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Was Deutschland aus der integrationspolitischen Debatte in Frankreich lernen kann

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„Sobald jemand Franzose wird, sind die Gallier seine Vorfahren.“ Mit dieser Aussage sorgte der ehemalige französische Präsident und inzwischen ausgeschiedene Kandidat für die französische Präsidentschaftswahl 2017, Nicolas Sarkozy, in einer Ansprache im September 2016 für Kontroversen (www.lefigaro.fr/flash-actu/2016/09/19/97001-20160919FILWWW00356-des-que-l-on-devient-francais-nos-ancetres-sont-gaulois-sarkozy.php [15.11.2016]). Dem Vorwurf ausgesetzt, seinen Wahlkampf zu „trumpisieren“ (www.lci.fr/primaire-droite/polemique-sur-les-gaulois-les-propos-de-nicolas-sarkozyn-etaient-pas-prevus-selon-son-equipe-2005135.html [14.11.2016]) und die Integrationsdebatte zu einem neuen Tiefpunkt geführt zu haben, dämpfte der ehemalige Präsident seine Aussage. Er habe sich nicht auf Abstammung, sondern auf das Zugehörigkeitsgefühl zur gemeinsamen nationalen Geschichte bezogen.

Unabhängig von schrägen Tönen wie diesen genießt die französische Integrationspolitik in Deutschland keinen guten Ruf. Ob das Attentat von Toulouse durch Mohamed Merah, die Anschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt im Januar 2015, die Selbstmordanschläge am Stade de France, das Massaker im Bataclan am 13. November 2015 oder der Anschlag in Nizza am 14. Juli 2016, die Hinrichtung des Priesters Jacques Hamel in einer Kirche in Saint-Étienne-du-Rouvray: Allesamt wirken sie wie traurige, doch irgendwie zwangsläufige Resultate einer gescheiterten Integrationspolitik.

Dabei hat sich Frankreich lange als Vorbild in Sachen Integration betrachtet. Entsprechend positiv äußerte sich noch vor wenigen Jahren der Hohe Integrationsrat (Haut Conseil à l’Intégration), wonach, „wenn auch oft kritisiert, […] das französische Integrationsmodell tagtäglich [zeigt], dass die Integration in Frankreich funktioniert!“ Überdurchschnittlich gute Werte erreicht Frankreich den Zahlen des Europäischen Integrationsindexes MIPEX zufolge sogar beim Indikator der „Diskriminierungsbekämpfung“, auf dem es mit 77 Punkten noch vor Deutschland (58 Punkte) liegt.

 

Einwanderungswellen seit dem 19. Jahrhundert

Aufbauend auf einer langen Einwanderungsgeschichte, die im Gegensatz zu Deutschland bis weit in das 19. Jahrhundert zurückreicht, unterscheidet sich Frankreich auch durch die Heterogenität und in der Altersstruktur seiner Einwanderer. Mehrere Einwanderungswellen haben das Land seit dem 19. Jahrhundert geprägt und eine im europäischen Vergleich heterogenere und ältere Einwanderungslandschaft hervorgebracht. Die vor den 1970er-Jahren eindeutig europäisch dominierte Einwanderung aus Italien, Spanien und Portugal wurde in den letzten Jahrzehnten von einer verstärkt aus dem Raum der ehemaligen französischen Kolonien stammenden nordafrikanischen und asiatischen Einwanderung überholt. Insgesamt unterscheidet sich Frankreich bezüglich des Einwandereranteils im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung jedoch nur wenig von seinen europäischen Nachbarn.

Nur ein Jahr nach dem deutschen Anwerbestopp von 1973 markierte auch Frankreich eine Wende in seiner Einwanderungspolitik, indem es 1974 die Einwanderung ausländischer Arbeiter einschränkte. Auf eine seit Mitte des 19. Jahrhunderts größtenteils männlich geprägte und wirtschaftlich motivierte Einwanderung folgte mit Beginn der 1980er-Jahre der Nachzug von Familien aus den Heimatländern. Der 1974 noch provisorisch ausgesprochene Anwerbestopp wurde seither von keiner Regierung infrage gestellt. Erst 2006 wurde Frankreichs Selbstverständnis, ein Einwanderungsland zu sein, durch den vom Innenminister und späteren Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy lancierten Begriff der immigration choisie, der für eine bewusste, selektive Einwanderung steht, wieder hervorgehoben. Seit 2007 wird Einwanderung ähnlich wie in Deutschland in erster Linie nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ausgerichtet. Staatspräsident François Hollande hat diese Politik nach 2012 nicht infrage gestellt.

 

Selbstverständnis der Nation

So weit wie die Einwanderungsgeschichte Frankreichs zurückreicht, so tief reicht auch das französische Verständnis von Integration, das in den Ideen der Aufklärung vor 1789 wurzelt. Die Integration in die französische Gesellschaft wird als beiderseitige Verpflichtung begriffen. Zum einen verpflichtet sich der Staat zu einer klaren und kompromisslosen Gleichbehandlung seiner Bürger im Sinne des Grundsatzes der „Égalité“; zum anderen verpflichtet sich der Bürger, die Grundprinzipien der Republik zu akzeptieren, ihre Gesetze zu achten und sich ihr zugehörig zu fühlen. Aus Sicht der Republik sind die Bürger, die „Citoyens“, Träger einer gemeinsamen Identität, die sich über das gemeinsame Bekenntnis zu ihren Grundwerten definiert. Den Umgang mit der Religion prägt eine strenge Neutralität des Staates, die mit der gesetzlichen Einführung der „Laizität“ 1905 im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem der fundamentalen Grundprinzipien der französischen Republik avancierte. Daraus erwuchs ein spezifisch französisches Integrationsverständnis, in dessen Zentrum die Identifikation mit dem größeren, republikanischen Ganzen steht. Integration bedeutete somit in erster Linie Einbürgerung.

Erst nach dem Anwerbestopp in den 1970er-Jahren und dem einsetzenden Familiennachzug vieler Frauen und Kinder wurden weitere politische Maßnahmen implementiert. Waren die Hilfen für Einwanderer bis dahin noch auf unterstützende Maßnahmen in den Bereichen Wohnungs- und Arbeitssuche beschränkt, folgten nun breitere integrationspolitische Angebote. Zum wesentlichen Instrument französischer Integrationspolitik avancierte der Sozialfonds FAS (Le Fond d’Action Sociale), dessen Ausrichtung in vielen wesentlichen Punkten (Integration in den Arbeitsmarkt, Ausbildung, Sprache, Kultur und vieles mehr) dem 2006 vorgestellten deutschen „Nationalen Integrationsplan“ ähnelt.

 

Integration als modernes Reizthema

Die Erfahrung der vergangenen Jahre hat allerdings gezeigt, dass dieses integrationspolitische Konzept nicht ohne Weiteres aufgegangen ist. Die Herausbildung gesellschaftlicher Parallelstrukturen in den Vorstädten, deren katastrophale Zustände in den Aufständen vom Herbst 2005 für alle Welt offen zutage getreten sind, hat das französische Integrationsverständnis in seinen Grundfesten erschüttert. Die Frage nach den Ursachen für dieses Scheitern spaltet seitdem die Nation. Die Auffassung, nach der vor allem die Politik für das Scheitern verantwortlich sei, weil sie versäumt habe, sich der eingewanderten Menschen rechtzeitig anzunehmen und Zukunftsperspektiven zu schaffen, hat sich seither über die Grenzen des Landes hinweg etabliert.

Dieses Argument muss allerdings hinterfragt werden. Zum einen bilden die republikanischen Grundprinzipien seit über zwei Jahrhunderten die Grundlage für ein offenes und einladendes Integrationsverständnis, von dem in den letzten 150 Jahren mehrere Millionen Menschen jeglicher Nationalität profitiert haben. Zum anderen fördert die Politik die Integration von Einwanderern mit unzähligen innovativen administrativen Programmen und Mitteln in beträchtlicher Höhe intensiv und kreativ. Aussagen zur Wirkung oder zum Erfolg der seit 1974 aufgelegten Integrationsmaßnahmen sind jedoch schwer zu treffen: Die geförderten Projekte wurden nicht langfristig beobachtet und auch nicht ausreichend evaluiert. Insgesamt liegt der Lebensstandard von Einwanderern nach Aussage des französischen Statistikamtes dreißig Prozent unter dem der einheimischen Bevölkerung. Doch zeigt der messbare Zuwachs des Lebensstandards von der ersten Einwanderergeneration zur Nachfolgegeneration von zwölf Prozent, dass Aufstiegsperspektiven durchaus existieren und Integration in Frankreich alles andere als unmöglich ist.

Ein wesentliches Problem französischer Integrationspolitik sieht der französische Rechnungshof im Mangel an relevanten Indikatoren zur Messung von Integration. Gerade mit Blick auf die auffällige Korrelation zwischen einer verstärkt muslimischen Einwanderung und den Integrationsproblemen ab den 1980er-Jahren erweist sich der Datenmangel als besonders hinderlich. Der politische Wille, eine „Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen oder Wohnviertel zu vermeiden“, hatte ein Informationsdefizit für die öffentliche Verwaltung zur Folge, das sich als „wahres Hindernis für die korrekte Evaluierung“ der Integrationspolitik erwiesen hat. Vor diesem Hintergrund legt der Bericht nahe, die besonderen Umstände der jeweiligen Menschen mit Migrationshintergrund besser zu erfassen, um Integrationsmaßnahmen entsprechend anpassen zu können.

 

Nationale Grundsatzdebatte

Ein weiteres Problem liegt in der „ideologischen“ Orientierungslosigkeit, die die Krise des republikanischen Integrationsverständnisses auf politischer Ebene ausgelöst hat. Integrationspolitische Fragestellungen haben das Feld politischer Auseinandersetzungen über Wohnungsbaumaßnahmen oder arbeitsmarktpolitische Instrumente, wie sie die politische Debatte in Deutschland dominieren, längst verlassen und sind zu Grundsatzfragen nach dem französischen Selbstverständnis, nach republikanischen Prinzipien oder dem Verhältnis der Republik zum Islam mutiert. In dieser Diskussion liebäugeln die Konservativen mit überhöhtem Patriotismus, während die Sozialisten republikanische Grundwerte zugunsten kommunitaristischer Ansätze relativieren. Auf konservativer Seite sorgten die von Präsident Sarkozy angeregten Debatten über eine identité nationale, eine discrimination positive oder eine laïcité positive für Kontroversen. Dies greift der Front National mit neonationalistischen Argumenten auf, die zunehmend verfangen: Das Scheitern der Integration resultiere aus Überfremdung durch Masseneinwanderung und aus mangelndem Einsatz für die nationale, französische Identität. Demgegenüber steht vonseiten der Sozialisten das geläufige Argument, wonach das Scheitern der Integration auf einen strukturellen Rassismus beziehungsweise eine historisch geprägte Islamfeindlichkeit der französischen Gesellschaft zurückzuführen sei, der mit einer höheren Wertschätzung für die Identitäten der Einwanderer begegnet werden müsse. Die Wortwahl des sozialistischen Premierministers Manuel Valls, der so weit ging, von einer „sozialen, ethnischen und territorialen Apartheid“ zu sprechen, sorgte 2015 für Kontroversen. Dabei steht die Aussage im direkten Widerspruch zu dem letzten „Toleranzindikator“ des Hohen Integrationsrats, dem zufolge die Akzeptanz für Menschen anderer Religion, Nationalität oder Kultur in Frankreich „nie höher war“.

Integrationspolitik ist also zu einer nationalen Grundsatzdebatte geworden. Subjektive Identitäten, seien sie „national“, „französisch“, „ethnisch“ oder „religiös“ definiert, verdrängen zunehmend die einst verbindenden republikanischen Grundprinzipien. Fast vergessen scheint dabei die Warnung im Empfehlungsbericht des Hohen Integrationsrats von 2005; darin hieß es, Frankreich solle nicht der Verführung zu erliegen, sich vom republikanischen Ansatz „gleicher Rechte und gleicher Chancen für alle zugunsten von Maßnahmen positiver Diskriminierung sowie ethnisch oder kommunitaristisch ausgerichteter Strategien“ abzukehren.

 

Heterogene Einwanderung

Ebenso wie in Frankreich findet auch in Deutschland zunehmend eine heterogene und sozial durchmischte Einwanderung statt, auf die es nicht vorbereitet war. Auf eine zunächst von Arbeitskräften dominierte Einwanderung folgten verstärkt Familien, Frauen und Kinder, die neue gesellschaftliche Herausforderungen mit sich brachten. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich begann die politische Diskussion zur Integration mit überwiegend strukturellen Fragen. In beiden Fällen reagierte die Politik auf die Situation mit besonderen Integrationsangeboten. Wie zuerst in Frankreich avancieren nun auch in Deutschland Toleranz und Nichtdiskriminierung zu dominanten Themen der öffentlichen Debatte. Parallel zu dieser Entwicklung kam es in beiden Ländern zur Stärkung der nationalistischen Ränder in der politischen Landschaft. So erzielte die einstige Kleinstpartei Front National während der Europawahl 1984 mit elf Prozent der Stimmen ihren ersten politischen Durchbruch und konnte sich in den Folgejahren dauerhaft etablieren. Noch bleibt es abzuwarten, ob der Alternative für Deutschland nach ihrem Einzug in zahlreiche deutsche Landtage eine solche Etablierung gelingen wird.

 

Menschenbild als migrationspolitisches Narrativ

Die Erfahrungen aus Frankreich zeigen, dass Integrationspolitik über rein strukturelle politische Maßnahmen hinausgehen muss. Trotz zahlreicher finanzieller Angebote und eines entschlossenen Kampfes gegen Diskriminierung wurde in Frankreich die Bildung der „Banlieues“ nicht verhindert. Für Deutschland bedeutet dies, den soziokulturellen Hintergrund von Flüchtlingen bei der Integration nicht außer Acht zu lassen. Darüber hinaus hat die Entwicklung der Debatte um die richtige Einwanderungs- und Integrationspolitik in Frankreich offenbart, welche Sprengkraft das Thema entwickeln kann. Für Deutschland bedeutet dies, sich rechtzeitig auf Kontroversen in der Integrationspolitik einzustellen. Dazu empfiehlt es sich, die eigenen Grundprinzipien, maßgeblich das Menschenbild des Grundgesetzes und die sich daraus ableitenden Grundrechte, zu einem soliden und kohärenten integrationspolitischen Narrativ auszubauen. Eine Assimilation an dieses Menschenbild ist dabei unabdingbar, da es die elementare Grundlage für Frieden, Wohlstand und gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland bildet. Dass dieses Menschenbild auch jenem der Gallier, Germanen, Römer oder Westgoten entsprochen hätte, darf hingegen bezweifelt werden.


Benedict Göbel, geboren 1988 in Marburg, Koordinator für Integrationspolitik, Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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