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Die innere Sicherheit nach der Kölner Silvesternacht

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Fast ein Jahr ist seit der Silvesternacht 2015/16 vergangen, doch die „Nacht von Köln“ vergeht nicht. „Köln“ ist nach wie vor die Chiffre, die um die Welt ging und die es mit ihrer medialen und politischen Wucht bis ins australische Fernsehen und selbst in den Wahlkampf Donald Trumps schaffte. In dieser Silvesternacht wurden in Köln im Bereich Dom und Hauptbahnhof mehr als 1.600 Sexual- und Eigentumsdelikte verübt. Opfer waren überwiegend Frauen, bei den Sexualdelikten ausschließlich. Sie berichteten, dass sie überfallartig immer wieder von unterschiedlich großen Gruppen von – weit überwiegend nordafrikanischen – Männern umringt und massiv sexuell belästigt, beleidigt, in Einzelfällen vergewaltigt und zum Teil auch ausgeraubt worden seien. Sie erlebten die Taten und die Situation vor Ort meist als sehr bedrohlich und beängstigend. Die Hilflosigkeit beziehungsweise das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber den vielen Tätern wurde als besonders unangenehm und angsteinflößend erlebt.

Vorbereitung und Durchführung des polizeilichen Einsatzes rund um die Ereignisse haben zu heftiger Kritik an der Polizei geführt. Von „rechtsfreiem Raum“ und der „Abwesenheit des Rechtsstaats“ war die Rede. Aus diesem Grund hat der Landtag den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss „Silvesternacht 2015“ mit dem Auftrag eingerichtet, die Geschehnisse im und vor dem Kölner Hauptbahnhof unter anderem auf mögliches Fehlverhalten beziehungsweise mögliche Versäumnisse nordrhein-westfälischer Sicherheitsbehörden einschließlich der Verantwortlichen auf Landesebene zu untersuchen.

Der Untersuchungsausschuss wird bis Mitte Dezember 2016 Zeugen vernehmen und dem Landtag seinen Abschlussbericht im April 2017 erstatten. Bis zu diesem Zeitpunkt haben sich die Mitglieder des Ausschusses einer öffentlichen Beweiswürdigung zu enthalten. Eine Zahl mag jedoch die Situation verdeutlichen: Gegen 22.45 Uhr standen den geschätzten 1.500 versammelten Männern ganze 38 Polizeibeamte des Landes gegenüber. Ein Sachverständiger nimmt an, dass die große Zahl der vor dem Kölner Hauptbahnhof versammelten Männer den Beteiligten schon am frühen Abend das sichere Gefühl gab, Teil einer großen und weitgehend anonymen Menschenmasse zu sein, die keiner oder keiner sehr großen sozialen Kontrolle unterliegt. Die Dunkelheit des Silvesterabends dürfte das Gefühl, nicht erkannt beziehungsweise später nicht identifiziert werden zu können, zusätzlich verstärkt haben.

 

Miserable Aufklärungsquoten

Die Vorfälle in der Kölner Silvesternacht haben ein Schlaglicht auf die Sicherheitslage in Nordrhein-Westfalen geworfen. Die Bevölkerung bekam den Eindruck, dass die Polizei in Köln nicht in der Lage war, die feiernden Menschen vor den Übergriffen und generell die Bevölkerung vor Kriminalität zu schützen. Die Fakten lassen den Eindruck zu: Nordrhein-Westfalen ist zu einem Eldorado für Kriminelle geworden!

Im Jahr 2015 wurden insgesamt 1,5 Millionen Straftaten registriert. Das waren 100.000 Straftaten mehr als in Bayern und Baden-Württemberg zusammen – obwohl in Bayern und Baden-Württemberg 5,7 Millionen Menschen mehr leben als in NRW.

Mit einer Aufklärungsquote von 49,6 Prozent belegt NRW bei der Aufklärung von Straftaten erneut den letzten Platz unter den bundesdeutschen Flächenländern. NRW ist damit nicht nur meilenweit vom Klassenprimus Bayern (72,5 Prozent) entfernt, sondern wird inzwischen auch von Mecklenburg-Vorpommern (61,4 Prozent) oder dem Saarland (57,2 Prozent) deutlich überflügelt. NRW ist zugleich das einzige deutsche Flächenland, in dem weniger als jede zweite Straftat aufgeklärt wird.

Auch im Ranking der Großstädte ab 200.000 Einwohnern schneidet NRW bei den Aufklärungsquoten deutlich schlechter ab als die Städte anderer Bundesländer: München 73,3 Prozent, Augsburg 72,8 Prozent, Chemnitz 64,6 Prozent, Stuttgart 64,3 Prozent, Erfurt 62,7 Prozent, Hannover 61,5 Prozent – und im landesweiten Vergleich Essen 51,7 Prozent, Dortmund 50,8 Prozent, Aachen 50,1 Prozent, Düsseldorf 43,2 Prozent, Münster 43,1 Prozent und Köln 43,0 Prozent. Die Aufklärungsquoten in Köln und Düsseldorf sind damit die schlechtesten unter den deutschen Metropolen überhaupt.

 

Wohnungseinbrüche und No-go-Areas

Mit 62.362 Wohnungseinbrüchen im Jahr 2015 ist der Höchststand in der Geschichte des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen erreicht. Um in etwa auf die NRW-Zahl zu kommen, muss man alle Wohnungseinbrüche aus Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Sachsen-Anhalt zusammenrechnen (= 62.082). In diesen Bundesländern leben zusammen jedoch 47,6 Millionen Einwohner; in NRW gerade einmal 17,6 Millionen! Während in NRW auf 100.000 Einwohner 353,6 Wohnungseinbrüche verübt werden, sind es in Bayern gerade einmal 58,9 auf 100.000 Einwohner. Das Risiko, in NRW Opfer eines Wohnungseinbruchs zu werden, ist damit sechsmal so hoch wie in Bayern. Statistisch betrachtet werden von 100 Wohnungseinbrechern in NRW weniger als zwei zu einer Haftstrafe verurteilt.

Ende Juli 2015 wurde in den Medien über eine vertrauliche – inzwischen veröffentlichte – Analyse des Polizeipräsidiums Duisburg über sogenannte No-go-Areas in NRW berichtet. Dass eine Polizeibehörde derart schonungslos ihre eigene Ohnmacht beschreibt, ist ein bundesweit einmaliger Vorgang.

Auszug aus der Vorlage 16/3139: „Es gibt Hinweise darauf, dass Anwohner und Geschäftsinhaber aus Angst vor Repressalien Straftaten durch Mitglieder dieser Gruppen nicht anzeigen, so dass das Vorhandensein eines beachtlichen Dunkelfeldes wahrscheinlich ist. […] Polizeibeamten aller Direktionen und operativen städtischen Bediensteten schlägt im Rahmen ihrer Aufgabenbewältigung hier eine hohe Aggressivität und Respektlosigkeit entgegen. […] Die Rechtspflicht des Staates zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit ist in solchen Stadtbezirken langfristig nicht gesichert bzw. akut gefährdet. Das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung ist bereits nachhaltig negativ beeinträchtigt.“

Als Justizminister Thomas Kutschaty im Sommer 2015 behauptete, es gebe in NRW keine No-go-Areas, erhielt er umgehend einen Brief aus Dortmund. Der SPD-Ortsverein Dortmund-Nord lud ihn zu einem Rundgang durch die Nordstadt ein, um ihm „ein besseres Urteil über die tatsächlich existierenden No-go-Areas zu ermöglichen“ (''Frankfurter Allgemeine Zeitung'' vom 12. März 2016).

 

Terroristische Bedrohung und Gewalt

Das Personenpotenzial der salafistischen Szene in NRW hat sich seit 2010 mehr als verfünffacht (2011: 500 Salafisten; aktuell: mehr als 2.700 Salafisten). NRW ist damit die Salafistenhochburg Nummer 1 in Deutschland. 600 dieser Personen werden vom NRW-Verfassungsschutz als gewaltorientiert eingestuft, davon wiederum 150 als besonders risikobehaftet. Zudem zählt der NRW-Verfassungsschutz inzwischen etwa vierzig salafistische Zellen in Nordrhein-Westfalen. Allein die Zahl der minderjährigen Salafisten in Nordrhein-Westfalen hat sich in den vergangenen beiden Jahren verdoppelt. In derselben Zeit sind rund 200 Islamisten von NRW nach Syrien ausgereist, von denen etwa fünfzig wieder zurückgekehrt sind.

Im Jahr 2015 wurden in Nordrhein-Westfalen fast 14.000 Polizeivollzugsbeamte beleidigt, bedroht oder körperlich angegriffen. In 497 Fällen wurden sie schwer verletzt, in weiteren 527 Fällen trugen sie zumindest leichtere Verletzungen davon. Nach Berechnungen der Gewerkschaft der Polizei wird inzwischen alle 67 Minuten ein Polizeibeamter in NRW angegriffen. Das entspricht einem Anstieg von fast 48 Prozent binnen zehn Jahren. Ganz erheblich gestiegen ist ebenfalls die Anzahl der Übergriffe auf Feuerwehrleute (+ 67 Prozent) und Rettungskräfte (+ 30 Prozent).

 

Vernachlässigte Polizei

Oft verweisen die Verantwortlichen in der Landesregierung darauf, dass NRW ein dicht besiedeltes Land mit vielen großen Städten sei. Das schließt aber nicht aus, dort ähnlich gute Aufklärungsquoten erreichen zu können – wenn in NRW ähnlich viel für Personal bei der Polizei investiert worden wäre, wie das beispielsweise in Bayern geschieht. In Bayern gibt es pro 100.000 Einwohner rund 100 Polizeibeamte mehr als in NRW.

Statt die Sachbearbeitung für die Bekämpfung der Kriminalität wie die Qualifizierung der dort tätigen Kriminalisten zu verstärken, setzt die Landesregierung auf „Prävention“ durch die Bürger. Sie sollen viele Tausend Euro in die Hand nehmen (Aktion „Riegel vor“), um Wohnungseinbrechern den Zugang zu ihrer Wohnung zu erschweren. Die Bürger sollen scheinbar ihre Wohnung zu einer Festung ausbauen.

Es ist schon Ironie, dass die Polizei in Dortmund Glöckchen an die Bevölkerung verteilt, die an Geldbörsen befestigt werden sollen, um so den zunehmenden Taschendiebstählen entgegenzuwirken. Die Tatsache, dass Taschendiebe ihre fragwürdige Profession mit an Geldbörsen befestigten Glöckchen erlernen, verstärkt den Eindruck der Hilflosigkeit.

 

Riesiges Dunkelfeld

Ergebnisse aus dem deutschen Viktimisierungssurvey 2012, den infas für das Bundeskriminalamt und das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg durchgeführt hat, an dem mehr als 35.000 Personen zu ihren Erfahrungen als Opfer von Kriminalität, zu ihrem Sicherheitsempfinden und ihren kriminalitätsbezogenen Einstellungen telefonisch von infas befragt wurden und an dem sich NRW bezeichnenderweise nicht beteiligt hat, offenbaren ein sehr großes Dunkelfeld, weil die Menschen offensichtlich das Vertrauen in die Aufklärung von Straftaten verloren haben. Die Quote von Strafanzeigen ist dort besonders hoch, wo eine Anzeigenerstattung Voraussetzung für die Schadensersatzleistung von Versicherungen ist. Sie sinkt dort deutlich, wo kein Versicherungsschutz besteht. Die Anzeigenquote ist am niedrigsten bei Fällen des Waren- oder Dienstleistungsbetrugs, zum Beispiel über eBay oder andere kriminelle Anbieter im Online-Handel. Hier liegt sie nur bei 8,6 Prozent. Damit werden über neunzig Prozent dieser Straftaten nicht angezeigt und damit der Polizei nicht bekannt. Als Grund dafür muss die Ahnung vieler Opfer vermutet werden, dass die Polizei überlastet ist und nur in Ausnahmefällen zur Tatklärung beitragen kann. Ich glaube, dass in NRW schon seit Jahrzehnten aufgrund einer fehlgeleiteten Sicherheitspolitik ein Teufelskreis in Gang gekommen ist, der jetzt nach und nach – auch durch die Ereignisse in der Silvesternacht in Köln – an das Licht der Öffentlichkeit gebracht wird und hoffentlich zu einem Umdenken in der Sicherheitspolitik führen wird.

Straftäter sind heute deutlich intelligenter, deutlich professioneller als früher und nutzen die modernen Informations- und Kommunikationsmittel virtuos. Deshalb gilt die dringende Forderung, in die Kriminalpolizei zu investieren, sie zu verjüngen und die Beamten speziell entsprechend dem aktuellen Anforderungsprofil auszuwählen und auszubilden. Dazu gehört vor allem auch die Einstellung von Absolventen anderer abgeschlossener Berufsausbildungen, wie zum Beispiel Bankkaufleute, Betriebswirte, Bilanzbuchhalter, IT-Fachleute, IT-Forensiker oder IT-Techniker.

 

Keine Billig-Kripo

Der Anteil der Kriminalbeamten an der Gesamtzahl der Polizeibeamten in NRW muss erhöht werden. Er liegt seit Jahrzehnten bei 22,8 Prozent, trotz deutlich gestiegener Straftaten. Dringender denn je ist auch wieder die fachspezifische Ausbildung für die Kriminalpolizei. Während früher die Zuschreibung einzelner Strafanzeigen auf einzelne Sachbearbeiter den Arbeitsalltag in den Kriminalkommissariaten beherrschte, müssen in Zeiten einer gewandelten Kriminalitätslage immer mehr Ermittlungen in Ermittlungskommissionen angesiedelt werden, die gezielt entweder gegen bestimmte Tätergruppierungen oder hochkriminelle Einzeltäter vorgehen oder für die Bekämpfung bestimmter Delikte befristet eingesetzt werden.

Exponierte Praktiker halten sogar „Europa-Kriminalisten“ für geboten, die in grenzüberschreitenden Ermittlungskommissionen arbeiten können, mehrere Sprachen sprechen und sich auch in Rechtssystemen der an den Ermittlungen beteiligten Länder auskennen. Eine bei der Bekämpfung der durch die offenen Grenzen heutigen Kriminalitätsformen und -entwicklungen erfolgreiche Kriminalpolizei kann keine Billig-Kripo sein. Das vom Landesregierungslager nach wie vor favorisierte Modell eines universellen Allroundpolizisten kann diesen Herausforderungen nicht gewachsen sein.

 

Schutzpolizei einbeziehen

Die Antworten der Landesregierung auf zwei Große Anfragen der CDU-Landtagsfraktion offenbarten erhebliche Defizite in der Führung der Polizeibehörden. Sie erbringen den Nachweis, dass die Organisationseinheiten der Schutzpolizei durch das Innenministerium weder in den Direktionen Gefahrenabwehr/Einsatz noch in der Direktion Verkehr auf die Kriminalitätsbekämpfung ausgerichtet sind. Eine erfolgreiche und wirksame Bekämpfung der Kriminalität in Nordrhein-Westfalen erfordert jedoch, auch die Beamten der Schutzpolizei verstärkt für die Kriminalitätsbekämpfung auszubilden und zu motivieren.

Nordrhein-Westfalen benötigt eine Expertenkripo und eine Expertenschutzpolizei, die beide nur mit fachspezifischer Ausbildung zu schaffen sind. Diese Umkehr muss möglichst bald beginnen. Schutzpolizei und Kriminalpolizei sind natürliche Partner und keine Konkurrenten bei der Kriminalitätsbekämpfung. Die Arbeit der Kriminalpolizei baut in vielen Fällen auf der Arbeit der Schutzpolizei auf. Diese Synergien gilt es zu nutzen.

 

Peter Biesenbach, geboren 1948 in Hückeswagen, Stellvertretender  Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen, Vorsitzender des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses „Silvesternacht 2015“.

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