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Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2020 für Hans Pleschinski

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Sommer 1954: Thomas Mann ist in Düsseldorf, zu einer Lesung. Der fast achtzigjährige Nobelpreisträger logiert mit Familie im besten Haus am Ort, dem Breidenbacher Hof. Der ungeliebte Sohn Golo und die unverzichtbare Tochter Erika streiten sich: „Ich will, Madame Révolution, glaubwürdige Eliten und die gewahrte Form.“ – „Ich will die Menschenrechte, uneingeschränkt.“ – „Stil und Bildung garantieren die wahre Freiheit.“ – „Gerechtigkeit und Frieden sind das Muß.“ Bis die Mutter Katia dazwischenfährt und die „würdige Aufsicht“ in Gestalt ihres Mannes herbeiruft. Die kleine Szene steht in Hans Pleschinskis Roman Königsallee (2013). Sie verlebendigt eine wahre Geschichte. Mann war 1954/55 in Deutschland, die Familienbande in des Wortes zweifacher Bedeutung gab es auch, die Dialoge aber sind theaterreif erfunden. Hans Pleschinski nimmt sich der Aufgabe an, die Geschichte Deutschlands und Mitteleuropas zu revidieren, indem er ihre positiven Traditionen wachruft: das deutsche und französische Barock, die Aufbaujahre nach 1945, die Zeit nach der Wiedervereinigung. Das ist ihm bis 2019 in mehr als zwanzig Werken gelungen, in Romanen, Erzählungen, Essays, Übersetzungen und Briefeditionen, die sich auf biographisch-zeithistorische Spurensuche begeben.

Heimat ist für Hans Pleschinski ein ambivalenter Herkunftsraum. Die Lüneburger Heide, in der er am 23. Mai 1956 (in Celle) geboren wurde und aufwuchs, beschreibt er als „öde Weite, Leere“ (Die Ostheide, das tolle Nichts, 2003), in der es mehr Pferde als Bauern gab. Drei Kilometer von seinem Elternhaus entfernt verlief die Zonengrenze, der „Todesstreifen zwischen der DDR und der Bundesrepublik“, auf dem „die Todesschützen der Volksarmee auf Republikflüchtlinge zielten“. Zugleich erlebte er früh historische Orte, Biedermeierkirchen, Klöster und das Celler Schloss. „Für mich“, schreibt er, „existiert die Ostheide als geistige Lebensform und als wünschenswertes Fundament.“ In seinem autobiographischen Buch Ostsucht. Eine Jugend im deutsch-deutschen Grenzland (1993) bekennt er, „am Westweltsaum der NATO […] eine glückliche Kindheit und beste frühe Jugend“ zugebracht zu haben. Sein 1921 östlich von Frankfurt an der Oder geborener Vater übernahm nach dem Krieg im niedersächsischen Städtchen Wittingen die Schmiede der Eltern seiner Frau.

Von 1976 bis 1983 studierte Hans Pleschinski an der Ludwig-Maximilians-Universität München Germanistik, Romanistik und Theaterwissenschaft. 1984 schloss er sein Studium mit einer Magisterarbeit über Gottfried Benn ab. Neben der akademischen Ausbildung arbeitete er für Galerien, die Oper und den Film.

Hans Pleschinskis Entdeckungserlebnis war seine Flaubert-Lektüre um 1980. Im Werk des französischen Klassikers fand er den „Kampf zwischen den Wissensschätzen, Glücksversprechungen einerseits und dem Menschen andererseits, der nicht mehr für einen Gott und eine Ideologie zu leben vermag“, so heißt es in dem Essay Die goldenen Achtziger: meine Lektüren (1995).

Mit gleich drei Büchern debütierte Hans Pleschinski 1984 im Literaturbetrieb: Unter dem Titel Frühstückshörnchen erschienen zeitkritische Glossen und Satiren. Nach Ägypten, im Untertitel „Ein moderner Roman“, erzählt im Gestus eines Schelmenromans von einem jungen Ausreißer aus der niedersächsischen Provinz, der in den europäischen Kulturmetropolen klüger wird, aber nicht unbedingt klug. Beachtung in der Kritik fand vor allem der Roman Gabi Lenz. Werden & Wollen, eine Parodie auf die Innerlichkeitsliteratur der 1980er-Jahre in Gestalt der Biographie einer fiktiven Sozialarbeiterin, die sich mit verkorksten Beziehungsgeschichten ihren Weg zur Bestsellerautorin bahnt. Das Buch war so geschickt als Dokumentarfiktion getarnt, dass einige Leser gleich weitere Bücher der Autorin „Gabi Lenz“ bestellen wollten.

Für den Roman erhielt Pleschinski 1984 den Hungertuch-Preis, eine mit seinerzeit 1.000 D-Mark dotierte Auslobung des Frankfurter Kulturdezernats und des Schriftstellerverbands Hessen. Es war ein verheißungsvoller Start, Pleschinski wurde Autor des renommierten Verlags von Gerd Haffmans und ständiger Mitarbeiter beim Bayerischen Rundfunk.

 

„Lichter im Dunkel“: Geschichten aus dem Barockzeitalter

 

Schon während des Studiums zog es Hans Pleschinski mehr zu den vernachlässigten Vorklassikern der Literatur als zu ihren Kanonheiligen. Ihn rührte die Sprachkraft barocker Dichtungen und Memoiren an, die „nach dem so bedeutsamen Prinzip der Fallhöhe von Menschenruhm und Schicksal“ erzählen. Pleschinskis Band Byzantiner und andere Falschmünzer, 1997 im Schöffling Verlag erschienen, versammelt seine überarbeiteten Rundfunkessays, unter anderem über Pierre Corneille, Voltaire, Daniel Casper von Lohenstein, Ewald Christian von Kleist. Sie werfen „Lichter im Dunkel“ (so der Untertitel des Bandes) der deutsch-französischen Kulturgeschichte. Im Schlussessay wird André Gide, der 1947 für seinen Roman Die Falschmünzer den Literaturnobelpreis erhielt, als Vorläufer eines postmodernen Erzählens gewürdigt, das stets seine „Offenheit mitschildern“ kann.

Mit drei Editionen erinnert Hans Pleschinski an historische Figuren, die ihre Zeit, das 18. Jahrhundert, durch Briefe und Tagebücher profiliert haben. Für Aus dem Briefwechsel Voltaire – Friedrich der Große (1992) hat Pleschinski fast ein Drittel der gesamten Korrespondenz neu aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt und mit seinen eigenen Zwischentexten kommentiert. 1999 folgte eine Auswahl der Briefe der Madame de Pompadour, die der Übersetzer und Kommentator Pleschinski aus dem Schatten der Mätresse Ludwigs XV. hervorholt und als Vorkämpferin einer verfeinerten Zivilisation in Szene setzt. Die Übersetzung und Kommentierung von großen Teilen aus dem Geheimen Tagebuch des Herzogs von Croÿ, das im Erscheinungsjahr 2011 sogleich auf vier Auflagen kam, verhilft zur Wiederentdeckung eines erstaunlich modernen Europäers, der im Spätfeudalismus, am Vorabend der Französischen Revolution, freimütig und kultiviert mit den „Monarchen, Mätressen, Weltveränderern“ seiner Zeit verkehrt. 2012 wurde Hans Pleschinski vom französischen Botschafter mit dem Orden Chevalier des Arts et des Lettres der Republik Frankreich ausgezeichnet.

Hans Pleschinskis Nähe zum Barockzeitalter, das uns heute so fernliegt, kommt am besten in seiner Erzählung Der Holzvulkan zum Ausdruck. Das Buch erschien zuerst 1986 im Haffmans Verlag und wurde 1995 in Braunschweig sowie – in erweiterter Fassung – 2014 im C. H. Beck Verlag nachgedruckt. Es erzählt die unglaubliche, aber realhistorische Geschichte von einem „Staatsruinprojekt“: Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel (1633–1714) wollte aus seinem Kleinfürstentum ein Wunderland der Künste machen und ließ in Salzdahlum ein Schloss errichten, das allerdings, weil es an Geld fehlte, nur aus Holz gebaut werden konnte, vom Fundament bis zu den Giebeln, auf denen dann Steinstatuen thronten. Kein Wunder, dass das Gebäude alsbald verfiel, dass die imitierten Marmorfliesen aufwellten und die Bretterwände verschimmelten; 1813 wurde das Schloss als Brennholz verkauft. Pleschinski erzählt die Geschichte von dem Schloss, das es nicht mehr gibt, als zeitlose Parabel der Vergänglichkeit und als Geschichtslektion vom Verfall der Utopien. Ein „einzigartiges Kapitel aus dem Prozess der Zivilisation“, schreibt Gustav Seibt in seinem Nachwort zur Neuausgabe.

 

Europäische Ensembleromane

 

Neben den historischen Romanen und Editionen aus dem Zeitalter der Aufklärer ist der europäische Ensembleroman ein zweiter Schwerpunkt des Schreibens von Hans Pleschinski. Verbunden sind diese Pole durch die europäische Geschichte. In den Ensembleromanen bildet der Autor Konstellationen von Figuren, die durch eine besondere Idee oder eine spezielle historische Situation miteinander verbunden sind.

Der Roman Brabant (1995) erzählt von einer vielfältigen Kulturgemeinschaft, die sich auf einem alten flämischen Hotelschiff nach Amerika aufmacht, um dort gegen den Aufbau eines Disney-Parks in Rom zu protestieren. Hinter dieser Fiktion steckt kein antiamerikanischer Impuls, wohl aber der Auftrag, nach den Wurzeln und Werten zu suchen, die den europäischen Nationen, die allesamt ihre Abgesandten auf dem Schiff haben, gemeinsam sind. Natürlich geht das nicht ohne Kontroversen ab. Fast alle Europa-Diskurse haben hier ihre Sprecher, der postkolonialistische wie der späthumanistische Diskurs ebenso wie der etatistische, der ethische und der ästhetische.

Das Ensemble im Roman Ludwigshöhe (2008) ist eine Gruppe Lebensmüder, die mit dem anbrechenden Frühling ihre Todessehnsucht und Suizidabsichten in schlichte Lebenslust umzuwandeln vermögen – ein umgekehrter Tod in Venedig.

Die Romane Königsallee (2013) und Wiesenstein (2018) erzählen aus den letzten Lebensjahren der Nobelpreisträger Thomas Mann und Gerhart Hauptmann. Beide sind durch die – im Grunde barocke – Frage nach Ruhm und Menschenvergänglichkeit verbunden, rivalisieren aber um die Rolle des Stellvertreters Goethes, um die Gewissensstimme der Nation. Thomas Mann erkannte Hauptmann als „König“ der Weimarer Republik an, wurde aber, weil dieser nach 1933 in Deutschland blieb, zum „Kaiser der Emigration“ (Hermann Kurzke). Pleschinski hält sich an die überlieferten Tatsachen aus den Biographien, er lässt Thomas Mann Lift fahren und Presseinterviews geben und Hauptmann 1945/46 mit Frau, Gärtner, Archivar, Masseur in seiner Villa „Wiesenstein“ im Riesengebirge residieren. Angereichert wird die Recherche um bislang unveröffentlichte Tagebuchnotizen (von Gerhart und Margarete Hauptmann), eigene Kommentare und erfundene Begegnungen, zum Beispiel von Thomas Mann mit seiner Jugendliebe Klaus Heuser. Hans Pleschinski erzählt die dramatischen Umund Aufbrüche im Spiegel zweier großer Autoren, in deren Leben sich wiederum diese Umbrüche deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert dokumentieren. Derzeit arbeitet Pleschinski an einem dritten Nobelpreisträger-Roman, über Paul Heyse, aus dem er bei der Autorenwerkstatt der Konrad-Adenauer-Stiftung in Cadenabbia im Oktober 2019 eine Arbeitsprobe vorstellte.

 

Werte im Werk

 

Hans Pleschinski ist ein wertebewusster Autor. Gegen die Zumutungen, die die Geschichte dem Menschen aufbürdet, setzt er die Verbindung von Verantwortungsbewusstsein und Schönheitsgefühl. Aus seiner Kindheitserfahrung an der deutsch-deutschen Zonengrenze weiß er, was die Freiheit wert ist und dass eine Demokratie wehrhaft sein muss. Er tritt ein für einen „ganz traditionellen Humanismus, gemischt aus Freiheit, Bildung und vielleicht auch Formgefühl“, so schreibt er im Vorwort zu dem Band Byzantiner. In dem Sammelband konservativ?! (2019) gibt er, neben Beiträgen von Monika Grütters, Wolfgang Schäuble und Uwe Tellkamp, ein staatsbürgerliches Votum ab: Wie sein Vater, so schreibt er, baue er „auf einen gerechten Staat, auf eine humane Gesetzgebung [und] eine entspannte, aber zuverlässige Ordnung“.

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Leiter Literatur der Konrad-Adenauer-Stiftung und außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln.

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