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Wie eine selbstbewusste Wehrhaftigkeit Deutschlands möglich wird

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Die Bundesbürger gelten als die Angsthasen Europas. Nicht umsonst hat es die „German Angst“, also die Charaktereigenschaft übertriebener Sorge und damit verbundener Zögerlichkeit, in den englischen Sprachgebrauch geschafft. Folglich sollte der Bundesrepublik eine vorsorgeorientierte Politik auf den Leib geschneidert sein. Doch ausgerechnet in der Sicherheitspolitik weist das Land die kuriose Form einer „verängstigten Sorglosigkeit“ auf: Immer wieder wird das große, gar nukleare Eskalationsrisiko in der Auseinandersetzung mit Russland beschworen. Erstaunlicherweise fühlen sich viele Deutsche eher durch die Waffenhilfe für Kiew bedroht als durch Moskaus Aggression, und die Politik verharrt in der Sicherheitspolitik beim Prinzip Hoffnung. Angesichts gefährlicher Aussichten für die Zukunft ist eine selbstbewusste Wehrhaftigkeit notwendig, die Deutschland abschreckungs- und verteidigungsfähig macht.

Womit muss die Bundesrepublik weltpolitisch in absehbarer Zeit rechnen? Mit hartem geopolitischem Wettbewerb, in dem Deutschland und Europa eigenständiger werden und mit multiplen Konfliktlagen umgehen müssen. Die Welt befindet sich in einem von machtpolitischen Verschiebungen ermöglichten und von Systemrivalität begründeten Konflikt um die internationale Ordnung. Es geht darum, ob der Westen noch als Regelsetzer der internationalen Politik auftreten kann. Antagonisten wie Russland, China und der Iran wollen die Weltordnung zu ihren Gunsten verändern und finden damit aus verschiedenen Gründen global Anklang. Daneben ändert sich die US-Weltmachtrolle. Es geht nicht um die materiellen Fähigkeiten der USA, die nach wie vor unangefochten sind. Stattdessen verschieben sich ihre Prioritäten, und die innenpolitische Spaltung schlägt auf die Außenpolitik durch. Letztlich ist eine weitere Zunahme von (Gewalt-)Konflikten zu erwarten. In der Ukraine tobt seit Februar 2022 ein massiver Landkrieg. Militär- und Geheimdienstexperten warnen vor russischen Angriffsmöglichkeiten auf die NATO binnen weniger Jahre. Hybrid wird Deutschland ohnehin mit Sabotageakten, Desinformation und im Cyberraum attackiert. Neben den Kriegen in Europa und im Nahen Osten drohen weitere Eskalationen in Asien.

 

Mindset im Friedensmodus

Man sollte meinen, dass Deutschland unter diesen Umständen mit Hochdruck in seine Wehrhaftigkeit und Verteidigungsfähigkeit investieren würde, um der von Russland ausgehenden Bedrohung und den geopolitischen Realitäten in der Welt gerecht zu werden. Schließlich liegt der als Augenöffner verstandene Angriff Moskaus auf die Ukraine vom Februar 2022 beinahe drei Jahre zurück. Gleiches gilt für die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“. Doch während seither in der deutschen Sicherheitspolitik viel passiert ist, wurde letztlich wenig geschafft. Das gesellschaftliche und politische Mindset befindet sich nämlich immer noch im Friedensmodus, obwohl es zur Abschreckung und Einhegung revisionistischer Aggressoren umgepolt werden müsste. Da die mentalen Grundlagen fehlen, hinkt das sicherheitspolitische Handeln den realen Notwendigkeiten weit hinterher.

Die Deutschen werden von vielfältigen Ängsten geplagt. Eine Erhebung der Körber-Stiftung von 2024 ergab, dass 54 Prozent der Befragten überwiegend mit Sorgen (statt mit Zuversicht) auf die Zukunft blicken. Vier Jahre zuvor hatte der Wert zwölf Prozentpunkte niedriger gelegen.1 Der Pessimismus hängt zweifellos auch mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zusammen. Die Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten hat seit jeher und relativ stabil Priorität. Daneben waren Migration, Klimawandel, Kriminalität, soziale Ungleichheit, soziale Absicherung und mehr in den vergangenen Jahren Topthemen. Sorgen um die äußere Sicherheit trieben die meisten Deutschen bis zum Ukraine-Krieg nicht um. Die Furcht vor einem Krieg mit deutscher Beteiligung lag laut einer Langzeitstudie, die Daten von 1992 bis 2024 abbildet, 2021 auf einem historischen Tiefstand.2 Eine andere Studie ergab im gleichen Jahr, dass die größte sicherheitspolitische Sorge (nach vielen zuvor genannten) das globale Wettrüsten war.3 Dass Rüstung zu Krieg führe, ist in Deutschland gedanklich tief verankert, obwohl das Gegenteil der Fall ist: Eine funktionierende Abschreckung sichert den Frieden.

 

Schwäche befördert Eskalation

Die Politik trat dieser Fehldeutung nicht entgegen – sie beförderte sie sogar. Schließlich wurde bis in die 2010er-Jahre hinein eine Friedensdividende eingelöst, was auch deshalb funktionierte, weil die Aushöhlung der Landesund Bündnisverteidigungsfähigkeiten keinen Aufschrei provozierte. Das nach der Annexion der Krim 2014 vereinbarte Zwei-Prozent-Ziel der NATO blieb jahrelang nicht nur unerfüllt, es wurde lächerlich gemacht. Der damalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) bezeichnete es 2017 als „absurde Vorstellung“, weil er gar nicht wisse, „wo wir die ganzen Flugzeugträger hinstellen sollten, die wir kaufen müssten, um 70 Milliarden Euro pro Jahr in die Bundeswehr zu investieren“.4 Mit der Realität hatte das nichts zu tun. Generalleutnant Alfons Mais, Inspekteur des Heeres, attestierte der Bundeswehr und seiner Teilstreitkraft bekanntermaßen im Februar 2022, „mehr oder weniger blank“ zu sein.5 Auch dass Aggression nur durch die Glaubwürdigkeit der Abschreckung verhindert werden könne, wurde auf oberster politischer Ebene kaum kommuniziert. An der verzerrten Bedrohungswahrnehmung änderte es nichts, dass Russland schon seit den späten 2000er-Jahren militärisch aufrüstete und ab 2018 nuklearwaffenfähige Iskander-Kurzstreckenraketen in Kaliningrad stationierte. Defensive NATO-Manöver wurden in der politischen und medialen Öffentlichkeit dennoch immer wieder als „Provokation“ statt als Mittel der Friedenssicherung begriffen. Der Koalitionsvertrag der nun gescheiterten Ampelregierung forderte in diesem Geiste noch 2021 eine Abrüstungsoffensive. Der Überfall auf die Ukraine wirkte zwar wie eine Schocktherapie, doch die Einstellungen zum Wert von militärischer Stärke und Abschreckung scheinen sich nicht grundsätzlich verändert zu haben. Sorgen vor einer Eskalation des Krieges in der Ukraine, einer regionalen Ausweitung oder gar einem Atomkrieg bewegen die deutsche Bevölkerung. Doch die daraus folgende Schlussfolgerung lautet nicht notwendigerweise, dass Deutschland sich ertüchtigen, seinen NATO-Partnern beistehen, die Ukraine unterstützen und Russland gegenübertreten müsse. Stattdessen besteht teils der Irrglaube fort, Schwäche führe zu Deeskalation. Das mag darin begründet liegen, dass selbst 2023, so die Umfrage The Berlin Pulse der Körber-Stiftung, 61 Prozent der Befragten Russland als keine oder nur geringe militärische Gefahr sahen.6 Zugleich wird die ohnehin kontroverse Militärhilfe für die Ukraine immer unbeliebter. Im September 2024 lehnten gemäß einer Ipsos-Umfrage 51 Prozent der Befragten weitere Waffenlieferungen durch Deutschland ab; nur 38 Prozent befürworteten sie. Der Blick auf die Parteien offenbart extreme Unterschiede:7 AfD und BSW haben es geschafft, sich als Friedensparteien zu inszenieren, indem sie ein „Ende der Waffenlieferungen“, einen „Waffenstillstand“ und „Verhandlungslösungen“ in Aussicht stellen. Unausgesprochen bleibt, dass dies keinen Frieden, sondern die Unterwerfung der Ukraine und ein Appeasement gegenüber Russland mit unabsehbaren Folgen bedeuten würde.

Es ist Schwäche, die eine über die Ukraine hinausgehende Eskalation des Krieges wahrscheinlich macht. Allerdings ist das noch nicht in das Bewusstsein eingesickert. Die Zeitenwende scheitert momentan an vielen Fronten. Von der Wählerschaft dürfte aber weder die Finanzierungslücke bei der Bundeswehr noch die unzureichende Militärhilfe für die Ukraine oder die relative Passivität Deutschlands in Sicherheitsfragen abgestraft werden. Dass Deutschland eine militärische Führungsrolle in Europa übernehmen solle, lehnten in der bereits zitierten Umfrage The Berlin Pulse 71 Prozent ab; einzig die Forderung nach mehr diplomatischem Engagement findet breite Zustimmung. Selbst der Einflussverlust, den eine Mehrheit der Bundesrepublik attestiert, wird nicht als Problem begriffen. Immerhin 51 Prozent halten es für eine gute Sache, wenn aufstrebende Staaten wie Brasilien, Indien und Südafrika mehr Gewicht bekommen.8 Fakt ist jedoch: Entweder Deutschland hilft sich gemeinsam mit seinen Partnern selbst in der anarchischen internationalen Politik – oder es wird zum Spielball anderer Mächte, die seine Werte und Interessen konterkarieren.

 

Der Weg zu selbstbewusster Wehrhaftigkeit

Aufgabe des politischen Führungspersonals ist es nicht, das zu tun, was politisch opportun ist, sondern das, was auf der Basis bester Analyse notwendig ist, um die Sicherheit des Landes und das Wohlergehen seiner Bevölkerung zu wahren. Dafür ist politische Führung unabdingbar. Auch Konrad Adenauers Politik der Westintegration war kein Selbstläufer. Goldrichtig war sie allemal. Heute wird selbst dieses Kernelement der politischen DNA der Bundesrepublik infrage gestellt, wenn vom linken und rechten Rand ein Ausgleich mit Russland und eine Abwendung von den USA und der NATO propagiert werden. Die Mitte hält nicht ausreichend dagegen. Sie muss mit dem Argument für eine selbstbewusste Wehrhaftigkeit, die Deutschland abschreckungs- und verteidigungsfähig macht, überzeugen, weil das für das Wohl Deutschlands heute ebenso essenziell ist wie die Westbindung zu Adenauers Zeiten.

Die Welt, wie wir sie kennen, ändert sich drastisch. Es droht eine Ausweitung des Krieges in der Ukraine, wenn Russland sich durchsetzt und seine Unterstützung durch Dritte – ob durch Nordkorea, Iran oder China – unbeantwortet bleibt. Deutschland und seine Partner reagieren darauf zu träge und ohne klare Strategie. Zugespitzt lässt sich die bisherige Kommunikation zur Ukraine aus dem Kanzleramt so zusammenfassen: Es sei Vorsicht bei der Waffenhilfe geboten, da sonst eine Eskalation bis zum Atomkrieg drohe. Die Ukraine dürfe nicht verlieren. Russland dürfe nicht gewinnen. Deutschland unterstütze die Ukraine, solange diese es wolle, und für Ziele, die nur die Ukraine formulieren könne. Plausibel ist das nicht. Schließlich kreist die Debatte um Waffenlieferungen und eigene Befindlichkeiten statt um realistische Ziele, begreift fälschlich stets das eigene Handeln beziehungsweise den Verteidigungskampf der Ukraine als Eskalationstreiber und unterschätzt die Bedrohung, die Russland für Deutschland und Europa darstellt. Derweil stirbt die Ukraine einen langsamen Tod, und sie wird nicht das einzige Opfer bleiben. Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten verschärft die ohnehin existierenden Zwänge massiv, weil er Zweifel am amerikanischen Rückhalt für Europa und die Ukraine nährt. Deutschlands Bereitschaft, die eigene Verteidigungsfähigkeit erodieren zu lassen und trotz allgegenwärtiger Angst einer sicherheitspolitischen Sorglosigkeit zu frönen, war seit jeher eine Verirrung. Diese Schwäche darf sich die Bundesrepublik nicht länger leisten.

Es muss ehrlich, ernsthaft und mit mehr Egoismus und Strategie argumentiert werden. Deutschland betreibt seine Außen- und Sicherheitspolitik nicht interessenlos oder zur Wohlfahrt anderer. Insofern sollte die deutsche Politik konkret erklären, was für das Land und seine Bürger auf dem Spiel steht: Warum dient es unser aller Sicherheit, Freiheit und Wohlstand, Russland hart zu sanktionieren, die Ukraine ernsthaft zu unterstützen, massiv in die Bundeswehr zu investieren und zu einem Stützpfeiler der europäischen Verteidigung werden zu wollen? Warum müssen wir mit unseren Bündnispartnern abschreckungs- und verteidigungsbereit sein? Wie erreichen wir das ohne Selbstbetrug? Was sind die Konsequenzen des Nichthandelns oder Scheiterns? Und warum lohnen die Ziele die Kosten? Dies sind Grundvoraussetzungen für das Mindset-Update von der verängstigten Sorglosigkeit zur selbstbewussten Wehrhaftigkeit.

Gerlinde Groitl, Sicherheitsexpertin und außerplanmäßige Professorin für Internationale Politik, Universität Regensburg.
 

1 Körber-Stiftung: Demokratie in der Krise. Repräsentative Umfrage, policy matters im Auftrag der Körber-Stiftung, 19. Juni 2024 bis 6. Juli 2024, https://koerber-stiftung.de/projekte/demokratie-in-der-krise-umfrage-2024/ [letzter Zugriff: 06.11.2024].
2 R+V Versicherung: Die Ängste der Deutschen im Langzeitvergleich, 2024, ruv-aengste24_langzeitarchiv.pdf [letzter Zugriff: 06.11.2024].
3 Vgl. Timo Graf: Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsbild in Deutschland 2021. Zentrale Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung, Forschungsbericht Nr. 132, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam, 11.05.2022, S. 2.
4 Sigmar Gabriel, zitiert nach Markus Becker: „NATO-Verteidigungsausgaben: Gabriel rebelliert gegen Tillerson“, in: Der Spiegel, 31.03.2017.
5 Alfons Mais: Beitrag auf LinkedIn, 24.02.2022, https://de.linkedin.com/posts/alfons-mais-46744b99_du-wachst-morgens-auf-und-stellst-fest-es-activity-6902486582067044353-RZky [letzter Zugriff: 06.11.2024].
6 Körber-Stiftung: The Berlin Pulse 2023/2024. Eine repräsentative Umfrage zur Sicht der Deutschen auf die Außenpolitik, S. 8, https://koerber-stiftung.de/site/assets/files/33722/the_berlin_pulse_grafikteil_deu.pdf [letzter Zugriff: 06.11.2024].
7 Ipsos: Hälfte der Deutschen gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine, 13.09.2024, www.ipsos.com/de-de/halfteder-deutschen-gegenweitere-waffenlieferungendie-ukraine [letzter Zugriff: 06.11.2024].
8 Körber-Stiftung, a. a. O., siehe En. 6, https://koerber-stiftung.de/site/assets/files/33722/the_berlin_pulse_grafikteil_deu.pdf, S. 23–24, S. 1–2, S. 11–12 [letzter Zugriff: 06.11.2024]..