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Die Schriftsteller und Europa

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Gibt es nicht bereits während der Frühen Neuzeit einen lebhaften Dialog zwischen Schriftstellern über Europa, seine kulturelle Besonderheit und Identität? Das jedenfalls hat Nicolas Detering 2017 in seiner Studie Krise und Kontinent nachgewiesen. Und denkt man nicht unter Autoren seit der Aufklärung und der Romantik bis in unsere Gegenwart über mögliche staatliche Formen eines politisch geeinten Kontinents nach? Dazu legte ich 1992 mein Buch Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart vor (Piper Verlag, München 1992, 1. Auflage / Nomos Verlag, Baden-Baden 1998, 2. Auflage). Hat nicht schon Victor Hugo in der Mitte des 19. Jahrhunderts die „Vereinigten Staaten von Europa“ gefordert? Fand nicht in den beiden Dekaden nach dem Ersten Weltkrieg – provoziert durch Richard Coudenhove-Kalergis Schrift und Bewegung Pan-Europa – die denkbar lebhafteste Diskussion unter den europäischen Intellektuellen über künftige kontinentale Gemeinschaftsformen statt? Und gab es nicht seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwei Phasen, in denen die Essayisten unter den Schriftstellern mit Elan und Phantasie pro-europäische Stellungnahmen verfassten?

Zu denken ist erstens an die Zeit zwischen 1945 und 1957, also vom Kriegsende bis zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und zweitens an das Jahrzehnt zwischen 1985 und 1995, als die Jalta-Teilung des Kontinents durch eine Wiedervereinigung Europas abgelöst wurde. Nach 1945 publizierten Autoren wie Ernst Jünger, T. S. Eliot, Alfred Andersch, Hans Werner Richter, Frank Thiess und Werner Bergengruen, Klaus Mann und Jean-Paul Sartre Essays, in denen die politische und kulturelle Zukunft des Kontinents so lebhaft wie kontrovers diskutiert wurde.

Diese Schriftsteller sprachen nicht ins Leere, wie der Haager Europa-Kongress im Mai 1948 zeigte. Dieser reagierte auf die Begeisterung in Teilen der westeuropäischen Jugend für das Projekt einer Einigung des Kontinents. Es war eine privat initiierte, unter der Schirmherrschaft von Winston Churchill organisierte Tagung, bei der in der damaligen niederländischen Hauptstadt Möglichkeiten einer kulturellen europäischen Kooperation, eines europäischen Staatenbundes, sogar einer Föderation Europas diskutiert wurden. Zu ihren Teilnehmern zählten unter anderem Hendrik Brugmans, François Mitterand, Konrad Adenauer, Walter Hallstein und Altiero Spinelli, die sich bald darauf für die europäische Integration engagierten. Zwei Jahre später verlieh die Stadt Aachen erstmals den Internationalen Karlspreis; gleich zu Anfang an den Vordenker eines föderierten Europa, an den Schriftsteller und Privatgelehrten Richard Coudenhove-Kalergi. Nach ihm erhielten alle Gründungsväter der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft den Karlspreis.

Chance einer Neuordnung

Die zweite Phase eines intensiven literarischen Diskurses um die Zukunft Europas fiel in die Jahre um 1990. Aus der mittel- und osteuropäischen Dissidentenbewegung heraus entwickelte sich ein internationales Gespräch über die Rolle eines nicht mehr durch zwei antagonistische Großmächte geteilten Kontinents. Entscheidende Impulse lieferten Autoren wie Milan Kundera, Václav Havel, György Konrád und György Dalos sowie Vertreter der polnischen Solidarność-Bewegung. Zu Wort meldeten sich auch Österreicher wie Manès Sperber, Italiener wie Claudio Magris und Schriftsteller aus der alten Bundesrepublik wie Peter Schneider, Hans Christoph Buch und Hans Magnus Enzensberger. Heute liegt 1989 bereits drei Jahrzehnte zurück und zu überlegen ist, ob man die Chance einer kontinentalen Neuordnung genutzt hat. Noch 1988 glaubten die meisten, dass sie ein Ende der Jalta-Teilung nicht erleben würden, und heute ist man nur selten geneigt, über den Status quo der Europäischen Union (EU) hinauszudenken. Brexit und der Europaverdruss – nicht nur in Ländern wie Griechenland und Italien, Polen und Ungarn – zwingen einen jedoch, die Politik in Brüssel zu überdenken.

Fehlende fundamentale Debatte

Anders als nach 1945 und in den Jahren vor 1990 lassen sich die Essayisten unter den Autoren heute kaum auf eine öffentliche Grundsatzdebatte über Europa ein. Hängt das in Deutschland vielleicht mit dem schwierigen innerdeutschen Integrationsprozess zusammen? In vielerlei Hinsicht sind sich das ehemalige Ost- und das frühere West-Deutschland fremd geblieben, und so ist das Land, was Fragen der Einheit und der Identität betrifft, nach wie vor stark mit sich selbst beschäftigt. Und ist die Bundesrepublik nicht längst ein sogenannter „global player“ geworden, in dem die wirtschaftlichen wie medialen, die wissenschaftlichen wie touristischen Kontakte weit über die europäischen Grenzen hinausreichen? Hinzu kommen Flüchtlingswellen aus dem Nahen Osten und Afrika, die das wohlhabendste und bevölkerungsreichste Land der Europäischen Union besonders betreffen.

Die Medien, die politische Klasse und die EU-Forschung sind heute in Deutschland nur selten bereit, eine fundamentale Debatte über die EU zu beginnen. Zu den Gründungsmitgliedern der neuen Gruppe „Arbeit an Europa“ gehören deutsche Schriftstellerinnen wie Nora Bossong und Autoren wie Simon Strauß. In ihr werden zwar viele kulturelle und gesellschaftliche Fragen angeschnitten, aber die politische Form der Europäischen Union wird bisher nicht diskutiert. Das ist nicht anders in dem neuen und wichtigen Buch Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte von Aleida Assmann (C. H. Beck Verlag, München 2018), in dem es um die Menschenrechte in Europa geht, um Friedenssicherung und Demokratie, um eine deutsche und eine europäische Erinnerungskultur und um das koloniale Erbe Europas Hier wird zwar die Gefahr einer Auflösung der EU-Konföderation erwähnt, aber die Zukunftsfähigkeit einer europäischen Föderation nicht diskutiert.

Regionen ersetzen die Nationen

Ist es ein Zufall, dass ein österreichischer Schriftsteller – Robert Menasse – die radikalsten Fragen stellt zu den Themen der Legitimität, Demokratie, Effizienz und Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union? Aber warum hat Menasse kein Interesse an dem, was seine Zunftgenossen in den letzten 200 Jahren zum Thema einer europäischen Föderation geschrieben haben? Warum diese fast autistische Abstinenz in Sachen des literarischen Europa-Diskurses?

Robert Menasse startete 2010 mit einem in der Zeit veröffentlichten Essay zur Krise der EU eine Reihe von Publikationen, die eine Revision seiner ehemaligen Skepsis gegenüber der EU-Kommission belegt. In Zeitungs-, Radio- und Fernsehinterviews sowie in zwei Essaybänden (Der Europäische Landbote von 2012 und Heimat ist die schönste Utopie von 2014) sowie einem Manifest und einer Rede vor dem Europa-Parlament von 2017) hat er die Effizienz der Kommissionsbeamten gelobt. Er hatte sich, weil er den Roman Die Hauptstadt (2017) – ein Buch über das Europa-Brüssel – schreiben wollte, zu einem längeren Aufenthalt in die EU-Metropole begeben und dort mit leitenden Beamten verschiedener Generaldirektionen der Kommission gesprochen. Seine Europa-Thesen überschneiden sich zum Teil mit jenen der Politologin Ulrike Guérot, wie sie in ihren Büchern Warum Europa eine Republik werden muss (2016) und Der neue Bürgerkrieg (2017) zu finden sind.

Ähnlich wie Guérot fordert Menasse, dass die Nationen, das heißt die Nationalstaaten, abgeschafft werden sollten. Europa müsse durch die Brüsseler Kommission im Einvernehmen mit dem Europäischen Parlament regiert werden. In diesem Parlament sollten aber nicht die Abgeordneten der europäischen Nationen zusammenkommen, sondern die Vertreter der europäischen Regionen. Menasses primäres Hassobjekt ist der Europäische Rat, die Gruppe der Regierungschefs der Nationalstaaten. Europa könne politisch kein Eigengewicht und keine eigene Form finden, solange die Vertreter der Nationalstaaten die Politik der Union bestimmen. Er fordert die Abschaffung der Nationen und deren Ersetzung durch die Regionen. Dabei beruft er sich auf die Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaften, besonders auf Jean Monnet, den ersten Chef der Hohen Behörde der Montanunion, und auf Walter Hallstein, den ersten Kommissionspräsidenten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

Was sagen die Altvorderen?

Will man sich in Erinnerung rufen, was die Gründungsväter über die Finalität der Europäischen Gemeinschaft dachten, muss man sich zum einen ihre Memoiren, zum anderen ihre Reden anschauen, die sie in Aachen bei der Verleihung des Karlspreises hielten. Während der elf Jahre zwischen 1950 und 1961 erhielten alle Gründungsväter von Montanunion und EWG den Preis: Alcide De Gasperi, Jean Monnet, Konrad Adenauer, Paul-Henri Spaak, Robert Schuman, Joseph Bech und Walter Hallstein. Wird irgendwo in ihren Reden und Schriften die These Menasses über die Abschaffung der Nationen bestätigt? Oder outeten sie sich dort als europäische Regionalisten? Keineswegs!

Monnet freute sich 1953 in seiner Karlspreisrede darüber, dass die an der Union beteiligten Nationen einen Teil ihrer Souveränität auf die Hohe Behörde übertragen hatten. So sehr er sich gegen den fatalen Nationalismus der Einzelstaaten im Europa der Vergangenheit aussprach, so sehr setzte er die Hoffnung auf eine neue Kooperation der Nationen in der Gegenwart. Während Menasse nichts von den „Vereinigten Staaten von Europa“ wissen will, widmete Monnet seinem Lebensziel der „Vereinigten Staaten von Europa“ ein ganzes Kapitel in seinem Erinnerungsbuch. Dort berichtet er ausführlich über das von ihm 1955 eingerichtete und 1975 aufgelöste „Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa“. In dieser europäischen Union sollten die Einzelnationen nicht wie in einem zentralistisch organisierten Machtgefüge abgeschafft werden, sondern als Teile eines Bundes mit abgestimmten Kompetenzen existieren.

Monnet löste sein Aktionskomitee nach zwanzig Jahren auf, weil er der Überzeugung war, dass der Europäische Rat die Arbeit des Komitees fortsetzen werde. Monnet war Realist genug, um zu wissen, dass der europäischen Föderation (dem Bundesstaat) zunächst einmal eine kontinentale Konföderation (ein Staatenbund) vorausgehen werde. Aber sein Ziel blieb eine Föderation der europäischen Nationen. Es ging ihm nicht um eine Abschaffung der Nationen, sondern um ihr Aufgehen in einem Staatsganzen, das mit der Schweiz, den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland zu vergleichen wäre.

Stagnierende oder rückläufige Integration

Ähnlich war die Situation bei Walter Hallstein, der 1961 den Karlspreis entgegennehmen konnte. Hallstein zitierte zustimmend in seiner Ansprache Churchills Züricher Rede von 1946 über „eine Art von Vereinigten Staaten von Europa“. Ingrid Piela zeigt in ihrem Buch über Hallstein von 2012, dass auch dieser deutsche Zeit- und Gesinnungsgenosse von Monnet in den Kategorien von Konföderation und Föderation dachte, wenn es um das künftige Europa ging. Es war kein Zufall, dass Hallstein seinem letzten Buch, das 1969 erschien, den Titel Der unvollendete Bundesstaat gab. Piela betont, dass es Hallstein letztlich um die Schaffung eines Bundesstaates, um die „Vereinigten Staaten Westeuropas“, und nicht um die Errichtung eines europäischen Einheitsstaates gegangen sei. Das Eigenständige des Nationalen in dieser Föderation habe er auf keinen Fall abgeschafft sehen wollen. Menasse muss, was die Pläne von Monnet und Hallstein und der Gründungsväter allgemein betrifft, etwas fundamental missverstanden haben. Natürlich haben die Altvorderen der EWG auch im Sinne der Subsidiarität den Regionen ihr Recht zugestanden, aber keineswegs auf Kosten der Nationen. Von der These, dass die Regionen die Rolle der Nationen in einer Europa-Föderation übernehmen sollten, ist bei diesen Politikern nichts zu finden.

Man kann von den Gründungsvätern durchaus etwas über zukunftsfähige Europa-Modelle lernen, denn die Frage von Staatenbund und Bundesstaat ist bis heute bei den Entscheidungsträgern der EU – der Kommission, dem Parlament und dem Europäischen Rat – ungelöst. Monnet setzte (als Mann der Wirtschaft) auf praktische Integration und glaubte, dass immer weitere Bereiche von ihr erfasst werden würden: über das Wirtschaftliche hinaus auch das Politische, Juristische und Militärische. Hallstein dagegen vertrat (als Jurist) die Meinung, dass auf dem Weg zur Gründung der europäischen Föderation eine Verfassung geschaffen werden müsse, die die Zielvorgaben des Integrationsprozesses enthalten würde.

Heute stagniert die Integration oder ist sogar rückläufig, und der Versuch, den Weg zum Bundesstaat mithilfe einer Verfassung zu beschleunigen, ist vorläufig gescheitert. Der europäische Lernprozess ist noch im Gange. Es braucht wohl noch Zeit, bis sich die alte Einsicht der Gründungsväter durchsetzt, dass auch die Nationen durch die Schaffung einer europäischen Bundesrepublik besser überleben können als in einer unhappy isolation, in der sie als Einzelstaaten mit ihren Regionen und Kommunen anderen Großmächten politischer, militärischer und wirtschaftlicher Art ausgeliefert sind.

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