich nicht mehr als Feinde begegnet, sondern in Frieden miteinander leben will.
Was die Deutschen betrifft, beeindruckt mich, wie oft ich Anrufe von Menschen bekomme, die mir vom Schicksal ihrer Großeltern oder Eltern erzählen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Flüchtlinge waren. Eine ältere Dame berichtete mir von ihrer eigenen Flucht aus dem ehemaligen Ostpreußen. Sie sei damals zwar in einem Land angekommen, wo man Deutsch gesprochen habe, aber die schrecklichen Erfahrungen von Vertreibung und Gewalt seien ähnlich gewesen.
Weil sie diese Erfahrungen mit dem Thema Flucht gemacht habe und genau wisse, was es bedeutet, vertrieben zu werden, habe sie sich entschieden und gesagt: „Ich will helfen!“ Andere bringen sich allein im Namen der Nächstenliebe ein. Und weil das so ist, gehe ich optimistisch ins neue Jahr. Durch die Zusammenarbeit zwischen „Ehrenamtlern“ und „Hauptamtlern“ wird die Krise zu bewältigen sein.
Naeem Khalaf. Der christliche Syrer ist vor fünf Jahren als Wirtschaftsstudent nach Deutschland gekommen. Seit einem Jahr arbeitet er in der Flüchtlingsberatungsstelle des Kirchenkreises an der Agger und koordiniert die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe für die Stadt Gummersbach.
Zivilcourage – Tugend des aufrechten Ganges
Deutschland hat Preußen nicht nur die Pickelhaube, sondern auch die „Zivilcourage“ zu verdanken. Ausgerechnet durch den späteren „Eisernen Kanzler“, Otto von Bismarck, der sich selbst bei jeder Gelegenheit in seiner Kürassieruniform mit schwefelgelbem Kragen zeigte, fand das französische Wort für Bürgermut, „courage civil“, Eingang in die deutsche Sprache: Es war der Tag, an dem der frischgewählte Abgeordnete Bismarck im Jahre 1847 seine erste Rede im Vereinten Preußischen Landtag hielt. Es ging um eine Gesetzesvorlage, die Bismarck scharf und leidenschaftlich bekämpfte; und obwohl viele Abgeordnete ihm in der Sache zustimmten, sprang ihm doch keiner in der Debatte bei. „Mut auf dem Schlachtfeld ist bei uns Allgemeingut“, entgegnete Bismarck später einem Vertrauten, „aber Sie werden nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Civilcourage fehlt.“
Die Tugend der Zivilcourage ist verwandt mit dem Mut und der Tapferkeit. Doch anders als die Tapferkeit wird sie meist nicht in der Gemeinschaft geübt, sie ist eine Haltung des Einzelnen. Die Tapferkeit kann, insbesondere im Krieg, auch verwerflichen Zielen dienen. Anders die Zivilcourage, sie ist der Mut des Nichtsoldaten. In Zeiten der Diktatur ist sie die Tugend, sich der Staatsgewalt mutig entgegenzusetzen. Dann kann sie nicht nur eine Bürger , sondern auch eine Soldatentugend sein. Zivilcourage bewiesen die Offiziere und Generale um Claus Graf Schenk zu Stauffenberg, als sie sich am 20. Juli 1944 zum Attentat auf Hitler entschlossen. Unter Einsatz ihres Lebens setzten sie ein Zeichen dafür, dass es ein „anderes Deutschland“ gab, das sich der Barbarei Hitlers widersetzte.
Und sie standen damit nicht allein: Georg Elser, ein einfacher gelernter Schreiner und Tischler, wagte schon 1939, auf eigene Faust und ganz auf sich gestellt, den Tyrannenmord. Die Gruppe der Weißen Rose um Hans und Sophie Scholl verteilte in der Universität und anderswo Flugblätter, auf denen stand: „Wir schweigen nicht. Wir sind euer böses Gewissen.“
„Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“, heißt es bei Brecht. Die Zeiten sind vorbei. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich zu einer geradezu mustergültigen Demokratie entwickelt. Das Preußisch Soldatische ist aus dem öffentlichen Leben verschwunden, und die deutsche Gesellschaft macht einen durch und durch zivilen Eindruck. Allenthalben gibt man sich pazifistisch. In der Bundeswehr gilt, in Abgrenzung zur einstigen Wehrmacht Hitlers, die Parole vom „Bürger in Uniform“. Braucht eine solche Zivilgesellschaft – und eine Demokratie überhaupt – noch die Tugend der Zivilcourage? Aber ja. Seit Langem hört und liest man von gewalttätigen Übergriffen in U Bahnhöfen und auf der Straße, bei denen die Umstehenden untätig zuschauten. Wo blieb da die Zivilcourage?
Wie die allermeisten Tugenden lässt sich auch die Zivilcourage nicht verordnen. Aber man kann auf die hinweisen und diejenigen ehren, die ein positives Beispiel geben. In einer Gesellschaft, in der sich die Menschen anpassen, um voranzukommen, können so andere ermutigt und angesteckt werden.
Denn nicht nur, wenn es um die Frage von körperlicher Gewalt geht, ist Zivilcourage gefragt. Dazwischenzutreten, wenn jemand, der eine andere Hautfarbe hat oder einer Minderheit angehört, beschimpft und beleidigt wird, das ist Zivilcourage. Aber auch wer eine andere Hautfarbe hat und einer Minderheit angehört, ist nicht weniger zur Zivilcourage verpflichtet. Sich nicht mitziehen zu lassen, nicht zu dulden oder wegzuschauen, wenn Menschen bedrängt oder gar misshandelt werden, ist eine universelle Tugend, die zwischen Fremden, Neuankömmlingen und Einheimischen, zwischen Mehrheit und Minderheit, zwischen den Geschlechtern nicht unterscheidet, nicht unterscheiden darf. Schließlich geht es um den Wert, der allen Tugenden zugrunde liegt: die Menschlichkeit.
Zivilcourage zeichnet aus, dass man sich für ein couragiertes Eingreifen entscheidet und mögliche persönliche Konsequenzen ausblendet. Ohne Zivilcourage kommt keine Gesellschaft aus – erst recht keine Demokratie. Ohne sie kann es gar kein dauerhaftes menschliches Miteinander geben, denn sie ist die Tugend des aufrechten Ganges.
Asfa Wossen Asserate geboren 1948 in Addis Abeba (Äthiopien), ist ein äthiopisch deutscher Unternehmensberater, Autor und politischer Analyst. Er ist einer der Nachfahren des letzten äthiopischen Kaisers und lebt seit über vierzig Jahren in Deutschland.
Der Text ist ein leicht aktualisierter und gekürzter Auszug aus seinem Buch „Deutsche Tugenden – Von Anmut bis Weltschmerz“ (München 2013).