Die Beschäftigung mit der Weimarer Re publik hat Hochkonjunktur. In der Fachwissenschaft ist eine Flut von Tagungen zu registrieren, die sich vor allem der stürmischen Startphase der ersten deutschen Demokratie widmen. Das öffentliche Interesse insbesondere an Novemberrevolution, Nationalversammlung, den „Goldenen Zwanzigerjahren“ und dem Ansturm der Extremisten von rechts und links erklimmt unbekannte Höhen. Dies ist zweifelsohne auch dem Umstand geschuldet, dass es keinen Abschnitt der deutschen Geschichte gab, in dem nicht wenige Staatsbedienstete innerhalb von weniger als fünfzehn Jahren drei unterschiedlichen politischen Systemen dienten: Verkörperte im Oktober 1918 noch Reichsmonarch Wilhelm II. die Spitze des Staatswesens, so hielt bis Anfang 1933 republikanische Nüchternheit Einzug in die Amtsstuben, ehe im Verlaufe des Jahres 1933 eine nationalsozialistische Führerdiktatur etabliert wurde. Das atemberaubende Tempo, mit dem sich politische Umwälzungen vollzogen, aber auch die kulturelle Dynamik der 1920er-Jahre machen „Weimar“ zweifellos zu einem Gegenstand, an dem man mit zunehmendem Zeitabstand immer wieder neue Facetten zu entdecken vermag, die für die Wissenschaft ebenso wie für die historisch interessierte Öffentlichkeit gleichermaßen spannend sind.
Im November 2018 fällt der Blick – der Jubiläumslogik geschuldet – vor allem auf die ungewöhnliche Startphase der Weimarer Republik. Die erste deutsche Demokratie war das Kind eines verlorenen Krieges. Es gehört keine prophetische Gabe zu der Vermutung, dass ein im Welt krieg siegreiches Deutsches Reich zwar einen weiteren Parlamentarisierungsschub erlebt, aber nicht seine monarchische Verfassung aufgehoben hätte, wenn es einen militärischen Erfolg für sich hätte reklamieren können. So aber stürzte die Kriegsniederlage alle deutschen Monarchen in den Abgrund und warf die Monarchie, die lange Zeit als unbestrittene Staatsform galt, auf den Abfallhaufen der Geschichte. Selbst die deutsche Sozialdemokratie begnügte sich noch bis zum Ausbruch der Revolution damit, das Kaiserreich zu parlamentarisieren, ohne die Monarchie zur Disposition zu stellen.
Man unterschätzt daher bis heute gelegentlich die von unten ausgehende Dynamik, mit der die Monarchien überall – ob in München, Dresden oder Berlin – zum Einsturz gebracht wurden. Das alte System kollabierte, ohne dass sich eine Hand zu seiner mannhaften Verteidigung erhoben hätte; und es war eine von einer Soldatenmeuterei ausgehende politische Eruption, welche die deutschen Monarchien unter sich begrub und die demokratische Republik an ihre Stelle setzte.
Die historische Forschung legt in jüngster Zeit den Akzent darauf, dass Deutschland am 9. November 1918 (in München sogar schon am 7. November) eine veritable Revolution erlebt hat.
Deutschland ist eben nicht das Land gescheiterter Revolutionen, sondern kann mit der Novemberrevolution einen revolutionär erzeugten Systemwechsel zu seinem historischen Erbe zählen. Dass dieses Erbe im Grunde bis heute geschichtspolitisch nicht wirklich gepflegt wird, hängt vor allem damit zusammen, dass sich keine politischen Strömungen fanden, die sich selbstbewusst zu diesem Erbe bekannten. Kommunisten und auch Nationalsozialisten erschien die Revolution viel zu halbherzig; die ganz und gar nicht revolutionär gesinnte Sozialdemokratie hatte politisch alles getan, um den revolutionären Elan zu domestizieren und den Weg der repräsentativen Ermittlung des Volkswillens einzuschlagen, was mit der Wahl zur Deutschen Nationalversammlung zehn Wochen nach der Revolution auch glückte.
Kühle Distanz zum revolutionären Erbe
Man darf gespannt sein, ob die Berliner Republik diese kühle Distanz zu diesem demokratiekompatiblen revolutionären Erbe deutscher Geschichte wahrt. Die historische Forschung jedenfalls verkämpft sich nicht länger in alten Debatten, die vor fünfzig Jahren geführt wurden und in denen es im Kern darum ging, ob die revolutionären Machthaber auch die Wirtschaftsordnung hätten antasten sollen und inwieweit die „Räte“ als institutionelle Frucht der Revolution in die Weimarer Demokratie hätten hinübergerettet werden sollen, um dem neuen Staat ein stabileres demokratisches Fundament zu verpassen. Stattdessen fällt der Blick auf innovative Formen demokratischer Teilhabe, die in der bewegten Übergangszeit 1918/19 getestet wurden und die als Ausdruck eines deliberativen Politikverständnisses gelten können.
Den Deutschen wird nachgesagt, dass sie gelegentlich zur Selbstbeschäftigung neigten und als selbsternannte Weltverbesserer nicht genügend beachteten, dass die Welt um sie herum nicht nach deutschen Regeln funktioniert. Man kann den Überschwang, mit dem ab Februar 1919 in Weimar der Welt ein Vorzeigemodell in Sachen Demokratie präsentiert werden sollte, durchaus in diesen Kontext einordnen. Jene Euphorie endete jäh, weil sich der den Deutschen aufgezwungene Versailler Vertrag als Stimmungskiller erwies. Bis dahin war es in Europa üblich gewesen, dass Sieger und Besiegte gemeinsam am Verhandlungstisch saßen, um einen Friedensschluss auszuhandeln. Doch bei der Pariser Friedenskonferenz wich man von diesem guten Brauch ab und degradierte das Deutsche Reich zum Vollzugsorgan des Willens der Siegermächte.
„Weimar“ als tagesaktuelle Vokabel
Die historische Forschung hat sich lange Zeit um die Frage gedrückt, ob nicht die bleierne Last dieses Vertrags der Weimarer Republik eine kaum abzutragende politische Hypothek aufbürdete. Die Gründe dafür waren und sind ehrenwert, weil man nicht der simplen Vorstellung Vorschub leisten wollte, die Siegermächte des Ersten Weltkriegs seien die politischen Totengräber der ersten deutschen Demokratie gewesen. In jüngster Zeit ist Leben in die wissenschaftliche Debatte gekommen, und es werden alte Fragen in wohltuender Nüchternheit neu gestellt, um den Anteil des Versailler Vertrags am Scheitern der Weimarer Republik behutsam zu vermessen.
Doch wenn „Weimar“ im Herbst 2018 eine tagesaktuell nutzbare Vokabel dar stellt, ist das den derzeitigen Debatten um eine vermeintliche Krise des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland geschuldet. Bange, aber manchmal auch hoffnungsvolle Blicke richten sich auf die erste deutsche Demokratie als historisches Lehrstück. Es hieße, die Geschichte und auch die damit professionell befasste Wissenschaft zu überfordern, aus diesem Exempel des Scheiterns einer Demokratie aktuelle politische Handlungsanweisungen abzuleiten. Zu unterschiedlich sind die gesellschaftlichen und kulturellen Ausgangsbedingungen zwischen der Weimarer und der Berliner Republik; und vor allem muss die Berliner Republik nicht für die Folgen eines verlorenen Kriegs haften. Der Experte wird daher einerseits die Berufstugend des Historikers – die fachlich begründete Skepsis gegen Vereinfachung und Verflachung – hervorheben, um sich und seine Profession gegen allzu auf dringliche Indienstnahmen zu schützen. Andererseits ist er froh darüber, dass einem lange Zeit als abgestanden geltenden Forschungsgegenstand neues Interesse zuteil wird. Und daher wird er mit der gebotenen Distanz durchaus die legitime Frage beantworten, welche strukturellen Faktoren, die das Scheitern der ersten deutschen Demokratie bewirkten, für die Akteure der zweiten deutschen Demokratie eine besondere Relevanz besitzen.
Hier wird man an erster Stelle vor einer platten Gleichsetzung des Aufstiegs der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) mit dem Höhenflug rechts und linkspopulistischer Bewegungen warnen. Die historische Forschung hat immer wieder betont, dass in der ersten deutschen Demokratie die rohe Gewalt gegen den politischen Gegner, die so weit ging, dass man dessen Verletzung oder gar Tötung zum legitimen Mittel der politischen Auseinandersetzung erklärte, an der Tagesordnung war. In diesem Punkt zeigte sich eine Verrohung der Geister, die auch eine Frucht des Ersten Weltkriegs war. Das heutige Deutschland hat eine politische Dammmauer errichtet und würde immer noch politische Kräfte, die nackte körperliche Gewalt predigen, politisch ächten. Dies verdient auch deswegen festgehalten zu werden, weil die wahlberechtigte Bevölkerung bei zwei Reichstagswahlen im Jahre 1932 die absolute Mehrheit der Mandate an die beiden Parteien vergab, die sich zwar politisch spinnefeind waren, aber unterschiedslos die liberale Demokratie aus vollem Herzen hassten und das Totschlagen politischer Gegner billigten: die NSDAP und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Gerade der Rückblick auf Weimar macht deutlich, wieviel zivilisatorischer Fortschritt seitdem in der deutschen Geschichte angehäuft worden ist.
Politisch ungeliebtes Kind
Der unbefangene Blick auf Weimar schärft weiterhin das Urteil über die Rolle von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten beim Zerfall demokratischer Verfassungsstaaten. Zwar ist die Weimarer Republik entgegen hartnäckigen Behauptungen keiner Elitenverschwörung zum Opfer gefallen – die Hitler-Partei wurde weder vom Großkapital finanziert, noch wurde Hitler selbst von einflussreichen Zirkeln dem Reichspräsidenten als Kanzler aufgedrängt. Unbestritten ist jedoch die Tatsache, dass es der ersten deutschen Demokratie an politischem Rückhalt bei einer erdrückenden Mehrheit der deutschen Unternehmer und Großlandwirte mangelte und diese das ungeliebte Kind auch mithilfe der NSDAP politisch beerdigen wollten. Wie anders sieht das Bild heute in vermeintlichen Krisenzeiten der Demokratie aus! Insbesondere die Unternehmerschaft tritt am eifrigsten für die Errungenschaften einer liberalen Demokratie ein, zu denen auch und gerade der wohlstandsverbürgende Freihandel und eine die unternehmerische Tatkraft beflügelnde Wirtschaftsordnung gehören.
Es ist daher kein Zufall, dass sich die populistischen Verächter liberaler und damit repräsentativer Demokratie in der Rolle des Anwalts eines „wahren“ Volkswillens gefallen, der durch die Eliten in Wirtschaft und Medien verzerrt und manipuliert werde. Wenn heute erstmals wie der nach dem Epochenjahr „1968“ eine „Revolution“ als legitimer Ausdruck auf gestauten Volkswillens gegen die Institutionen und Träger der Bundesrepublik in Stellung gebracht wird, dann muss es notwendigerweise den Verfechtern einer anderen Republik an Rückhalt bei den vor allem ökonomischen Eliten mangeln. Wenn die intensive Beschäftigung mit der Weimarer Republik dazu führen sollte, diese Erkenntnis stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, wäre dies kein geringer Ertrag fundierter historischer Bildung.
Wolfram Pyta, geboren 1960 in Dortmund, Universitätsprofessor für Neuere Geschichte und Leiter der Abteilung für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität Stuttgart.