Japans Premierminister Fumio Kishida (Liberal Democratic Party, LDP) war der wohl prominenteste Gast des diesjährigen Shangri-La-Dialogs in Singapur, der wichtigsten Sicherheitskonferenz in der Region Asien-Pazifik. In seiner vielzitierten Grundsatzrede stellte Kishida seine „Vision für Frieden“ vor, eine Art Verteidigungsplan, denn Japan fürchtet um die regelbasierte Ordnung in der Region. Nicht allein die intensive militärische Kooperation zwischen Russland und China ist eine für den freien und offenen Indopazifik unheilvolle Beziehung, auch die potenziellen militärischen Konflikte im Ost- und Südchinesischen Meer verlangen Japans Wehrfähigkeit viel ab. Dennoch will Kishida die internationale Ordnung durch Dialog, nicht durch Konfrontation erhalten. Zugleich fürchtet er, dass sich die Situation in der Ukraine jederzeit in Ostasien wiederholen könnte. In seiner Rede in Singapur prägte er den fast ikonischen Satz „Ukraine today may be East Asia tomorrow“.
Auf diese sich verschärfende Sicherheitslage will Japan vorbereitet sein – mit seiner Fünf-Säulen-Friedensvision. Sie umfasst erstens die Verteidigung des freien und offenen Indopazifiks, zweitens Stärkung der Streitkräfte und Anhebung des Verteidigungsetats, drittens nukleare Abrüstung sowie viertens die Reform der Vereinten Nationen inklusive ihres Sicherheitsrats. Die fünfte Säule „ Economic Security“ möchte Kishida als neue Initiative verstanden wissen und verbindet die Notwendigkeit, Volkswirtschaften resilient zu gestalten, mit den Lehren aus den Wirtschaftssanktionen gegen Russland und steigenden Cyberangriffen auf kritische Infrastrukturen wie Behörden und Banken. Der Sicherheitsgipfel in Singapur verdeutlichte, dass es Japan außerdem um Führungsanspruch geht. Die Epoche der historisch bedingten Zurückhaltung ist vorbei. Von Quad (Quadrilateral Security Dialogue) bis NATO, von G7 bis G20: Japan demonstriert Stärke und positioniert sich in der Post-Abe-Ära weiterhin als verlässlicher Wertepartner. Dass Japan so wahrgenommen wird, zeigte auch die Teilnahme Kishidas am NATO-Gipfel in Madrid. Dort warb er für intensivere Beziehungen zwischen NATO und dessen „global partner“ Japan und plädierte erstmalig für beobachtende Einsätze japanischer Streitkräfte bei NATO-Manövern.
Mit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine im Februar 2022 hat die liberaldemokratische Regierungspartei LDP ihr Konzept für eine umfassendere nationale Sicherheitsstrategie vorgestellt, die darauf abzielt, die drei Schlüsseldokumente – die National Security Strategy, die National Defense Program Guidelines und das Medium-Term Defense Force Buildup Program – grundlegend zu revidieren und den aktuellen Bedrohungsszenarien anzupassen. Der Verteidigungsetat soll innerhalb der nächsten fünf Jahre von einem auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts angehoben werden. Das würde eine jährliche Aufwendung von elf Trillionen Yen (86 Milliarden US-Dollar) bedeuten – rund ein Fünftel der entsprechenden Ausgaben Chinas.
Obwohl der Verteidigungsetat in den letzten zehn Jahren anstieg, blieben Themen wie die Verfassungsänderung zugunsten der Reform der Streitkräfte, das Konzept der nuklearen Teilhabe als Verteidigungsmöglichkeit oder auch das Zwei-Prozent-Ziel für erhöhte Wehrausgaben Gift für die Werbung um Wählerstimmen. Das pazifistisch gesinnte Japan wollte lange Zeit glauben, dass ihm ohne eigene Mobilisierung niemand zur Bedrohung werden kann. Der Krieg in der Ukraine hat diese Komforthaltung binnen kürzester Zeit zerstört. Vor den Oberhauswahlen im Juli 2022 rückte die Verteidigungsfähigkeit des Landes sogar in den Mittelpunkt des Wahlkampfes. Das deutliche Wahlergebnis zugunsten der LDP hat bewiesen, was Umfragen vermuten ließen: Die Zustimmung in der Bevölkerung etwa zu einem höheren Wehretat wächst, genährt aus dem Gefühl der Sorge und Unsicherheit.
Zum einen rüttelt der Ukraine-Krieg am Selbstverständnis Japans, denn das Land sieht die Grundlagen der internationalen Ordnung nicht allein in Europa, sondern auch in Asien erschüttert. Das Verteidigungsministerium analysiert Putins Kriegsführung deshalb sehr genau. Seine Taktik und das eingesetzte Material sollen Japan über mögliche Angriffsszenarien im Indopazifik Aufschluss geben. Die Regierung ist in ihrem jahrzehntelangen Territorialstreit mit Russland folgerichtig zu einer harten Haltung zurückgekehrt und hat in ihrem jährlichen außenpolitischen Bericht ausdrücklich festgeschrieben, dass vier nördliche Inseln – als inhärenter Bestandteil japanischen Territoriums – von Russland illegal besetzt sind. Seit 2011 hat es diesen Wortlaut im Diplomatic Bluebook, dem vom japanischen Außenministerium veröffentlichten Jahresbericht über Japans Außenpolitik und Aktivitäten, nicht mehr gegeben.
Zum anderen sieht sich Japan an seinen Grenzlinien massiv bedroht. In regelmäßigen Abständen umfahren russische und chinesische Kriegsflotten den japanischen Archipel oder halten sich in der Taiwanstraße auf, die ebenfalls an japanisches Territorium grenzt. Im Juni 2022 präsentierte Peking keine 500 Kilometer von Tokio entfernt seinen Lenkwaffenzerstörer „Lhasa“, Chinas stärkstes Kriegsschiff. Nordkorea führte unterdessen insgesamt 31 Mittelstreckenraketentests in den vergangenen Monaten durch (im Vergleich zu acht Tests im Vorjahr). Den siebten Kernwaffentest erwarten Expertinnen und Experten noch in diesem Jahr.
Die einst ambivalente Haltung gegenüber Russland und China hat Premierminister Kishida trotz der Abhängigkeit von Russlands Gas und der umfangreichen Handelsbeziehungen zur Volksrepublik aufgegeben und so Japans eigene „Zeitenwende“ eingeläutet, die auch Taiwan umfasst. Im Weißbuch der Verteidigung (Juli 2022) nehmen Taiwans Verteidigungskapazitäten erstmals ein eigenes Kapitel ein. Freie Wege in der Taiwanstraße sowie ein stabiles Taiwan sind für Japans eigene Sicherheit essenziell – aus militärischer und aus ökonomischer Sicht. Starke Proteste aus Peking folgten auf dem Fuße. Die Reaktionen darauf in Taipeh und Tokio sind erstaunlicherweise deutlich entspannt – Zeitenwende einmal anders.
Mit der Ermordung des ehemaligen Premierministers Shinzo Abe im Juli 2022 wird auch sein Vermächtnis der über Jahre forcierten Verfassungsänderung unter anderen Vorzeichen diskutiert. Durch das komfortable Wahlergebnis der LDP im Juli 2022 hat die Erweiterung des umstrittenen Artikel 9 (Mandatserweiterung und Neupositionierung der Selbstverteidigungskräfte) erstmals genügend Rückhalt im Parlament. Abe hatte bereits vor Jahren auf die Bedrohungslagen im Indopazifik aufmerksam gemacht und die Vision des Free and Open Indo-Pacific (FOIP) entworfen.
FOIP ist heute viel mehr als die robuste Antwort auf Chinas machtpolitische Ambitionen im Indopazifik. Das strategische Konzept ist eine Einladung an gleichgesinnte Staaten, inklusiv für Sicherheit, Freihandel und Prosperität in der Region einzustehen. Auch Deutschland hat sich dieser Einstellung mit seiner „Strategie für den Indo-Pazifik“ von 2019 angeschlossen. Und so ist Kishidas Vision for Peace die konkrete und notwendige Weiterentwicklung, um Japan durch die eigene „Zeitenwende“ zu navigieren.
Rabea Brauer, geboren 1974 in Nordhausen, Leiterin des Länderprogramms Japan und des Regionalprogramms Soziale Ordnungspolitik in Asien (SOPAS) der Konrad-Adenauer-Stiftung.