Zwei Tage nach der Großinvasion Russlands in die Ukraine, am Nachmittag des 26. Februar 2022, lud das Maxim Gorki Theater in Berlin zu einer Veranstaltung ein: „Sprachlos die Sprache verteidigen“. Der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt, weitere 500 Zuschauer warteten im Livestream.
„Der Tag des großen Krieges, der nie hätte kommen dürfen, jetzt ist er da“, hieß es in der Einladung zu dem in Windeseile auf die Beine gestellten Event. „Wir suchen nach Worten im Krieg. Worten, die uns helfen, aus diesem Abgrund wieder herauszukommen. Worten der Wahrheit, die wir mit unseren Freunden und Kollegen im Osten Europas teilen.“
Spontan organisierte Veranstaltungen, zu denen sich Menschen nach brachial in die Alltagsroutinen einbrechenden Ereignissen versammeln, hat es immer wieder gegeben: nach dem 11. September 2001, nach dem Überfall auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo 2015 und zuletzt nach dem 7. Oktober 2023, dem Massaker der Hamas in Israel. Man fand sich zusammen in Konzertsälen, Kirchen, Theatern, Bibliotheken oder Literaturhäusern, um nicht allein zu sein, um etwas zu erfahren, oder auch nur, um zuzuhören und sich zu konzentrieren. Dankbar, nicht selbst reden zu müssen. Doch woher die Worte nehmen?
An jenem Nachmittag sollten diejenigen sprechen, die nicht anwesend sein konnten. Zuallererst die Ukrainer, die der russischen Aggression ausgeliefert waren und deren Leben zerstört wurde. Gefragt waren in diesen Stunden nicht Politiker, Militärs, Philosophen oder Historiker, sondern die Schriftsteller. Zwölf Berliner Autorinnen und Autoren trugen Texte in deutscher Übersetzung vor.
„Osteuropäische Nische“
„Was ändert der Krieg?“, begann Herta Müller, die Literaturnobelpreisträgerin. „Der Krieg ändert das Vokabular. […] er bringt seine eigenen Wörter hervor […] er macht vor den literarischen Figuren nicht halt […] er ändert auch Autoren und Leser. […] Der Krieg ist wie eine Krankheit, die unerwartet ausbricht.“ Sie las aus einem Essay ihres ukrainischen Kollegen Serhij Zhadan, der zur selben St- unde in Charkiw Familien aus ihren Wohnungen evakuierte. Worte, wie für diesen Moment geschrieben. Doch sie stammten aus dem Jahr 2016.
Der Krieg hatte, und das begriffen manche erst jetzt, nicht vorgestern begonnen, sondern vor acht Jahren, im Frühjahr 2014, und er hatte bereits 14.000 Menschen das Leben gekostet.
In eine gelb-blaue Flagge gehüllt, trat der Osteuropahistoriker Karl Schlögel auf die Bühne. „In unserer Ohnmacht nehmen wir Zuflucht zu Texten“, sagte er, bevor er das Resümee des Künstlers Artur Klinau in Minsk über den Terror vortrug, der in Belarus auf die Niederschlagung der friedlichen Massenproteste im Sommer 2020 gefolgt war: „Jeder ist heute eine Geisel des Regimes.“
Durs Grünbein, Träger des Georg-Büchner-Preises, las aus dem Gedichtzyklus Der Krieg der Tiere und Untiere, den seine Moskauer Kollegin Maria Stepanova 2015 als Reaktion auf die Kämpfe im Donbas geschrieben hatte – ahnungsvolle, hellsichtige Verse.
Neben den ukrainischen Stimmen sollten auch russische und belarussische zu hören sein, denn die von Repressionen drangsalierten Bürger dieser Länder mussten zusehen, „wie in ihrem Namen ein Verbrechen an ihren engsten Nachbarn begangen wurde“, wie es im Einladungstext hieß.
Die Gedichtzeilen, Essays und Prosastücke waren Büchern entnommen, die der publizistische Mainstream in die „osteuropäische Nische“ verbannt. Sie sprachen von etwas Unerhörtem, das alle anging: von einem Europa, in dem ein großer Krieg begonnen hatte. Die erschütterte Zuhörerschaft stellte fest, dass sie den Erfahrungsraum teilte, den diese Stimmen füllten.
Die Länder „dazwischen“
Wovon sprechen wir, wenn wir vom literarischen Osten sprechen? Einerseits von Russland – aus keiner osteuropäischen Sprache wurde und wird mehr übersetzt als aus dem Russischen.
Andererseits von den Ländern „dazwischen“. Sie liegen östlich der deutschen Grenze und westlich, südlich und südöstlich der Grenze der Russischen Föderation: „Stimmen aus dem östlichen Europa“ werden aus rund zwanzig verschiedenen, sogenannten kleinen Sprachen übersetzt. Diese Literaturen, durchaus große, sind weniger bekannt, und ihr Kanon ist im Unterschied zum russischen im allgemeinen Bewusstsein kaum verankert. Mit Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewski, Anton Tschechow und Alexander Solschenizyn verbindet jeder gebildete Leser prägende Erfahrungen; mit Bolesław Prus und Bruno Schulz oder Božena Němcová und Lesja Ukrajinka dürfte es anders aussehen.
Nicht, dass man sie nicht kennen könnte. Zwanzig Jahre seit der Osterweiterung der Europäischen Union, dreißig Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sind Werke zeitgenössischer osteuropäischer Autoren hierzulande in beeindruckender Zahl präsent. Klassiker der frühen Moderne werden ausgegraben und neu ediert – dank einer reichen und weltweit einzigartigen Übersetzungskultur. Das großzügige Engagement privater und öffentlicher Kulturstiftungen, die Förderpolitik nationaler Buchinstitute in den Ländern Mittel- und Osteuropas hat Verlage hierzulande ermuntert und unterstützt, auf den ersten Blick schwer verkäuflichen Titeln einen Programmplatz einzuräumen. Autorinnen und Autoren wurden über Jahre hinweg aufgebaut.
Epochemachende Bücher wie der Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész (1996) oder Das letzte Territorium von Juri Andruchowytsch (2003) öffneten eine unerwartete Dimension des Verstehens: Das Auschwitz-Gedenkjahr war gerade zu Ende gegangen, eine Fülle neuer historischer Studien, Erinnerungen und Zeugnisse lag vor. Doch so wie Kertész hatte noch nie jemand über den Holocaust geschrieben – aus der Sicht eines lernbegierigen Jugendlichen, der ins Konzentrationslager deportiert wird und verstehen will, welche Gesetze an diesem Ort herrschen. Die verspätete Übersetzung des bereits 1975 in Ungarn erschienenen Romans wurde zum Buch der Stunde. Nicht nur die politischen Grenzen des jahrzehntelang geteilten Kontinents wurden abgebaut. Wie der Holocaust in Osteuropa wahrgenommen wurde, welche Erinnerungsspuren die deutschen Verbrechen dort hinterlassen hatten und wie die stalinistische Herrschaft sie auszulöschen versuchte – die Konfrontation mit dieser Erfahrung in der Lektüre bewirkte eine jähe Osterweiterung des europäischen Bewusstseins.
Juri Andruchowytschs Essays waren eine Einladung nach Mitteleuropa, in Städte und Landschaften, die auf deutsche Kulturtouristen einen zwiespältigen Reiz ausübten. Lemberg und Czernowitz, Brody und Stanislau – das waren Orte einer ermordeten jüdischen Kultur, deren Spuren kaum mehr sichtbar waren. Ruinen und Palimpseste, das alte Österreich, die polnischen Friedhöfe, die Sowjetarchitektur, armenische und griechische Kirchen, das Schweigen der Behörden nach Tschernobyl, der Hass auf den korrupten neuen Staat, der Regimekritiker umbringen ließ. Von all dem erzählte dieser Autor, mit so viel Geist und trotz allem mit Humor, dass man, wie eine Kritikerin schrieb, über die eigene Provinzialität erschrak. Die Ukraine, damals noch „ein Land, aus dem man wegging“, hatte mit diesem Autor ihren Interpreten gefunden. Ohne seinen unermüdlichen Einsatz – literarisch, publizistisch, bei öffentlichen Auftritten – hätte man in Deutschland womöglich den ersten Maidan 2004/05 verschlafen und den folgenreichen zweiten, im Februar 2014, nicht verstanden.
Literatur eignet sich nicht zum Eskapismus
Vor einigen Jahren tauchte ein neues Wort in der Verlagsbranche auf: Nahbarkeit. Es suggerierte, dass Bücher sich verhalten sollten wie Menschen – man möchte sich in ihrer Nähe wohlfühlen. Wer sich in ihre Obhut begibt, kann abtauchen. Doch Literatur, die beansprucht, sich auf der Höhe der Zeit zu bewegen – sprachlich, formal und intellektuell –, eignet sich nicht zum Eskapismus. Schon gar nicht, wenn sie, wie die osteuropäische, neben der Zumutung unvertrauter Namen und Realien die Leser mit dem Gefühl bedrängt, dass Dinge nicht durchschaubar sind und die handelnden Figuren von etwas Schwerem niedergedrückt werden.
Sie führt ins Unbekannte, bietet kein Geländer aus fertigen Begriffen, kein Register abrufbarer Gefühle. Aber sie schärft die Sinne – man taucht nicht ab, sondern wacht auf. Welchen Zauber die abbröckelnden Fassaden der Villen im Bukarest der finstersten stalinistischen Zeit in den Träumen eines Kindes entfalten; wie das Licht hinter einer südpolnischen Kleinstadt die hügelige Landschaft verklärt; wie ein Güterzug langsam über einen Hügelzug am Horizont dahinfährt, in einem „Gebiet unklarer Staatlichkeit“; wie jemand mit der Sprache ringt, um das Schweigen zu brechen, das sich über die Jahre im sibirischen Lager, über die Ermordung der Urgroßmutter an einer Straßenecke in Kiew 1941 oder über den Verrat eines Onkels gebreitet hat – die Wirklichkeitsfülle dieser Geschichten drängt zur Verifizierung: Man liest weiter, man reist und will vor Ort erkunden, was sich zuvor in der Imagination aufgebaut hat. Zugänglichkeit ist eine Eigenschaft, die Orte und Texte teilen, sobald man sich selbst auf den Weg macht. Nur auf diese Weise entsteht ein Erfahrungsraum.
Die gewaltvolle Seite des Daseins
Mircea Cărtărescu, Andrzej Stasiuk, Serhij Zhadan, Sergej Lebedew, Katja Petrowskaja, Maria Stepanova, von deren Büchern soeben die Rede war, gehören zu den bekanntesten osteuropäischen Autoren. Ihr Werk strahlt aus. Ob es so breit und identifikatorisch gelesen wird wie das von Annie Ernaux, Haruki Murakami oder Elena Ferrante, darf bezweifelt werden, fordert es doch eine weit größere Bereitschaft, sich auf die gewaltvolle Seite des Daseins einzulassen, auf eine Gewalt, die nicht allein aus unglücklichen Familien- oder Klassenverhältnissen erwächst. In Büchern, die von der Zersetzung des Individuums durch staatlicherseits verübten Terror handeln, überfällt einen die niederschmetternde Erkenntnis, dass die Macht das kleine Leben zermalmt. Sie erscheint als geschichtliches Verhängnis, obwohl sie von Mensch zu Mensch ausgeübt wird und der Einzelne entweder Instrument oder Opfer, oftmals sogar beides ist.
Der Schock vom 24. Februar 2022 löste einen Boom aus: Die Verlage kamen mit dem Nachdrucken seit Jahren lieferbarer und nur bescheiden nachgefragter Titel kaum hinterher. Die Standardwerke des Ukrainehistorikers Andreas Kappeler erreichten sechsstellige Verkaufszahlen. Ukrainische Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Tanja Maljartschuk, Andrej Kurkow, Juri Andruchowytsch, Serhij Zhadan und viele andere konnten sich der Einladungen, irgendwo zu reden oder etwas zu schreiben, kaum erwehren. Wie konnte es sein, dass ihre Bücher von Dingen erzählen, die sich doch erst heute vor unseren Augen abspielen? Wäre die Katastrophe dieses Krieges absehbar gewesen, hätte man ihren Stimmen mehr Aufmerksamkeit und Glauben geschenkt?
Serhij Zhadan, der Chronist des Krieges, sprach bereits im September 2018 in Berlin davon, wie unheimlich es ist, wenn die Figuren in seinen Büchern plötzlich lebendige Menschen werden und zu den Waffen greifen. Er sagte das anlässlich der Entgegennahme eines Preises, der ihm und seinen Übersetzern für den 2010 entstandenen, 2012 auf Deutsch erschienenen Roman Die Erfindung des Jazz im Donbass verliehen wurde.
Den tödlichen Irrsinn, der dort wenige Jahre später beginnen würde, hat er auch 2018 noch nicht vorhergesehen.
Und wenn der Krieg zuschlägt
Die Möglichkeiten der Literatur sind begrenzt: Sie kann erzählen, die Entscheidungen ihrer Protagonisten nachvollziehbar machen, die Ideen, Hoffnungen oder Obsessionen evozieren, die sie leiten und in den Abgrund führen oder aus ihm heraus. Die Sprache der Poesie erschafft Gebilde eigenen Sinnes, an denen plötzlich eine Wahrheit aufgehen kann, so wie an jenem Nachmittag im Maxim Gorki Theater. Literatur ersetzt nicht historisches Wissen und befähigt nicht zu politischen Urteilen.
Die einzigen Institutionen, die den Krieg vorausgesehen und entsprechend gewarnt haben, waren die militärischen Geheimdienste der USA und Großbritanniens.
Literatur kann uns darauf vorbereiten, die Grenzen unseres Handelns und unserer Erwartungen zu akzeptieren, das Scheitern der Politik einzusehen, ohne es hinzunehmen, und einen skeptischen Verstand zu entwickeln. Und wenn der Krieg zuschlägt, gibt es nur wenige Mittel, die nicht allein Trost spenden, sondern auch die Möglichkeit bieten, einen Sinn in der verheerenden Erfahrung zu finden, auch in der Erfahrung anderer Menschen, und zwar nicht nur als Individuen, sondern als Gemeinschaften. Das ist es, was die Literatur leisten kann. Aber sie kann die Zukunft nicht vorhersagen; jedenfalls nicht uns, den Leserinnen und Lesern.
Katharina Raabe, geboren 1957 in Hamburg, Lektorin für osteuropäische Literaturen, Suhrkamp Verlag, Berlin.