Beginnen wir mit den Betrachtungen zu Unmut und Utopie auf dem Marktplatz im brandenburgischen Elsterwerda. Es ist der 13. September 2004. Ungefähr 400 Menschen haben sich zu einer Demonstration gegen die sogenannte „Hartz-IV-Gesetzgebung“ versammelt. Ich stehe als Ethnologin mittendrin und betreibe Feldforschung für mein Dissertationsprojekt über die Kultur des Unmuts im Süden Brandenburgs.
Ein Mann tritt ans Mikrophon: „Ich möchte mal kurz zu ihnen sprechen. … Wir Bürger ham nu jetzt praktisch zwei Möglichkeiten, um gegen dieses Gesetz vorzugehen. Punkt eins is, diese Demonstration in Massendemonstrationen ausarten zu lassen. Das muss Deutschland erfassen wie ein Flächenbrand. … Und die zweite Möglichkeit is, dass wir die Wahl, die jetzt kommt, nutzen, um denen da oben eine Lehre zu erteilen. Was dann jeder wählt, ob ganz rechts oder links, das muss jeder selber für sich entscheiden. … Und diese Regierung muss sich mal eins merken: Das Volk kann sich ne neue Regierung suchen, aber die Regierung nicht ein neues Volk.“
Wie wir wissen, entwickelten sich die „Hartz-IV“-Proteste nicht zu einem „Flächenbrand“. Was blieb, war die langfristigere Artikulation des Unmuts in der Wahlkabine.
Der Ton wurde im Laufe der Demonstration aggressiver. Zwischenrufer kommentierten die Redebeiträge. Bürger U: „Auf die Schnauze!“ Bürger V: „So korrupt, das System.“ Rednerin: „Schröder hat gesagt, keinem soll es schlechter gehen.“ Bürger V: „Hat Kohl auch schon gesagt, raus die Hunde! Verbrecher müssen verschwinden. Das is Kapitalismus, pure Ausbeutung. Die Bonzen sollen zu Fuß gehen und dann mit der Peitsche jagen, das Gesindel, die Lumpenhunde.“
Ich redete mit den Männern, die hier ihre Wut herausschrien. Sie erzählten mir bereitwillig von ihren Arbeitslosenbiographien, von vergeblichen Bewerbungen und davon, dass sie sich überflüssig fühlen in diesem Land, das nicht ihres sei.1 Die Kundgebung hinterließ in mir Beklommenheit. Was hier auf einer öffentlich angemeldeten Demonstration ohne Eingreifen der Veranstalter (Arbeitslosen-Service und ver.di) geäußert wurde, war zwar reich an Daten, bereitete mir aber große Sorgen. Vielleicht hoffte man, bei den Demonstrationen könnten die Menschen einmal Dampf ablassen und würden sich dann wieder beruhigen. Doch sensibilisiert durch die Unmutsforschung, wusste ich um die performative Kraft der Sprache und fürchtete die Handlungen, die sie bewirkt. Judith Butler schreibt: „Wir tun Dinge mit der Sprache, rufen mit der Sprache Effekte hervor, und wir tun der Sprache Dinge an; doch zugleich ist Sprache selbst etwas, was wir tun.“2
Es ging in der Ethnographie des Unmuts nicht nur um das Schimpfen von „Hartz-IV“-Empfängern. Auch Chefärzte, Angestellte, Selbstständige oder Rentner schimpften über die Zumutungen der Transformation. Ziel meiner Forschung war es, ihren Unmut und die Welt, die er erschafft, zu verstehen. Was, so fragte ich am Ende der Arbeit, passiert, wenn sie nicht erhört werden?
„Das fünfte Rad am Wagen“
Zehn Jahre nach den Hartz-IV-Demonstrationen erfuhr der Unmut durch Pegida den großen Auftritt und fand in der Alternative für Deutschland (AfD) Wortführer, die nun meinten, stellvertretend für die Unmutigen das Sprechen übernehmen zu können. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass man über den Unmut das „Leiden an der Gesellschaft“ (Pierre Bourdieu) ergründen sollte. Doch in den letzten Jahren ist es meines Erachtens schwieriger geworden, aus den zu Parolen gewordenen Unmuts-Artikulationen eine wirklich selbstständige, kritische Haltung herauszuhören. Die Sprache des Unmuts kann durchaus kreativ sein und damit einen persönlichen Zugang zur Welt der Schimpfenden ermöglichen, solange sie nicht zu Formeln erstarrt ist. Dann wird der Zugang zum persönlichen Leiden schwierig. Wir erleben, dass der Unmutige nicht mehr selbstständig denkt3 und schimpft, sondern sich denken und schimpfen lässt.
Wie soll man ihn hinter dieser Sprachbarriere verstehen und erreichen?
Doch auch das eigene Sprechen sollte kritisch hinterfragt werden. Denn es sind ja nicht nur extremistische Gruppierungen, die sich einer formelhaften Sprache bedienen. Damit ist nicht gemeint, dass komplizierte politische Zusammenhänge vereinfachend dargestellt werden sollten, sondern dass die Strukturen, in denen politische Entscheidungen getroffen werden, oftmals undurchsichtig sind. Bourdieu ermittelt die Ursache für eine Politik, die den Kontakt zu den Menschen verliert, nicht in der „Komplexität der Sprache“, sondern in der „Komplexität der für das politische Feld konstitutiven sozialen Beziehungen“.4
Dass die Bürger sich weit entfernt vom politischen Feld – einem nicht völlig abgegrenzten, aber in sich geschlossenen Mikrokosmos, in dem um die Bewahrung oder Veränderung der Struktur der Kräfteverhältnisse gekämpft wird – fühlen, belegen Aussagen, die ich im Rahmen ethnographischer Studien sammelte: „Potsdam ist ganz weit weg“, „Für Potsdam spielt der Kreis kaum eine Rolle“, erklärten mir Verwaltungsmitarbeiter des Elbe-ElsterKreises. „Thüringen hört für Erfurt am Hermsdorfer Kreuz auf“, „Die Gegend ist von der Politik irgendwie vergessen, und Gößnitz will auch keiner haben. Wir sind das fünfte Rad am Wagen“, erklärten mir Gößnitzer Bürger.5 Auch das Reden von „denen da oben“, vom „kleinen Mann“, vom „Rand und von der Mitte der Gesellschaft“, von „bottom up“ und „top down“ geben eindrücklich Aufschluss über Gesellschaftsmodelle, die die politische Wahrnehmung bestimmen und hinterfragt werden sollten, wollen wir uns wirklich gegenseitig zuhören und miteinander reden, wie man es angesichts gegenwärtiger gesellschaftlicher Spannungen oftmals fordert.
Dabei kann es hilfreich sein, vorerst die Lebenswelt der Bürger aus der lernenden Perspektive heraus zu erkunden – ein wahrhaft ethnographisches Anliegen. Aus dieser Haltung heraus ergeben sich durchaus erstaunliche Erkenntnisse. So fuhr ich im Herbst 2018 mit den typischen Vorurteilen von einer schrumpfenden Kleinstadt in der ostdeutschen Provinz nach Gößnitz und kam zurück mit beeindruckenden Firmen- und Gründungsgeschichten, Berufs- und Arbeitslosenbiographien.
Kulturen des Mutes
Lebensgeschichtliche Interviews führen mir immer wieder vor Augen, wie oft sich die Menschen in den Jahren seit der Friedlichen Revolution neu erfinden mussten. Dieser Generation – ich empfinde sie in gewisser Weise als erschöpft – ist vor allem daran gelegen, das Erreichte zu bewahren. Ihr Pragmatismus ist sicherlich auch den Debatten zum demografischen Wandel in vielen Gegenden Ostdeutschlands und den finanziellen Engpässen in den Kommunen geschuldet, befördert aber nicht gerade die Entwicklung von Zukunftsutopien. Das bringen Sätze wie diese zum Ausdruck: „Wer weiß, wie lange es das noch gibt“ oder „Wenn alles so bleibt wie es ist, wären wir schon zufrieden.“ Derartige Aussagen hörte ich während der Forschung in Ostthüringen,6 bei ethnographischen Erkundungen zur Bedeutung von Kirche in ländlichen Räumen Sachsens oder zu Heimatstuben in Vorpommern.7 Dem gegenüber steht der Wunsch einer zahlenmäßig sehr viel geringeren jungen Generation nach einem Plan für die Zukunft ihrer Städte und Dörfer, einer Generation, die „gestalten und nicht nur verwalten“ will, so wie es mir ein junger Unternehmer in Gößnitz sagte.8 Es fehlt eine motivierende Utopie.
Ein Zugang zur Utopie ergibt sich aus dem Unmut. Denn er entsteht da, wo sich die Erwartungen an die Welt nicht mit den Erfahrungen decken. Man kann aus ihm die unerfüllten Sehnsüchte nach einem Leben in guter Ordnung herauslesen.9
Dafür gilt es, ihn von Floskeln und Parolen zu befreien, ernst zu nehmen und daraus eine Utopie zu entwickeln, die unserer demokratischen Gesellschaftsordnung entspricht. Das sollte sehr konkret in den Dörfern und Städten beginnen. Denn die ethnographischen Fallstudien belegen, dass die Menschen ausgehend von ihrer direkt erfahrenen Lebenswelt den Zustand des Landes beurteilen. Dort, in den Kommunen, wo der Alltag stattfindet, können die Kulturen des Mutes entdeckt, gefördert und neu erschaffen werden.
Juliane Stückrad, geboren 1975 in Eisenach, Seminar für Volkskunde/Kulturgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
1 Juliane Stückrad: „Ich schimpfe nicht, ich sage nur die Wahrheit“. Eine Ethnographie des Unmuts am Beispiel der Bewohner des Elbe-Elster-Kreises/ Brandenburg, Kiel 2010.
2 Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2014, S. 19.
3 Dietrich Bonhoeffer: „Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943: Nach zehn Jahren. Von der Dummheit“, in: Christian Gremmels / Wolfgang Huber (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer Auswahl, Gütersloh 2006, Bd. 4, S. 218–220.
4 Pierre Bourdieu: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 88.
5 Juliane Stückrad: „Die Perspektive der Stadt ist ja eigentlich die Perspektive der Menschen“. Eine ethnografische Studie zur Stimmungslage in Gößnitz, hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen, Erfurt 2020a, S. 17 (in Druck).
6 Stückrad 2020a, S. 73.
7 Juliane Stückrad: Verantwortung, Tradition, Entfremdung. Zur Bedeutung von Kirche im ländlichen Raum. Eine ethnographische Studie in drei Dörfern im Gebiet des Regionalkirchenamtes Leipzig, Kohrener Schriften 2, Kohren-Sahlis, Großpösna 2017; Juliane Stückrad: Heimatstuben in der Region Uecker-Randow. Kommunale Aufgaben und zivilgesellschaftliche Potentiale. Eine ethnographische Studie zu sieben Fallbeispielen, hrsg. vom Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben, 2020b (Manuskript, in Druck).
8 Stückrad 2020a, S. 26.
9 „Der Traum von der schönen und richtigen Ordnung als der vom goldenen Zeitalter begleitet die Menschen“, aus Christel Köhle-Hezinger: „Das Schöne in der Ordnung. Oder: Neue Ordnung, neue Fragen?“, in: Silke Götsch / Christel Köhle-Hezinger: Komplexe Welt. Kulturelle Ordnungssysteme als Orientierung, Münster 2003, S. 78.