Asset-Herausgeber

Was geschah mit den russischen Reformern?

Asset-Herausgeber

Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte zu einem Elitenwechsel an der Spitze des Staates. Schon die Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hatte sich gespalten in einen Flügel der Reformer unter Führung von Michail Gorbatschow und einen Flügel der orthodoxen Kommunisten. Mit dem gescheiterten Putsch der orthodoxen Kommunisten gegen Gorbatschow im August 1991 war deren Zeit zu Ende. Zugleich verlor aber auch Gorbatschow mit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion seine Macht. An seine Stelle trat Boris Jelzin, der neue Präsident der Russischen Föderation. Er stand die gesamten 1990er-Jahre an der Spitze des neuen Staates. Mit Jelzin kam eine neue Generation an die Macht: Sie setzten auf Marktwirtschaft und Demokratie und wurden als Reformer bezeichnet. Zu ihnen gehörten Jegor Gaidar, Anatoli Tschubais, Boris Nemzow und Grigori Jawlinski – um nur die bekanntesten zu nennen. Sie alle spielen im politischen Leben Russlands keine oder nur eine geringe Rolle. Dasselbe gilt für die Parteien, denen sie angehörten und die sie anführten. Reformer haben im heutigen Russland wenig Unterstützung. Mehr noch: Für viele Russen hat das Wort „Reformen“ einen negativen Klang, ebenso wie „Liberaler“ und „Demokrat“.

Heute verbreitet die Führung unter Präsident Wladimir Putin eine aggressive nationalistische und antiwestliche Propaganda. Sie hat sich mit der Krim-Annexion, der Unterstützung der Separatisten in der Ost-Ukraine und dem Krieg in Syrien in eine direkte Konfrontation mit dem Westen begeben. Die russische Wirtschaft befindet sich in einer schweren Krise, bedingt durch ihre einseitige Ausrichtung auf den Export von Rohstoffen, vor allem Öl, und das Fehlen eines breiten Sektors mittlerer und kleinerer Unternehmen, in geringerem Maße auch durch westliche Sanktionen. Wirtschaftliche Reformen scheinen den meisten russischen Ökonomen heute zwar unabdingbar, damit es wieder zu Wachstum kommt und eine dauerhafte Stagnation verhindert wird. Präsident Putin fürchtet jedoch, dass Wirtschaftsreformen zu einem lauteren Ruf nach politischen Reformen führen werden.

 

Zeit der Hoffnungen

Wie kam es dazu, dass die Reformer ihre Bedeutung verloren haben? Durch das Ende des Kommunismus brach eine Zeit der Hoffnungen an, es entwickelte sich eine bisher nicht gekannte gesellschaftliche Aktivität. Nicht nur im Westen, sondern auch in Russland waren viele überzeugt, dass es nur wenige Jahre dauern würde, bis Russland durch die Kräfte der Marktwirtschaft und der Demokratie zu einem „normalen Land“ werden würde. Doch es gab keine Rezepte, wie der Übergang von der sowjetischen Diktatur und Kommandowirtschaft zu einem neuen politischen und wirtschaftlichen System gestaltet werden sollte. Federführend für die Wirtschaftsreformen wurden Wissenschaftler und Ökonomen aus dem Reformflügel der Kommunistischen Partei. Der wichtigste war zunächst Jegor Gaidar, ein Ökonom, der im Zeichen der Perestroika das Wirtschaftsressort bei der theoretischen Zeitschrift Kommunist und ab 1990 bei der Parteizeitung Prawda' leitete. Nach dem Augustputsch wurde er Wirtschaftsminister und 1992 stellvertretender Ministerpräsident. In dieser Zeit verloren viele Bürger durch die rasende Inflation große Teile ihrer privaten Sparvermögen. Gaidar wurde für diese „Schocktherapie“ verantwortlich gemacht. Er verließ 1994 die Regierung.

Zusammen mit ihm gilt Anatoli Tschubais als wichtigste Figur der Reformer. Er war zunächst während der Perestroika in Leningrad für Wirtschaftsreformen zuständig, wurde 1991 einer der engsten Mitarbeiter des Sankt Petersburger Oberbürgermeisters Anatoli Sobtschak, zu dessen Mannschaft auch der heutige Präsident Wladimir Putin gehörte. Tschubais, in den 1990er-Jahren mehrfach Vize-Ministerpräsident, gilt als Erfinder der Voucher-Privatisierung, mit der die Führung versuchte, durch Anteilsscheine die Staatsbetriebe in private Unternehmen zu überführen. Mehr als die Hälfte der Anteile ging jedoch an die Direktoren der Betriebe. Die Idee, dass die Arbeiter und Bürger selbst zu Besitzern der Betriebe werden sollten, schlug fehl. Die meisten Russen verkauften ihre Anteilsscheine auf dem Schwarzmarkt. Gewinner der Privatisierung waren neben den alten Direktoren die Schwarzmarktunternehmer und die Kriminellen. Wegen der großen Unbeliebtheit der Wirtschaftsreformen wurde Tschubais 1996 von Jelzin aus der Regierung entlassen. Er leitete 1996 aber den Wahlkampf Jelzins, der von führenden Oligarchen unterstützt, finanziert und manipuliert wurde. Tschubais kehrte bald in die Regierung zurück – erst die schwere Finanzkrise 1998 führte zu seinem endgültigen Ausscheiden. Tschubais wurde einer der meistgehassten Politiker Russlands. Er war mehrmals Ziel von Attentaten, zum letzten Mal 2005. Von 1998 bis 2008 leitete Tschubais, der als hervorragender Manager gilt, den halbstaatlichen Stromkonzern EES Rossii. Seitdem ist er Verwaltungsratsvorsitzender von Rusnano, einem Unternehmen, das sich der Kommerzialisierung der Nanotechnologie widmet.

 

Boris Nemzow, Sergei Kirijenko, Grigori Jawlinski

Der dritte, der eine besondere Rolle unter den „jungen Reformern“ der Jelzin-Ära spielte, war Boris Nemzow. Er stammte aus Gorki, heute Nischni Nowgorod. Bei der ersten sowjetischen Wahl mit mehreren konkurrierenden Parteien im März 1990 wurde er in den Obersten Sowjet gewählt. Weil er sich beim Augustputsch 1991 auf die Seite von Boris Jelzin gestellt hatte, ernannte der neue russische Präsident ihn im Alter von 32 Jahren zum Gouverneur des Gebiets Nischni Nowgorod. Unter Nemzow wurden Stadt und Gebiet zum Vorzeigeprojekt für Reformen und Privatisierung. Mehr Praktiker als etwa Gaidar, gelang es Nemzow, die Reformen so zu gestalten, dass er als Gouverneur wiedergewählt und auch in ganz Russland populär wurde. Anfang 1997 holte Jelzin ihn als Vize-Ministerpräsidenten in die Regierung. Viele sahen in ihm den Nachfolger Jelzins. Die Finanzkrise 1998 setzte Nemzows Karriere in der Regierung jedoch ein jähes Ende. Er bot seinen Rücktritt an, den Jelzin annahm. Ein anderer Reformer aus Nischni Nowgorod, der damals 35 Jahre alte Sergei Kirijenko, verlor durch die Krise nach nur fünf Monaten sein Amt als Ministerpräsident. Auch Tschubais schied aus der Regierung aus. Jelzin setzte nun auf konservativere Kräfte.

Einer, der Nemzow bei den Reformen in Nischni Nowgorod beraten hatte, war Grigori Jawlinski. Der aus Lemberg, ukrainisch Lwiw, stammende Wirtschaftswissenschaftler hatte schon zu Zeiten der Perestroika Wirtschaftsreformen konzipiert. Er wurde 1989 in den Ministerrat der Sowjetunion berufen, arbeitete ein Programm der „500 Tage“ des Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft aus, das jedoch im Obersten Sowjet der UdSSR scheiterte. Ähnlich erging es ihm mit einem weiteren Programm, das er 1991 für Jelzin entwarf, ohne dass jener es annahm. Jawlinski trat deshalb aus der Regierung aus. Er blieb auch in den 1990er-Jahren auf Distanz zu den Wirtschaftsliberalen wie Tschubais, denen er Korruption und eine allzu große Nähe zu den neuen Superreichen, den Oligarchen, vorwarf. Einen Zusammenschluss mit den anderen Reformern lehnte Jawlinski ab, da er eine liberale Politik mit der Betonung der sozialen Aspekte vertrete. Ihm wurde deshalb immer wieder vorgeworfen, die demokratische Opposition zu spalten. Jawlinski kandidierte bei den Präsidentschaftswahlen 1996 und 2000 – er erhielt 7,4 und 5,8 Prozent der Wählerstimmen.

 

Gespalten und machtlos

Die Uneinigkeit der Reformer war von Anfang an eines ihrer herausragenden Merkmale – und ist bis heute ein Markenzeichen der demokratischen Opposition in Russland geblieben. Jawlinski führte seit 1993 die sozialliberale Partei Jabloko („Apfel“) an. Sie erreichte besonders in der Mittelschicht der großen Städte, unter Intellektuellen und jungen Leuten hohe Zustimmung. Bei den ersten Wahlen zur Duma, dem russischen Parlament, erhielt sie 1993 knapp acht Prozent der Stimmen, bei den folgenden 1995 sieben Prozent, 1999 noch sechs Prozent. Mit dem Amtsantritt Wladimir Putins im Jahr 2000 sank der politische Einfluss der Reformer zusehends. Der Zugang zu den Massenmedien wurde für sie immer stärker eingeschränkt, zudem wurden die Wahlen zugunsten der Kreml-Partei manipuliert. Jabloko verfehlte so 2003 die Fünf-Prozent-Hürde mit 4,3 Prozent, ebenso bei der Duma-Wahl 2007. Jawlinski trat als Parteivorsitzender zurück. Nur bei regionalen Wahlen, etwa in Sankt Petersburg, gelang der Partei noch der Sprung ins Parlament.

Nemzow gründete zusammen mit Tschubais und anderen Reformern wie Irina Chakamada und Sergei Kirijenko 1999 die „Union der rechten Kräfte“, wobei der Begriff „rechts“ im russischen Kontext für wirtschaftsliberal steht. Sie erreichte bei der Duma-Wahl 1999 noch 8,6 Prozent der Stimmen. Die Partei verlor jedoch zusehends an Einfluss, was auch an der inneren Zerstrittenheit lag. Während Nemzow immer deutlicher den Kurs Putins als antidemokratisch kritisierte, vertrat der Mitvorsitzende Tschubais eine Pro-Putin-Linie. Das Profil der Partei blieb damit unklar. 2003 scheiterte sie bei der Duma-Wahl mit vier Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde.

Es ist jedoch wahrscheinlich, dass dieses Ergebnis manipuliert wurde, um die demokratischen Parteien aus der Duma herauszuhalten. Tschubais, Nemzow und Gaidar traten vom Parteivorsitz zurück. Für eine demokratische Opposition war in der Duma der Putin-Ära kein Platz mehr – die Duma ist seitdem nur noch dazu da, die Entscheidungen des Kremls abzusegnen.

 

Putin und der KGB

Putin trennte sich nach und nach von den Reformern der Jelzin-Zeit. Er brachte stattdessen seine eigenen Reformer aus Sankt Petersburg mit. Das waren vor allem Finanzminister Alexei Kudrin und der Wirtschafts- und Handelsminister German Gref. Zunächst stützte sich Putin auf zwei Flügel. Der eine Flügel bestand aus seinen alten Gefährten aus dem Geheimdienst KGB, der andere aus Wirtschaftsliberalen, die den ökonomischen Kurs bestimmten. Doch der Einfluss der Liberalen sank. Putin setzte immer mehr auf die Leute aus den Geheimdiensten und dem Militär. Kudrin, der liberalste Politiker unter den Vertrauten Putins, verließ im September 2011 die Regierung. Der Einfluss der Liberalen verschwand fast völlig, nachdem Putin in Reaktion auf die Straßenproteste des Winters 2011/12 gegen die Fälschungen bei der Duma-Wahl einen harten reaktionären innenpolitischen Kurs eingeschlagen hatte. Ganz verschwunden sind die Liberalen aber nicht: Kudrin, der 2011/12 auch an Demonstrationen der Opposition teilnahm, wurde 2015 zum Vizechef des Wirtschaftsrats beim Präsidenten berufen, übernahm also eine Beratertätigkeit. Im Zuge der Proteste von 2011/12 tauchten neue Gesichter der Opposition auf, die die alte Garde der Liberalen in den Schatten stellte. Der bekannteste ist der Blogger Alexei Nawalni, der vor allem durch die Aufdeckung von Korruptionsfällen unter Spitzenpolitikern und Spitzenbeamten von sich reden macht.

Die Zeit der Reformen in den 1990er-Jahren ist vielen Russen als Zeit des Überlebenskampfes in Erinnerung. Die Auflösung aller gewohnten Bindungen brachte zwar intellektuelle Freiheit – jedoch ebenso für die Mehrheit der Russen Armut, Arbeitslosigkeit und Ungewissheit, für eine Minderheit hingegen zügellose Bereicherung und ungebremsten Luxus. Putin kam in einem Moment an die Macht, als die Sehnsucht nach einem starken Staat, einem Stopp des Verfalls und nach wirtschaftlichem Aufstieg für breite Bevölkerungsschichten ihren Höhepunkt erreicht hatte. Die Reformer der 1990er-Jahre wurden für die Wirren dieser Zeit verantwortlich gemacht. Ihre historische Leistung war es, den Kommunismus als politisches und wirtschaftliches System endgültig zerschlagen zu haben. Doch die Begleiterscheinungen dieses Prozesses waren mit ungeheuren Verwerfungen verbunden, zu denen auch der Aufstieg der Oligarchen gehörte. In den Augen der Mehrheit der russischen Bevölkerung haben die Reformer sich deshalb diskreditiert.

Wenn sie noch in der Regierungspolitik aktiv sind, so sind sie heute eher Technokraten denn politische Liberale. Ein ehemaliger Reformer, Sergei Kirijenko, der seit 2005 Direktor der Föderalen Agentur für Atomenergie (Rosatom) war, wurde Anfang Oktober 2016 zum neuen stellvertretenden Stabschef Putins im Kreml ernannt. Ein politischer Kurswechsel war damit aber nicht verbunden.

 

Tod an der Moskwa

Das Engagement einiger Reformer in der Opposition gegen Putin blieb nicht ohne drastische Folgen. Jegor Gaidar, der Vater der Wirtschaftsreformen in den 1990er-Jahren, brach 2006 auf einer Konferenz in Dublin zusammen. Er äußerte später die Vermutung, vergiftet worden zu sein. Mehrere russische Oppositionelle erlebten Ähnliches; zuletzt wurde 2015 der Weggefährte von Boris Nemzow, Wladimir Kara-Mursa, vergiftet und überlebte mit Glück. Gaidar starb 2009 in Moskau im Alter von 53 Jahren an einem Herzinfarkt. Grigori Jawlinski, heute 64, kehrte 2016 überraschend auf die politische Bühne zurück – wieder als Vorsitzender seiner Partei Jabloko. Bei den Duma-Wahlen konnte die Partei in Moskau und Sankt Petersburg bis zu zehn Prozent der Stimmen holen – landesweit aber blieb sie nahezu bedeutungslos und kam nur auf zwei Prozent der Stimmen. Im Vorfeld der Duma-Wahl hatte es die demokratische und liberale Opposition einmal mehr nicht vermocht, eine Koalition zu bilden. Der Kreml trug seinen Teil mit bewährten Methoden dazu bei, dass es nicht dazu kam. So zeigte der Staatssender NTW ein heimlich gedrehtes Video, das den umstrittenen Oppositionspolitiker und früheren Ministerpräsidenten Michail Kasjanow zeigte, wie er mit einer Parteifreundin im Bett über die Führer der anderen Oppositionsparteien herzog.

Den politisch klarsten Weg unter den Reformern der Jelzin-Zeit ging Boris Nemzow. Er stellte sich in entschiedene Opposition zu Putin. Bei Demonstrationen gegen Putin wurde er ab 2007 mehrfach vorübergehend festgenommen. Nemzow unterstützte 2014 die Maidan-Bewegung in der Ukraine und kritisierte den von Russland unterstützten Krieg der Separatisten im Osten des Nachbarlandes. Er beriet auch die amerikanische Regierung bei der Erstellung der Sanktionslisten gegen Personen im Umfeld von Präsident Putin. Auf Moskaus Straßen wurde er dafür öffentlich auf Großplakaten als Verräter gebrandmarkt. Am späten Abend des 27. Februar 2015 wurde Nemzow an der Großen Moskwa-Brücke in unmittelbarer Nähe des Kremls erschossen. Noch heute erinnern täglich Blumen, Fotografien und Schautafeln, die von Bürgern an den Tatort gebracht werden, an den Mord. Die Ermittlungen führen in das Umfeld des Tschetschenenführers Ramsan Kadyrow, der sich auf die Loyalität zu Putin stützt. Die russischen Reformer der 1990er-Jahre sind heute entweder angepasst, diskreditiert, marginalisiert – oder aber tot.

 

Markus Wehner, geboren 1963 in Fulda, 1999 bis 2004 Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in Moskau, seit 2004 Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ in Berlin.

comment-portlet