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Was Fußball unserer Gesellschaft bedeutet

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Knud Bielefeld ist gelernter Diplom-Wirtschaftsinformatiker. Er lebt in Ahrensburg im Norden Deutschlands und hat ein ungewöhnliches Hobby: Vornamenforschung. So nennt er es selbst auf seiner Website beliebtevornamen.de. Auf dieser Seite veröffentlicht Bielefeld seine Forschungsergebnisse, wie beispielsweise die Jahrgangslisten der häufigsten Vornamen seit dem Jahr 1980. Dabei fallen Bielefeld Besonderheiten in der Namensgebung auf. Ein Faktor: Fußball. Während die Renaissance des Namens Mats laut Bielefeld nicht nur an den Erfolgen des Nationalspielers Mats Hummels liegt, hat der Namensforscher einen anderen Weg gefunden, um den Einfluss aufzuzeigen: „Das lässt sich vor allem bei sehr bekannten Fußballern nachweisen, die einen untypischen ausländischen Namen tragen“, erklärt er. Sein bestes Beispiel ist Arjen Robben. Bevor der Niederländer 2009 nach München wechselte, tauchte der Name in Bielefelds Statistiken nie auf. Seitdem hat sich dies verändert, und die Häufigkeit des Namens Arjen wurde in den folgenden Jahren signifikant gemessen. Ähnlich ist die Geschichte bei Luca Toni, einst Torschützenkönig in Diensten des FC Bayern München. Der Name Luca gehört seit Jahren zu den beliebtesten Jungennamen in Deutschland. Nicht ganz so, aber ebenfalls populär ist Toni. „Das Besondere in diesem Fall ist die Kombination“, hat Bielefeld festgestellt. „Während das bei dem Stürmer Vor- und Nachname war, taucht seit 2007 die Kombination häufiger als erster und zweiter Vorname auf.“ Für Bielefeld ist klar, dass zwischen populären Fußballern und Trends in der Namensgebung ein Zusammenhang besteht: „Das spielt eindeutig eine Rolle.“

Inwieweit sich die Deutschen tatsächlich bei der Namensgebung ihrer Kinder vom Fußball dominieren lassen, sei dahingestellt. Fakt ist, dass sich der Fußball längst von seinem Status als Sportart entkoppelt hat. Dabei war und ist das Spiel eigentlich recht simpel: ein Platz, ein Ball, 22 Spieler. Seit den Anfängen im 19. Jahrhundert haben sich die Spielregeln kaum verändert. Zumindest auf dem Platz. Doch abseits des Rasens ist aus dem Fußball eben ein gesellschaftlicher Faktor geworden, der seinesgleichen sucht und dessen Einfluss sich mittlerweile in (fast) allen Bereichen finden lässt: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz, Medien, Gesellschaft, Kultur, Entertainment, Tourismus, sogar innerhalb der Sprache.

Wenn die deutsche Nationalmannschaft das Endspiel der Weltmeisterschaft erreicht, fliegen Bundespräsident und Bundeskanzlerin zu dem Spiel ein, obwohl gemeinsame Auslandsbesuche der beiden Staatsorgane – nach Auskunft des Bundespräsidialamtes – eigentlich vermieden werden sollen. Das war nicht nur bei der WM 2014 der Fall, sondern auch bei der WM 2002 in Japan, als der damalige Bundespräsident Johannes Rau sowie der seinerzeitige Bundeskanzler Gerhard Schröder nach Yokohama flogen. Weitere gemeinsame Auftritte der Staatsspitze im Ausland in der jüngeren Vergangenheit? Fehlanzeige.

Vereinseigene Friedhöfe

Wenn Nationalspieler Mesut Özil ein paar Sätze bei Facebook postet, erreicht er bei seinen gut 31,6 Millionen „Likes“ dreizehnmal so viele Menschen wie Bundeskanzlerin Merkel mit 2,5 Millionen Fans. Wenn der Präsident des FC Bayern München, Uli Hoeneß, wegen Steuerhinterziehung in München vor dem Landgericht steht, übersteigen die 545 Akkreditierungsanfragen der Journalisten deutlich die 324 Journalisten-Gesuche an dasselbe Gericht beim Prozess gegen den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), der zehn Menschen umgebracht haben soll.

Wenn heutzutage Professoren auf wissenschaftlichen Tagungen ernsthaft darüber debattieren, ob „Fußball als Religionsersatz“ diene, und diese Frage bejahen, wenn es vereinseigene Friedhöfe sowie Gottesdienste gibt und das Maskottchen des 1. FC Köln, der Geißbock Hennes, in den Stein des Kölner Doms gemeißelt ist, erinnert sich kaum noch jemand daran, dass sich bei der WM 1954 der Rundfunk-Reporter Herbert Zimmermann für seine Wortwahl „Turek, du bist ein Fußballgott“ noch rechtfertigen musste. Und wenn das Frankfurter Senckenberg Naturmuseum seine Besucher darüber abstimmen lässt, wessen Gehirn in fünfzigfacher Vergrößerung zu einer Begehung nachgebaut werden soll, gewinnt nicht der weltbekannte Physiker Albert Einstein, sondern Karl-Heinz Körbel, seines Zeichens Bundesliga-Rekordspieler, einst Verteidiger bei Eintracht Frankfurt, dessen Gehirn durch unzählige Kopfbälle erschüttert wurde. Er bekam doppelt so viele Stimmen wie Einstein.

Es sind solche Episoden, die zeigen, wie hoch der Stellenwert des Fußballs in unserer Gesellschaft mittlerweile ist – und es verwundert nicht, dass die Politik diesem Rechnung trägt. Vor mehr als sechzig Jahren, als Deutschland in Bern erstmals Fußball-Weltmeister wurde, dachte der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, nicht im Traum daran, sich im Stadion zu zeigen: Stattdessen standen am 4. Juli 1954 ein Abstecher nach Rüdesheim sowie ein „Abendessen bei Herrn Bundespräsident“ in Adenauers Terminkalender.

Der Fußball als Diplomatie

Während Merkels Vorgänger im Amt, vor allem Helmut Kohl und Gerhard Schröder, peu à peu den Fußball für Bundeskanzler salonfähig machten, setzt Merkel ihn seit Beginn ihrer Amtszeit zielgerichtet ein. Auf eine Anfrage im Juli 2016 teilte eine Regierungssprecherin mit, dass es „36 offizielle im Zusammenhang mit Fußball stehende Termine, davon elf im Bundeskanzleramt“ gegeben habe. „Die Freude am Fußball teile ich mit Millionen Menschen in Deutschland“, sagte Merkel in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Ihre Leidenschaft hat sich auch auf dem politischen Parkett herumgesprochen: „Lassen Sie es mich so sagen: ‚She is a very learned fan‘“, erinnert sich Philip D. Murphy, einst US-Botschafter in Deutschland, leidenschaftlicher Fan und Besitzer eines Frauenfußball-Teams in den USA, „ich habe sehr gerne mit ihr über Fußball gesprochen.“ Doch Murphy versuchte auch, Merkels Leidenschaft – sie ist Ehrenmitglied bei Energie Cottbus – beruflich zu nutzen: „Wir waren bei zwei oder drei Cottbus-Spielen“, berichtet der US-Botschafter von Abstechern in die Fußball-Provinz, „und ich habe immer dafür gesorgt, dass sie das mitbekommen hat.“ Der Fußball als Diplomatie.

Auch hier zeigt sich der Stellenwert eines Spiels. Doch: Ist es überhaupt noch ein Spiel? Oder nicht zuletzt ein einziges, großes Geschäft?

Wolfgang Holzhäuser, jahrzehntelang Geschäftsführer von Bayer 04 Leverkusen und Mitbegründer der Deutschen Fußball Liga, hatte in der Branche das Image eines Kaufmanns, weil er sich bei Spielereinkäufen auch einmal nach dem Grenzertrag erkundigte. Noch gut kann sich Holzhäuser an den öffentlichen Aufschrei beim ersten Millionen-Transfer der Bundesliga erinnern: Im Jahr 1976 wechselte der Stürmer Roger Van Gool vom FC Brügge zum 1. FC Köln. Kaufpreis: eine Million D-Mark. „Wenn Sie heute einen Spieler für zehn Millionen Euro kaufen und der einschlägt“, sagt Holzhäuser, „dann ist das ein Schnäppchen.“ Mittlerweile sind Summen jenseits der Fünfzig-Millionen-Euro-Grenze Sommer für Sommer an der Tagesordnung. Im vergangenen Jahr markierte der Transfer des Brasilianers Neymar vom FC Barcelona zu Paris Saint-Germain mit 222 Millionen Euro Ablöse einen Rekord. Solche Summen werden künftig eher die Regel und nicht die Ausnahme sein. Das lässt sich schon daran ablesen, dass immer neue, immer höhere Fernsehverträge abgeschlossen werden – allein in Großbritannien streicht die Liga rund 9,5 Milliarden Euro ein. Für drei Jahre.

Hochpopulär, milliardenschwer

Politische Macht und lukrativer Geschäftszweig: Das sind auch die Assoziationen, die die nun anstehende Weltmeisterschaft in Russland begleiten werden. Mit einer Investitionssumme von über zehn Milliarden Euro wird es das teuerste Turnier der Fußball-Geschichte werden – doch Russlands Präsident Wladimir Putin wird die Aussicht auf ein globales Mega-Ereignis im Wahljahr 2018 sicherlich froh stimmen. Hochpopulär, milliardenschwer – ist der Profi- also nur noch ein Profit-Fußball?

Heinz Bude ist ein renommierter Soziologe, er lehrt an der Universität Kassel. Seine Themen sind die Generationen-, aber auch die Exklusionsforschung. Im Oktober 2015 nahm Bude an einer Tagung in den USA teil. An der Princeton University ging es um das Thema Fremdenfeindlichkeit. Bude war der einzige deutsche Teilnehmer und wurde, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, von allen gefragt, warum ausgerechnet die Deutschen plötzlich Spezialisten für Fremdenfreundlichkeit seien. Seine Antwort: „Ich habe an die Fußballweltmeisterschaft von 2006 erinnert, wo lauter Deutsche, die wie Türken aussahen, plötzlich deutsche und türkische Fahnen geschwenkt haben“, berichtete Bude in einem Spiegel-Interview gut ein Jahr später. „Die meisten erinnerten sich an dieses Bild kultureller Offenheit; und es ist ja auch unverrückbar in unserem kollektiven Gedächtnis verankert.“ Budes Fazit klingt eindrücklich: „Diese Fußballweltmeisterschaft hat die anfangs so freundliche Aufnahme der Flüchtlinge gewissermaßen vorbereitet.“ Die Kraft des Fußballs wird also für die deutsche Willkommenskultur (mit-) verantwortlich gemacht – nur ein Beispiel für die nicht zu überschätzende gesellschaftliche Bedeutung. Vereine und Verbände sind seit Langem sozial engagiert, sei es durch Stiftungen, Benefizspiele oder die viel zitierte Vorbildfunktion. Diese Verdienste sind unbestritten (auch wenn sie teilweise aus Eigeninteresse verfolgt werden) und auch gesellschaftlich wertvoll – und machen dennoch nur einen Bruchteil der vom Fußball bewegten Summen aus.

Eros und Philia

Es sind vor allem diese Milliardensummen, aufgrund derer sich der Fußball einer Wertedebatte stellen muss: „Muss sich König Fußball für Menschenrechte interessieren?“, lautet beispielsweise eine jährliche wiederkehrende Frage, wenn der FC Bayern München zum Wintertrainingslager nach Katar aufbricht. Auch Fans, die aufgrund des ausufernden Kommerzes eigene Vereine gründen, oder Länderspiele, die nicht ausverkauft sind, zeigen, dass sich die Zeit der Doppelmoral und von zweierlei Standards dem Ende zuneigt. Die Zunahme der rechtsstaatlichen Ermittlungen deutet ebenfalls in diese Richtung. Öffnen sich nun die Augen?

Der Schauspieler Peter Lohmeyer, selbst glühender Fan des FC Schalke 04, hat dazu gesagt: „Wie blöd sind wir, dass wir nicht wissen, dass das seit Jahrzehnten passiert?“ Auf dem Sofa sitzend, das Produkt genießend, passiere nichts, schiebt er selbstkritisch nach. Dabei sei das für ihn der große Haken: „Wenn ich der Liebe zum Fußball nicht meine Kritik mitgebe, dann geht sie irgendwann, dann ist sie wirklich irgendwann verkauft – und das will ich nicht“, sagt er, „ich will meine Liebe nicht verkaufen, ich will sie lieben.“

In der Philosophie lassen sich in der Tat zwei Formen der Liebe unterscheiden: die romantische Liebe des Eros, die blind und rauschhaft ist, sowie die Philia, eine erwachsene Liebe, die Freundschaft und Kritik einschließt. Doch ob diese Liebe ihren Durchbruch ausgerechnet im Jahr der teuersten und politisch aufgeladenen Weltmeisterschaft in Russland feiert, erscheint mehr als fraglich.

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Moritz Küpper, geboren 1980 in Köln, Landeskorrespondent für das „Deutschlandradio“ in Nordrhein-Westfalen, Autor (zuletzt erschienen: „Es war einmal ein Spiel: Wie der Fußball unsere Gesellschaft beherrscht“, Verlag Die Werkstatt 2017).

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