„Unsere Welt ist körperlich.“ Ta-Nehisi Coates
Black Lives Matter, #MeToo oder das Ringen um geschlechtliche Uneindeutigkeit und Vielfalt: Zahlreiche Konflikte unserer Gegenwart kreisen um den Körper. Der Körper, das wird derzeit mehr als deutlich, ist zutiefst politisch. Als „politisch“ ist dabei nicht nur das zu verstehen, was im Parlament verhandelt und beschlossen wird oder was Menschen mit politischem Mandat tun. Vielmehr sind all diejenigen Praktiken und Prozesse politisch, die sich um die Teilhabe von Menschen an der polis drehen, also um deren Möglichkeiten, an der Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger partizipieren zu können und als deren vollwertige Mitglieder anerkannt zu werden. Mithin beschreibt das Politische die Aushandlung und Gestaltung von Gesellschaft auf all ihren Ebenen und in all ihren Dimensionen, mit dem dazugehörigen Ringen um Macht und Hierarchie, Teilhabe und Ausschluss. Wie sehr der Körper ein zentraler Fluchtpunkt dieses Ringens ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass körperpolitische Auseinandersetzungen oftmals auch dann noch geführt werden, wenn die entsprechenden Sachfragen eigentlich längst geklärt sind. Beispielsweise ist es populationsgenetisch schon seit Jahrzehnten unstrittig, dass die Vorstellung, die Menschheit ließe sich sinnvoll in „Rassen“ einteilen, keinen Sinn ergibt. Auch ist die Annahme, zwischen weiblich und männlich gebe es eine einzig relevante und klar markierbare Trennlinie, biologisch-medizinisch nicht haltbar. Neben den Chromosomen werden verschiedene weitere Kriterien (Hormone, Keimdrüsen, Morphologie) herangezogen, die zudem alle keine eindeutige Einteilung in zwei sich ausschließende Kategorien zulassen.
Körper als Medium von Differenzierung
Allerdings wäre es ein Irrtum, zu glauben, eine solche enge Verschränkung von Körpern und dem Politischen sei erst in jüngster Zeit entstanden. Die Beschreibung und Interpretation politischer Formationen durch Körpermetaphern und -allegorien reicht sogar zurück bis in die Antike. Doch nicht nur das Verständnis des Politischen als körperlich, sondern auch die politische Bedeutung leibhaftiger Körper ist alles anderes als neu. So wurde mit der Entstehung moderner Staaten der Staatskörper als aus den einzelnen Körpern seiner Bürger zusammengesetzt gedacht. Am deutlichsten verbildlicht wohl das Frontispiz in Thomas Hobbes’ Leviathan aus dem Jahr 1651 diese Idee. Bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert sollte daraus die moderne Konzeption des demokratischen Staates hervorgehen: Mit unteilbaren Rechten ausgestattet, formen Individuen über ihre Körper ein Gemeinwesen, zu dem sie sich freiwillig und per Vertrag zusammenschließen. Die Theorie machte zwischen den beteiligten Körpern zunächst keinen Unterschied. Alle Menschen, proklamierte die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten im Jahr 1776, seien gleich geschaffen und hätten das „unveräußerliche Recht“ auf „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“. Der einzige Zweck des Staates und der Regierung sei es, diese Rechte zu sichern und das Glück der Menschen zu ermöglichen.
Vor diesem Hintergrund avancierte der Körper seit dem 19. Jahrhundert zu einem Fluchtpunkt der modernen Regierungskunst und politischen Praxis. Der Körper sollte gehegt, gepflegt und genährt, bewegt, behaust und trainiert werden, sodass er wachsen, gedeihen und sich vermehren, arbeiten, produktiv sein und kämpfen kann. Zugleich aber fungierte der Körper als Medium der Regulierung gesellschaftlicher und politischer Teilhabe. Über die Körper wurden Unterschiede zwischen den Menschen eingeführt und zahlreiche Menschen von den angeblich „unteilbaren Rechten“ ausgeschlossen; trotz ihres Menschseins und entgegen der Behauptung allgemeiner Gleichheit. So war das Recht auf politische Teilhabe oder auf die Verteidigung des Gemeinwesens lange Zeit ein Privileg weißer, heterosexueller Männer, deren Besitz oder Einkommen häufig ein weiteres Kriterium für das Maß ihrer Partizipationsmöglichkeiten darstellte. Sie beanspruchten dieses Privileg „natürlicherweise“ für sich. Von allen anderen Menschen hieß es, sie seien aufgrund ihrer gegebenen, unveränderlich gedachten körperlichen Dispositionen nicht dazu in der Lage, entsprechend rational und verantwortungsvoll zu handeln, politisch zu agieren oder mutig zu kämpfen.
Neuartige „Körperpolitik von unten“
Zwar stellten sogenannte Minderheiten immer wieder das Gegenteil unter Beweis, oder sie erkämpften sich politische Rechte, wie zum Beispiel das Frauenwahlrecht: in Deutschland im Jahr 1918, in England 1918 (lediglich für Frauen über dreißig Jahre) und 1928 (uneingeschränkt für alle Frauen über 21 Jahre), in den USA 1920 oder in Frankreich 1944. Doch an der Grundkonstellation änderte dies nur wenig. Denn trotz dieser und anderer Errungenschaften blieben der öffentliche Raum, die uneingeschränkte Teilhabe und damit die volle Anerkennung als produktive und vollwertige Mitglieder der polis bis in das spätere 20. Jahrhundert nahezu ausschließlich weißen heterosexuellen Männern vorbehalten. Alle anderen erbrachten ihre Leistungen mehr oder weniger im Verborgenen, und zwar in dem Sinne, als dass sie für diese keine (oder kaum) öffentliche Anerkennung erhielten.
Als sich das 20. Jahrhundert dem Ende zuneigte, schaute der Körper also auf eine lange Geschichte als Medium politischer Differenzierung zurück. Dort, wo es eigentlich keine Differenzen geben sollte, regulierte der Körper das Maß der Teilhabe und des Ausschlusses. Insofern war es naheliegend, dass sich der Körper als zentrales Medium im Kampf um Gleichberechtigung profilieren sollte. Die Frauenbewegung, die Schwulen- und Lesbenbewegung, das afroamerikanische Civil Rights Movement oder auch die antikolonialen Bewegungen der 1960erund 1970erJahre haben die Körperpolitik demnach nicht erfunden. Vielmehr griffen sie die seit fast zwei Jahrhunderten eingeübte Praxis auf, den Körper als zentrales politisches Instrument zu nutzen, machten dessen politische Relevanz dabei allerdings explizit. Diese neuartige „Körperpolitik von unten“ zielte darauf ab, die als ziemlich selbstverständlich geltenden Machtverhältnisse zu durchbrechen. Das Recht auf „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ sollte tatsächlich für alle Menschen gelten, und politische Teilhabe und Anerkennung sollten auch für diejenigen erreichbar sein, denen sie bis dahin vorenthalten worden waren.
Die Praktiken, die dies bewirken sollten, waren oft neuer und bis dahin unbekannter Art. Konkret konnte dies bedeuten, gemeinsam ein Buch zu schreiben oder zu nutzen, das der männlichen Medizin einen weiblichen Blick entgegensetzte, Frauenhäuser als Instrumente gegen häusliche Gewalt zu schaffen oder mit dem Recht auf Abtreibung die Kontrolle über den eigenen Körper zu erkämpfen. Dies konnte und kann auch bedeuten, sexuelle Übergriffe oder anzügliche Sprüche nicht mehr hinzunehmen, vor allem dann nicht, wenn sie in Konstellationen deutlicher Machtgefälle stattfinden. Dies konnte und kann auch bedeuten, den eigenen Körper zur Blockade einzusetzen, um beispielsweise die rassistischen Praktiken in Restaurants anzuprangern oder um die Statue (und damit die körperliche Repräsentation) eines ehemaligen Kolonialherrn oder Generals umzustürzen, der für den Erhalt der Sklaverei Krieg geführt hatte. Oder es konnte bedeuten, den eigenen Körper zielgerichtet einsperren zu lassen, um Unterdrückungsmechanismen und rechtliche Ungleichbehandlung zu entlarven, die sich an Hautfarbe und Herkunft festmachen. Der Kolonialkritiker Frantz Fanon hat schon 1961 und damit mehr als ein halbes Jahrhundert vor Black Lives Matter in seinem berühmtesten Werk Die Verdammten dieser Erde dagegen aufbegehrt, dass man schwarze Körper „ungestraft festnehmen, schlagen, aushungern kann“. Im Jahr 2015, als die antirassistischen Black Lives Matter-Proteste in den USA bereits einen ersten Höhepunkt erreicht hatten, schrieb der US-amerikanische Journalist und Autor Ta-Nehisi Coates voller Sorge in einem öffentlichen Brief an seinen Sohn, „dass die Polizeireviere des Landes mit der Befugnis ausgestattet sind, deinen Körper zu zerstören“.
„Als gleichgestellter Mensch anerkannt werden“
Im ausgehenden 20. Jahrhundert begannen sich zwei wichtige körperpolitische Verschiebungen zu vollziehen. Die erste ist (wie oben beschrieben) die Aneignung der lange etablierten Praxis, über Körper politische Teilhabe zu regulieren, durch diejenigen, die bis dahin an den Rand gedrängt waren. In dem Zuge wurden körperliche Signaturen des Ausschlusses (wie das Geschlecht, die Hautfarbe oder die sexuelle Präferenz) in Signaturen der Ermächtigung gewendet. Deutlich bringt dies die Erklärung des Combahee River Collective, einer US-amerikanischen Gruppe schwarzer lesbischer Feministinnen, aus dem Jahr 1977 zum Ausdruck: Die Autorinnen machten die vielfältigen Unterdrückungsformen, die sie als afroamerikanische lesbische Frauen erfahren hatten, zum Ziel und zur Antriebskraft ihrer Politik. Dabei kaperten sie die seit rund zwei Jahrhunderten etablierte weiße und männliche Praxis, aus der eigenen identitären Positionierung politische Forderungen abzuleiten. Allerdings strebten sie nicht nach einer hegemonialen Position. Vielmehr reichte es ihnen, wie sie betonten, „als Mensch, als gleichgestellter Mensch, anerkannt zu werden“. Wichtig ist, dass die Frage der Anerkennung dabei immer auch berührt, welchen Schutz und welche Sicherheit man als Mensch erfährt, welche Wohnung und welchen Job man bekommen kann, was man in der Tasche und auf dem Tisch hat.
Gestaltbare Körperlichkeit
Eine zweite körperpolitische Verschiebung, die sich im ausgehenden 20. Jahrhundert zu etablieren begann, war es, Körper nicht mehr als gegeben und statisch zu denken, sondern als etwas, das form- und gestaltbar ist; als Effekt von sich wieder und wieder wiederholenden Praktiken. Ein solches Körperverständnis entzieht der Argumentation den Boden, dass bestimmte Menschen aufgrund ihrer angeblich gegebenen Körperlichkeit grundsätzlich anders und deshalb nicht oder nicht so sehr zur politischen Teilhabe fähig seien. Mit dem Körper wird das gesamte Gesellschaftsgefüge flexibler und zu einer Folge der Art und Weise, wie wir denken, handeln und uns behandeln lassen. Mit Blick auf das Geschlecht bedeutet dies unter anderem, dass die Frage nachrangig ist, ob zum Beispiel bestimmte Chromosomenpaare, die bislang „weiblich“ und „männlich“ festlegen sollten, tatsächlich existieren. Vordringlich ist herauszufinden, welche Konsequenzen diese Fixierungsversuche hatten, wie sie die politische und gesellschaftliche Praxis prägten, welche Denk- und Handlungsweisen als männlich oder weiblich galten und immer noch gelten – und wer deshalb wie an Gesellschaft teilhaben und diese mitgestalten kann. Körper als formbar zu verstehen, bedeutet zudem, anzuerkennen, dass vieles möglich und ein Denken in starren Kategorien nicht mehr angemessen ist, um den gesellschaftlichen Realitäten unserer Gegenwart zu begegnen. Körper als formbar zu verstehen, bedeutet ebenfalls, anzuerkennen, dass die Art und Weise, wie wir Menschen aufgrund ihrer Körperlichkeit wahrnehmen, ansprechen und behandeln, ihre Position in der Gesellschaft beeinflusst. Und dies ist eine Position, die immer auch politisch ist.
Die Forderung nach der Anerkennung von Differenz und das Aufbrechen statisch gedachter Körperlichkeit gehen Hand in Hand. Dies bedeutet immer auch ein Aufbrechen politischer Ordnungen, sozialer Verteilungsstrukturen und einen Verlust an Hegemonie für diejenigen, die bis dahin in der gesellschaftlichen Teilhabe und im Zugriff auf Ressourcen privilegiert waren. Nicht umsonst werden weiße Männer in der Geschichte moderner Gesellschaften und insbesondere seit den 1970erJahren so gern und häufig als „in der Krise“ beschrieben. Im 21. Jahrhundert befinden sie sich in einer Art Dauerkrise, wenn man dem Lamento glauben mag. Eine Krise zu beschwören, bedeutet zugleich, der Notwendigkeit von Rettungsmaßnahmen das Wort zu reden, den Patienten und damit die bestehende Ordnung wieder stabilisieren zu wollen. Dabei fällt auf, dass die Krisenrhetorik vor allem dann Konjunktur hat, wenn etwa die feministische Bewegung große Erfolge zu verzeichnen hat oder (genereller) die politische Körperordnung stark in Bewegung geraten ist. Dabei könnte man die Krise der einen doch auch als Chance auf eine Veränderung verstehen, die am Ende für alle produktiv ist.
Jürgen Martschukat, geboren 1965 in Köln, Historiker, Professor für Nordamerikanische Geschichte, Universität Erfurt.
Literatur
Boston Women’s Health Book Collective: Our Bodies, Ourselves. A Book by and for Women, Boston 1970.
Coates, TaNehisi: Zwischen mir und der Welt, Frankfurt am Main 2017.
Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 1. Aufl. 1995, Opladen 2000.
Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, 1. Aufl. 1961, Frankfurt am Main 1981.
Fraser, Nancy / Honneth, Axel: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politischphilosophische Kontroverse, Frankfurt am Main 2003.
Martschukat, Jürgen: „Hegemoniale Identitätspolitik als ‚entscheidende Politikform‘ in den USA. Eine Geschichte der Gegenwart“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 38–39, 2018, www.bpb.de/ apuz/275882/hegemoniale-identitaetspolitik-als-in-den-usa?p=0 [letzter Zugriff: 16.09.2021].
Martschukat, Jürgen: Das Zeitalter der Fitness. Wie der Körper zum Zeichen von Erfolg und Leistung wurde, Frankfurt am Main 2019.
Schmincke, Imke: Körpersoziologie, Paderborn u. a. 2021. Skinner, Quentin: Die drei Körper des Staates, Göttingen 2012.
The Combahee River Collective Statement, Boston 1977, https://americanstudies.yale.edu/sites/default/files/files/Keyword%20Coalition_Readings.pdf [letzter Zugriff: 16.09.2021].